Tammy.SzuSchatten der Vergangenheit

*Plopp*

Nora lässt den Korken aus der Flasche springen und gießt sich einen eiskalten Sekt ein. „Das hab ich mir nach so einem Tag echt verdient“, seufzt sie und macht sich mit dem Glas in der einen und einem Groschenroman in der anderen Hand auf den Weg zu ihrem Balkon. Mit der Hüfte schiebt sie die angelehnte Balkontür auf und stellt Lektüre und Getränk auf einem Tisch ab. Gedankenverloren schnappt sie sich die Decke von ihrem Liegestuhl und noch bevor sie sie richtig ausschütteln kann, hält sie inne. Hä, was hab ich denn hier liegenlassen? fragt sie sich, als sie einen kleinen, schwarzen Gegenstand auf ihrem Lieblingsplatz liegen sieht. Nora streckt die Hand aus und dreht das schwarze Ding um. Als hätte sie sich verbrannt, zieht sie die Hand zurück. Tatsächlich ist die kleine Digitalkamera auch ganz schön heiß, lag sie doch schon eine Weile unter der Decke in der prallen Sonne. Eine Digicam? Sowas besitz ich doch gar nicht, braucht doch heutzutage auch kein Mensch mehr, denkt sie und begutachtet die Kamera von allen Seiten. Ausversehen erwischt sie dabei die ON-Taste und der Bildschirm beginnt zu leuchten. Immer noch verwirrt schaut sie sich das Bild, welches in dem kleinen Fenster blinkt, an. Ampeln, Autos, Schilder, Reklametafeln, Menschen. Eine große, bunte Kreuzung, das ist der letzte Schnappschuss. Eine leichte Gänsehaut beschleicht Nora und sie schaltet die Kamera aus.

Sie lässt sich auf den Stuhl sinken, nimmt einen großen Schluck von ihrem Sekt und atmet tief durch. Okay, bleib ruhig. Es muss eine logische Erklärung – oder zumindest einen erklärbaren Zufall – geben, warum hier eine fremde Digicam auf deinem Balkon liegt. Um nicht allein mit ihrer Unruhe zu sein, schickt sie ihrer Freundin Tessa eine Sprachnachricht und berichtet ihr von dem seltsamen Fund. „Das ist wirklich komisch, aber mach dir mal keine Sorgen. Du sagst doch deine Balkontür war angelehnt. Also wenn jemand auf deinem Balkon war und dich irgendwie erschrecken wollen würde, wäre er doch bestimmt in deine Wohnung gegangen und hätte dich dort überrascht“, erwidert Tessa in ihrer Nachricht. Panisch schaut Nora sich um, immer noch auf dem Balkon sitzend. Auf den ersten Blick ist niemand zu sehen. Ängstlich ruft sie ihre Freundin an und die verspricht, vorbeizukommen und mit Nora die Wohnung zu durchsuchen.

 

Zwei Stunden später haben die Freundinnen jeden Winkel der 75 qm² Wohnung durchsucht und nichts Auffälliges entdeckt. „Also das macht doch alles keinen Sinn, wo kommt diese verdammte Kamera her?!“, flucht Nora. „Vielleicht ist sie vom Balkon über deinem runtergefallen?“, wagt Tessa einen Erklärungsversuch. „Nee, kann nicht sein. Thorsten von oben ist schon seit einer Woche auf Bali im Urlaub und nur ich hab noch einen Schlüssel, zum Blumengießen.“ „Na gut, aber die kann sich ja wohl auch nicht einfach hergezaubert haben.“ „Und was ist, wenn jemand auf meinen Balkon geklettert ist?“, erwidert Nora aufgebracht. „Aber wozu? Ich mein, ja, mit einer Leiter wäre das theoretisch möglich, aber was hat das für einen Sinn? Wer sollte dir eine Cam mit dem Bild einer ollen Straßenkreuzung auf den Balkon legen?“, überlegt Tessa. „Ich weiß es doch auch nicht…“, murmelt Nora. „Okay, lass uns das Bild nochmal anschauen. Am besten auf einem größeren Bildschirm, da erkennen wir mehr. Vielleicht sind ja auch noch weitere Fotos drauf, die uns Aufschluss auf den Täter geben können“, sagt Tessa energisch und verdreht beim Wort Täter die Augen.

Also werden der Laptop und die unzähligen Lade- und Verbindungskabel rausgekramt, die man heutzutage ebenso rumfahren hat. „Ha, wusste ich doch, dass irgendeins passen muss!“, ruft Nora triumphierend und stöpselt das Kabel in den Laptop und die Digicam.

„Da sind ja doch mehr Bilder drauf“, runzelt Tessa die Stirn, als sich der Dateiordner der Kamera auf dem Laptopbildschirm öffnet. „Klick sie mal der Reihe nach durch“, fordert sie Nora auf. Klick. Das erste Bild ist Nora bereits bekannt, die große, hässliche Kreuzung. „Ist das nicht hier irgendwo in Stuttgart?“, fragt Tessa. „Kann schon sein, aber durch die ganzen Baustellen hier kann ich das nicht mit Gewissheit sagen“, zuckt Nora die Schultern. „Okay, weiter geht’s.“ Klick. Dieselbe Kreuzung, ein bisschen weiter reingezoomt. Klick. Wieder die Kreuzung, näherer Zoom. „Wow, was ein Künstler“, spottet Tessa. „Hmpf“, zu mehr lässt sich Nora nicht verleiten. Klick. Zoom auf die Kreuzung, langsam erkennt man die Gesichter der Personen. Klick. Zoom. Klick. Zoom. Klick. „Nora, das bist du!“ Tessa springt von ihrem Platz auf dem Sofa auf. „Da, ganz rechts am Bildrand. Die mit dem Handy am Ohr!“, wild gestikulierend deutet sie auf den Bildschirm. Nora wird heiß und kalt zugleich. „Oh mein Gott, du hast recht! Wann war das, WO war das?“, ruft sie verzweifelt. Die beiden Frauen schauen sich an.

„Okay, das wird mir jetzt zu brenzlig hier. Das kann doch kein Zufall sein“, findet Tessa als erste die Worte wieder. „Wer auch immer dir die Digicam MIT EINEM FOTO VON DIR auf den Balkon gelegt hat, ist doch verrückt. Und der Verrückte weiß anscheinend, wo du wohnst. Du kommst jetzt mit zu mir, sofort. Pack ein paar Sachen, schließ alles ab und dann gehen wir. Und morgen früh direkt zur Polizei.“

Nora liegt neben Tessa im Bett und lauscht dem gleichmäßigen Atmen ihrer Freundin. Die Gedanken kreisen in ihrem Kopf und lassen sie trotz Müdigkeit nicht zur Ruhe kommen. Wer, wann, warum? Sie lebt ein stinknormales, langweiliges 0815-Leben. Keine verärgerten Ex-Freunde, keine unschönen Trennungen. Keine reichen Eltern oder Lottogewinne. Das macht doch alles keinen Sinn.

Frustriert steht sie auf, läuft in die Küche und schenkt sich ein Glas Wasser ein. Da sieht sie auf der Bar Tessas Zigarettenschachtel liegen. Oh Gott, genau das was ich bei dem ganzen Stress jetzt gebrauchen könnte. Zögerlich öffnet sie die Schachtel und zieht eine Zigarette heraus. Eigentlich hat sie schon vor einem halben Jahr aufgehört zu rauchen, aber der Schock des heutigen Tages sitzt ihr tief in den Knochen. Auf Zehenspitzen schleicht sie zur Terrassentür, schiebt den Vorhang beiseite und öffnet die Tür. Mit ihrer Freundin im Zimmer nebenan fühlt sie sich sicher genug um zwei Schritte auf die kleine Terrasse hinauszutreten. Sie schnappt sich das Feuerzeug vom Gartentisch, setzt sich auf die große Holzbank und inhaliert den ersten Zug tief. Ohja, danach kann ich sicher wenigstens ein paar Stunden schlafen, denkt sie und schließt für einen Moment die Augen.

Ein Stich in die Wade lässt sie schlagartig die Augen aufreißen. Blöde Mücken! Noch zwei Züge und dann geh ich wieder rein, denkt sie noch, bevor ihr schwummrig wird. Was ist denn jetzt los?!, wundert sie sich und versucht aufzustehen. Ihr Körper gehorcht schon nicht mehr, sie sackt langsam auf den kühlen Steinboden. Alles dreht sich und sie kann ihre Augen fast nicht mehr offen halten. „Hilfe, was geschieht mit mir…“, flüstert sie noch, bevor ihr gänzlich schwarz vor Augen wird.

Durst. Ich habe so unendlichen Durst. Das ist der erste Gedanke, den sie wieder zu fassen bekommt. Ihre Kehle ist ausgetrocknet, ihr Rachen gleicht einer Wüste. Schwerfällig schiebt sie die Zunge im Mund hin und her. Der Versuch ihre Augen zu öffnen schlägt fehl. Doch mit jeder Sekunde beginnt sie ihren Körper mehr zu spüren. Die schmerzenden Handgelenke, die brennenden Knöchel. Alles gut, alles gut. Nur ein Alptraum, denkt Nora dämmrig. Langsam beginnt sie zu blinzeln, ihr wird schwindlig und schlecht.

„Ach Nora, du solltest dich wirklich besser umschauen, wenn du dich nachts irgendwo hinsetzt. Aber Aufmerksamkeit ist ja ohnehin nicht deine Stärke“, hört sie eine Stimme wie durch Watte sagen. Nora neigt den Kopf leicht nach links und rechts, versucht erneut zu blinzeln und bewegt vorsichtig ihre Gliedmaßen. Sie sitzt auf einem Stuhl, ihre Hände und Füße scheinen fixiert. Als die Bedeutung dieser Umstände ihr Bewusstsein erreicht, entfährt ihr ein Schrei. Ein Schrei, der in Wirklichkeit nur ein leises Krächzen ist. Die ausgedörrte Kehle lässt es nicht zu, dass ihre Panik nach außen dringt. Nora kann keinen klaren Gedanken fassen, doch durch das Adrenalin werden Übelkeit und Schwindel fortgespült und sie kann endlich die Augen öffnen. Und sieht… nichts. Außer Dunkelheit. Vor, neben und über ihr.

„Na also, geht doch. Du stellst dich vielleicht an“, hört sie die Stimme aufseufzen. Eine männliche Stimme, hinter ihr. Nora versucht den Kopf zu drehen, doch es reicht nicht. Die Person muss direkt hinter ihr stehen.

„Nora Melski, endlich lernen wir uns kennen“, schnarrt die Stimme und sie hört langsame Schritte. Mittlerweile haben sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. In ihrem rechten Augenwinkel sieht sie eine Gestalt vorbeihuschen. „Na, wie geht’s dir denn so? Hättest du heute Morgen gedacht, wie dein Tag verlaufen würde? Wohl kaum“, spottet die schattenhafte Gestalt. Wie ein Tier schleicht sie in einigem Abstand vor ihr auf und ab. Das Dunkel verschluckt Gesichtszüge und Details, Nora erkennt nur die großgewachsene, dürre Figur. „Wer sind Sie?“, ist das einzige, was Nora über ihre spröden Lippen bringt. Ihr Kopf schwirrt, sie kann sich keinen Reim auf all das machen, hofft immer noch auf einen Traum. „Na na na, da musst du schon selbst drauf kommen. Aber keine Sorge, ich werde dir ein paar Hinweise geben. Bin ja schließlich kein Unmensch“, antwortet der Unbekannte. Nora befeuchtet ihre Lippen, möchte mehr erfahren, mehr sagen, aber sie kann nicht. Ein Hustenkrampf schüttelt sie. „Ach wie unhöflich von mir, hab dir noch nicht mal was zu trinken angeboten“, sagt der Mann und zieht sich in den tiefen Schatten zurück. „Bin gleich wieder da!“, ruft er. Das Licht, welches beim kurzen Öffnen der Tür am anderen Ende des Raumes aufblitzt und auf Noras empfindliche Augen trifft, treibt ihr die Tränen in eben jene. Sie kneift sie zusammen und stöhnt gequält auf. Genau so schnell wie die Tür geöffnet wurde, fällt sie auch wieder ins Schloss. Nora lässt die Augen geschlossen und die Tränen fließen. Das kann nicht wahr sein, das ist alles nur ein Traum, ein böser, böser Traum, summt sie in ihrem Kopf. Leicht wiegt sie ihren Oberkörper vor und zurück – soweit das mit den hinter ihrem Rücken gefesselten Händen möglich ist. Der Stuhl bewegt sich dabei keinen Millimeter, er ist mit dem Boden verschraubt.

Irgendwann später – ihr Zeitgefühl hat sich verflüchtigt – hört sie wie in weiter Ferne erneut das Schloss und dumpfe Schritte. „Ach Prinzessin, hat doch ein bisschen länger gedauert“, flüstert ihr die Stimme des Mannes ins Ohr und reißt sie damit aus ihrer Trance. Sie kann den Tabak in seinem Atem und den getrockneten Schweiß riechen. „Bitte, bitte nicht“, wimmert Nora. Sie hat die Augen fest zusammengepresst. „Na ich hab hier doch genau was du willst! Nun stell dich nicht so an“, raunzt der Schattenmann. Der Drang nach Wasser ist übermächtig und überlagert für einen Moment sogar ihre Angst. Sie hebt die Lider und sieht sich Auge in Auge ihrem Entführer entgegen.

„Mund auf!“, herrscht er sie an und zögerlich gehorcht sie seinen Anweisungen. Er steckt ihr ein Röhrchen zwischen die Lippen und sie saugt gierig daran. Sie saugt so schnell, dass sie sich verschluckt und die Hälfte der kostbaren Flüssigkeit ausspuckt. „Hör auf so ein Theater zu machen!“, schnauzt der Unbekannte sie an. Beim Klang seiner eiskalten Stimme stellen sich Nora die Nackenhaare auf. Diesmal zieht sie bedächtiger, möchte jeden einzelnen Tropfen auskosten. Sie wendet den Blick ab, um ihn nicht ansehen zu müssen. Ihn, dessen Gesicht sie noch nie gesehen hat.

Nachdem der letzte Schluck ihre Kehle hinabgeglitten ist, zieht er den Becher zurück und setzt sich ihr gegenüber auf einen Stuhl. „So, da wir jetzt alle versorgt sind, können wir ja anfangen. Wieso bist du hier, Nora?“, fragt er. Nora schluckt, räuspert sich und schüttelt leicht den Kopf: “Ich… ich verstehe nicht. SIE haben mich doch hier her gebracht, ich bin doch nicht freiwillig hier! Was soll das alles?“. „Dachte mir schon, dass du mir auf die Tour kommst. Aber gut, ich will mal nicht so sein. Ich frage dich nochmal: Warum bist du hier?“, sein Blick bohrt sich in ihren, sie muss wegsehen und scannt hektisch ihr Gefängnis. Erst jetzt wird ihr bewusst, dass der Raum in dämmriges Licht getaucht ist. Viel zu sehen gibt es allerdings nicht. Grauer Beton, überall. Eine einsame Glühbirne in der Nähe der Tür. Die Tür. Ihr direkt gegenüber, ein paar Meter entfernt. Meter, die sie nicht überwinden kann. Verzweiflung übermannt sie, laute Schluchzer dringen aus ihrer Kehle. „Hör auf zu heulen du blödes Miststück!“, schreit der Mann, springt in einer plötzlichen Bewegung auf, schmeißt dabei seinen Stuhl um und schlägt ihr hart ins Gesicht.

Kling. Das Geräusch eines Messers das auf den Boden fällt übertönt den Schlag. Sie heult noch lauter, wimmert. „Okay gut, dann verkürze ich das ganze Drama ein bisschen“, poltert der Schattenmann, hebt das Messer wutentbrannt auf und beginnt, wie ein gefangenes Tier vor ihr auf und ab zu laufen.

„Ich bin Timo Holzer. Klingelts da bei dir? Ich verrate dir mal was, DAS SOLLTE ES!“, schreit er und gestikuliert mit der Klinge in ihre Richtung. „Ich kenne Sie nicht, ich kenne keinen Timo Holzer! Ich habe Sie noch nie gesehen!“, schreit Nora in ihrer Panik zurück. „Nein, natürlich nicht! Weil du nur an dich denkst!“, rauft sich ihr Gegenüber die Haare. „Okay, reiß dich zusammen Timo. Hier hast du deine Chance auf Gerechtigkeit“, versucht der Entführer sich zu beruhigen. Seine Schritte werden langsamer. Er geht zum Stuhl, hebt ihn auf, atmet tief durch und setzt sich Nora wieder gegenüber. „So, nochmal von vorn: Ich bin Timo Holzer. Und du, Nora Melski, bist heute hier, weil du mein Leben zerstört hast.“ Die Messerklinge zeigt direkt auf ihr Gesicht.

„Sie müssen mich verwechseln, wirklich! Ich habe nichts getan, gar nichts!“, heult Nora verzweifelt auf. Der ist verrückt, der ist doch komplett irre. Ich hab keine Ahnung wovon dieser Psycho redet! Ihr Kidnapper schnalzt mit der Zunge und schüttelt den Kopf. „Fangen wir doch mal ganz von vorne an: Denk mal drüber nach, wo du herkommst.“ Timo beugt sich auf seinem Stuhl nach vorne, ihr entgegen. „Ich bin in Kiel geboren. Und bis Mitte 20 hab ich da auch gewohnt. Dann hab ich ein Jobangebot aus Stuttgart bekommen und bin hierher gezogen“ spult Nora die Fakten herunter. Timo nickt bedächtig: „Dann gehen wir doch mal zurück nach Kiel. Fällt dir da jetzt nicht mehr zu ein?“. Was will er denn, soll ich ihm meinen Lebenslauf runterbeten? fragt Nora sich. „Ich hatte eine schöne Kindheit, war mittelmäßig in der Schule, hab eine Ausbildung als Medienkauffrau absolviert. Was soll ich denn noch erzählen? Mein Leben ist ganz normal!“. Noras Verzweiflung ist mit jeder Silbe zu spüren. „Nora, Nora, Nora. So kommen wir nicht weiter“, sagt Timo mit blitzenden Augen und steht auf. Mit einem Schritt steht er neben ihr und drückt ihr die kalte Klinge an die Kehle. Sie spürt den stärker werdenden Druck und etwas Feuchtes ihren Hals hinablaufen. Angst und Panik übermannen sie, lähmen sie. Minuten die Nora wie Stunden vorkommen verharren sie in dieser Position.

Dann hört sie ihren Entführer tief durchatmen. Langsam zieht er das Messer weg, läuft um sie herum und beginnt zu erzählen.

„Meine Mutter starb an Krebs als ich fünf war. Das ist tragisch, natürlich. Aber ich glaube genau das hat meine Familie auch so zusammengeschweißt. Meine ältere Schwester, meinen Vater und mich. Die drei Musketiere.

Vor zwölf Jahren war meine damals 17-jährige Schwester Charlotte auf einer Studentenparty in der Nähe von Kiel. Sie hatte unserem Vater versprochen, nachts niemals alleine nach Hause zu fahren. Daher war es für ihn völlig okay, sie zu jeder erdenklichen Uhrzeit von Partys oder Konzerten abzuholen. Und so rief sie ihn auch in dieser Nacht vor zwölf Jahren an und er machte sich natürlich auf den Weg. Oft begleitete ich ihn, aber an diesem Wochenende lag ich mit einer Angina im Bett. Daher bekam ich auch erst mit was passiert war, als die beiden Stunden später völlig fertig nach Hause kamen.

Unser Vater baute auf dem Weg zu Charlotte einen Unfall. Er hatte einem anderen Auto an einer Kreuzung die Vorfahrt genommen. Er und der andere Fahrer sind mit ein paar Kratzern und einem Blechschaden davongekommen. Aber natürlich musste die Polizei gerufen und der ganze Unfall aufgenommen werden. Blablabla, so was dauert.

Vater hatte kein Handy dabei und hat bei dem ganzen Schreck auch einfach nicht daran gedacht, jemanden um ein Telefon zu bitten und Charlotte über die Verspätung zu informieren.

So wartete meine Schwester also ziemlich lange allein vor dem Wohnheim. Und das war ein gefundenes Fressen für einen betrunken Studenten. Er zerrte sie ihn ein Gebüsch, drückte ihr ihren Schal in den Rachen, vergewaltigte sie und lies sie dann dort liegen.

Als mein Vater über eine Stunde später beim vereinbarten Treffpunkt vorfuhr, saß Charlotte völlig apathisch auf dem Gehweg. Die zerrissene, schmutzige Kleidung, ihr leerer Gesichtsausdruck, das verschmierte Make-Up. Er fuhr mit ihr direkt ins nächste Krankenhaus und dort riefen sie die Polizei.

Dadurch konnten Spuren des Täters sichergestellt und dieser einige Tage später auch geschnappt werden. Sie war nicht sein erstes Opfer. Er wurde schon mal wegen Vergewaltigung angezeigt, aber damals konnte ihm nichts nachgewiesen werden.

Auch wenn der Täter verurteilt wurde, brachte das unsere Charlotte nicht zurück. Sie war nur noch eine leere Hülle, zog sich in sich zurück. Ein halbes Jahr nach der Vergewaltigung fand ich sie leblos und blutüberströmt in der Badewanne. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschlitzt. In ihrem Abschiedsbrief erklärte sie uns, dass sie so nicht mehr weiterleben konnte.

Ein Jahr später starb mein Vater. Todesursache Herzversagen. Aber ich weiß, dass es die Trauer um Charlotte war. Und die Schuld. Er hat sich nie verziehen, dass er sie nicht rechtzeitig abgeholt hat.

Und auch mein Leben verlief seitdem natürlich nicht so wie geplant. Ich brach die Schule ab, verlor mich im Drogenrausch und zog mich aus diesem Sumpf nach ein paar Jahren selber wieder raus. Ohne Abschluss und als Ex-Junkie hielt ich mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Bis sich vor einem Jahr durch einen Zufall alles änderte und ich mich auf die Suche nach DIR machte.“

Schweigend hört Nora Timo zu, lauscht mit immer größer werdenden Schrecken seiner Geschichte. Das ist alles dramatisch, aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit mir zu tun hat? War ich vielleicht vor zwölf Jahren auch auf dieser Party? Kann sein, keine Ahnung. Ich war damals ein paar Jahre älter und dauernd auf Partys. Und selbst wenn, ich kann doch nichts für all das?, kreist es Nora durch den Kopf. Mittlerweile läuft ihr Entführer wieder vor ihr auf und ab, das Messer fest in der Hand. „Immer noch nichts? Keine Erinnerungen, keine Schuldgefühle?“, fragt der Schattenmann gereizt. Als Nora nichts erwidert und nur leicht den Kopf schüttelt fährt er mit seinem Monolog fort.

„Vor ungefähr einem Jahr also jobbte ich als Hilfskraft in einer Pizzeria. Es war der Jahrestag von Charlottes Vergewaltigung, als ich niedergeschlagen draußen im Hinterhof stand um eine zu rauchen. Zufällig direkt unter einem offenen Fenster der Pizzeria. Zwei Frauen mussten dort drinnen in der Nähe gesessen haben, denn ich verstand jedes Wort der Freundinnen. Und weißt du, worüber sich die beiden unterhielten? Worüber DU gesprochen hast? Über ein Stoppschild, dass du genau an diesem Abend vor elf Jahren angetrunken auf dem Weg zur Geburtstagsparty deiner Freundin umgefahren hast. Lustig fandet ihr die alte Geschichte, euer Lachen schallte über den ganzen Hof.

Meine Zigarette war da schon längst zu einem Stummel verkohlt, aber ich stand wie angewurzelt unter diesem Fenster. Köstlich habt ihr euch über diesen Vorfall an der Kreuzung amüsiert, ausführlich darüber geredet. Die Kreuzung an welcher in genau der Nacht, als mein Vater Charlotte abholen wollte, das Stoppschild fehlte. Das Schild, welches du kurze Zeit vorher umgefahren und einfach im Gebüsch liegen lassen hast!“

Die letzten Worte spuckt Timo ihr ins Gesicht. Seine Augen sind hasserfüllt, der Mund zu einer wütenden Fratze verzerrt.

Bevor Nora die einzelnen Puzzleteile zusammensetzen kann, spricht Timo weiter, schreit fast: „Ich war wie gelähmt vor Schock. Die Polizei sagte uns damals, dass das Stoppschild an der Kreuzung wohl umgefahren wurde und nur so der Unfall meines Vaters zustande kam. Der Täter konnte nicht ermittelt werden, es gab keine Hinweise. Wir forschten nicht weiter nach, versuchten nach allem was passiert war einfach irgendwie klarzukommen. Und dann beging Charlotte Selbstmord, dann starb mein Vater. Und ich dachte nicht mehr an dieses Schild, wollte nur noch Vergessen und meinen Schmerz auslöschen. Aber an diesem Abend, da kam alles hoch.

Ich wusste nicht was ich tun sollte, war wie in Trance. Als ich aus meiner Schockstarre erwachte und mir die Mörderin meiner Familie ansehen wollte, war der Tisch verwaist.

Ich schaute die Reservierungen durch und da stand dein Name neben der Nummer des Fenster-Tischs.

Zuerst hatte ich keinen wirklichen Plan. Ich googelte dich, checkte täglich deine Social-Media-Kanäle. Als ich sah, was für ein unbeschwertes, glückliches Leben du führst, begann die Wut unaufhörlich in mir zu brodeln. Du hast meine Familie umgebracht, mein Leben ruiniert und lebst sorgenfrei weiter, einfach so?!

In Kiel hielt mich sowieso nichts, also kam ich hierher. Folgte dir, beobachtete dich und jeden deiner Schritte. Konnte nicht glauben, dass dich dieser Unfall nicht genau so verfolgt wie mich. Und machte mir schließlich einen Plan. Den Plan, dich büßen zu lassen. Für all das, was du uns angetan hast.

Ich fotografierte dich auf einer Kreuzung neben einem Stoppschild, was doch eigentlich eine eindeutige Botschaft sein sollte. Ich kletterte nachts auf deinen Balkon und legte dir die Kamera hin um dich an deine Schuld zu erinnern. Drei Tage lang hast du dich nicht auf dem Balkon blicken lassen, die Cam nicht gefunden! Und als du sie dann in den Händen hieltst, hast du den Hinweis nicht verstanden. Du hattest deine Chance, du hattest deine Warnung. Hättest mir auch hier beweisen können, dass du weißt worum es mir geht und deine Schuld eingestehen. Aber selbst mit all den Andeutungen und dem Foto HAST DU EINFACH NICHT REAGIERT! WO BLEIBT DEINE REUE, DU MISTSTÜCK?! HAST MEINE GANZE FAMILIE AUSGEROTTET, MEIN LEBEN ZERSTÖRT UND ERINNERST DICH NICHT MAL?!“

Timo schreit, Nora beginnt zu weinen. Der Tränenschleier nimmt ihr die Sicht, sie sieht ihren Entführer nur noch unscharf. Und ja, sie erinnert sich an die Nacht vor zwölf Jahren, betrunken auf dem Weg zu ihrer Freundin. Sie hatte während der Fahrt mit ihr telefoniert und dann das Stoppschild gerammt. Und dann fuhr sie einfach weiter, als wäre nichts gewesen.

Nora kann einfach nicht glauben, was sie gerade gehört hat. Dass diese Unachtsamkeit so eine Katastrophe ausgelöst und ihre Leichtsinnigkeit zwei Menschenleben gekostet hat.

Die Erkenntnis trifft sie wie ein Schlag, sie wird von einem Heulkrampf geschüttelt. „Es tut mir so leid! Ich wusste nicht, ich wusste einfach nicht…“ stammelt sie ängstlich. „HÖR AUF DAMIT! Es ist zu spät. Du hättest deinen Unfall damals einfach melden können und alles wäre gut gegangen, meine Schwester wäre nicht vergewaltigt worden und alle noch am Leben!“ Timo ist rasend vor Zorn, seine Schritte hallen von den Wänden wider. Mit dem Messer in der Hand dreht er seine Kreise um ihren Stuhl.

„Ich schwöre dir, wenn ich gewusst hätte, was danach passiert, wäre ich zur Polizei gegangen. Dann hätte ich eigenhändig dieses dumme Schild wieder aufgestellt. Ich hatte keine Ahnung, wirklich. Es tut mir so leid, ich wünschte ich könnte die Zeit zurück drehen, bitte verzeih mir!“, fleht Nora schluchzend. „Ich tue alles was du willst, ich zeige mich im Nachhinein an, aber bitte lass mich frei.“

Mit der Messerspitze nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt hält Timo inne, seine Stimme wird gefährlich leise. „Nichts kann meine Familie wieder zurückholen und du hast mir bewiesen, dass dir doch eh alles egal ist. Du hast bis zum heutigen Tag nicht realisiert, dass du einen riesengroßen Fehler begangen hast. Ich musste dir erst alles auf dem Silbertablett servieren, damit du dich überhaupt erinnerst!“ Die Klinge in seiner Hand zittert, Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. „Du läufst rücksichtslos durch die Welt, schaust nicht nach rechts oder links. Alles dreht sich nur um dich, verschwendest keinen Gedanken an andere Menschen.“

Sie schauen sich an. Plötzlich weiten sich seine Augen und er zieht sich zurück, lässt das Messer sinken.

„Ich wollte dir eigentlich körperliche Schmerzen zufügen, dich ausbluten sehen. So wie ich es bei meiner Schwester wegen dir mit ansehen musste. Aber weißt du was noch viel besser passt, liebe Nora? So wie ich durch deinen Fehler zum Alleinsein verdammt wurde, so wirst auch du alleine sein.“ Der Kidnapper bewegt sich rückwärts durch die Schatten. An der Wand angekommen schaltet er das Licht aus. Die Dunkelheit wirkt undurchdringlich, Noras Panik steigert sich ins unermessliche.

„Du hast dich damals nicht um das Schild gekümmert und es einfach liegen lassen. Und jetzt werde ich mich nicht mehr um dich kümmern.“ Timo verlässt den Raum, schließt die Tür hinter sich und öffnet sie nie wieder.

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