Lilli Z.Schmerz ist ein Bumerang

 

Schmerz ist ein Bumerang

„Auch noch ´n Bier?“, fragt Freddy ihn grinsend, während ihm Sabber übers Kinn tropft. Dabei hält er sein halbvolles Bierglas in die Höhe und stützt sich mit seiner freien Hand an der Tischkante ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Gerne“, antwortet Dominik, nicht minder besoffen, und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Freddy nimmt sein Glas und taumelt dämlich glucksend zur Theke.

Entspannt beobachtet Dominik das Umfeld. Die Kneipe leert sich gerade langsam. Es sind nur noch eine Handvoll Tische besetzt. Aber eigentlich ist das auch wieder kein Wunder, denkt er benebelt, es ist ja schon fast vier Uhr morgens!

Er fixiert die übrigen Menschen: Einige Tische weiter sitzt eine Gruppe von Teenagern. Alle lachen. Ach, was würd‘ ich drum geben, wieder so jung zu sein! Wieder neu anfangen und so Manches … rückgängig machen … Ach, ich glaub, ich wechsle lieber das Thema!

Auf der anderen Seite der Bar hocken zwei mysteriöse Typen. Sie sind in schwarze Mäntel gehüllt und essen irgendetwas. Komisch, die Art des Fressens – ja, fressen; essen kann man es nicht mehr nennen – des Buckligen kommt ihm irgendwie bekannt vor … Aber ich habe die beiden doch noch nie hier gesehen!

Hier und da taumeln noch ein paar weitere alkoholisierte Gestalten durch den Raum.

Müde gähnt er. Da kommt Freddy mit zwei Bier zurück, setzt sich und beide saufen weiter. Als sie endlich fertig sind, rülpst Dominik aus tiefstem Herzen, lehnt sich wieder zurück und legt die Hände hinter den Kopf, wobei Büsche von Achselhaaren deutlich zum Vorschein kommen; sie sind weder zu übersehen noch zu überriechen – unangenehm nur für die anderen, nicht für ihn.

Flegelhaft legt er seine Beine grinsend auf den Tisch vor ihm. Als ihn eine Frau darauf anspricht, herrscht er sie an, er gebe sich nicht mit Schlampen ab, sie solle sich deshalb verziehen.

Eine halbe Stunde später bekommt Freddy eine WhatsApp von seiner Frau. Panisch verlässt er den Laden und lässt seinen Kumpel allein zurück.

Der bleibt noch eine ganze Weile, will noch nicht nach Hause – warum auch? Ihn erwartet ja keiner, denkt er und döst, ohne es zu merken, ein.

Als er aufwacht, fordert der Wirt ihn unmissverständlich auf zu gehen. Erschöpft zieht er seine Jeansjacke an, will gerade nach seinem Handy greifen, um zu gucken, wie spät oder früh es ist, doch …

Er durchsucht all seine Taschen, aber es ist verschwunden! Wutentbrannt wirbelt er herum.

„Suchen Sie etwas?“, fragt ihn einer der Kellner.

„Mein Handy ist weg! Jemand hat es gestohlen!“, schnauzt er ihn an. Er spuckt dabei. Sein Kopf verfärbt sich rot, Menschen weichen irritiert zurück. Er brüllt weiter, bis ihm eine kleine Frau vorwurfsvoll ein schmales schwarzes Ding entgegenhält.

„Suchen Sie das? Lag auf dem Boden unter Ihrem Tisch.“

Der Mann reißt es ihr gierig aus den Händen, erkennt sein Handy und drückt es mit funkelnden Augen an seine Brust.

„Ja“, schimpft er und rennt durch die Tür, ohne sich bedankt zu haben, und eilt hinaus in die leeren dunklen Gassen. Dabei schaut er auf das Gerät und bemerkt verdutzt, dass es entsperrt ist. Doch es ist etwas anderes, das ihm sein Herz gänzlich in die Hose rutschen lässt: Das Hintergrundbild ist nicht seins! Sein Gesicht hinter den Ziffern der Uhr (05:34 Uhr) schaut ihm entgegen!

Was geht hier vor sich? Wem gehört das? Und warum hat er oder sie ihn als Hintergrund? Und woher hat er das Foto überhaupt? Wo ist sein Handy?

Auf der verzweifelten Suche nach Hinweisen, nach einer logischen Erklärung, öffnet er hektisch die erstbeste App – und erstarrt erneut: Die ganze Galerie besteht aus Bildern von ihm, die er selbst nie gesehen hat! Manche zeigen ihn, wie er sich in der Kneipe mit Freddy unterhält, an ganz verschiedenen Tagen, nicht nur heute. Andere präsentieren dem Betrachter, wie er auf dem Weg zur Pub-Toilette ist und – o nein, das kann doch nicht wahr sein! – auf der Toilette! Um genau zu sein, zeigt es ihn von hinten: wie er pinkelnd am Pissoir steht, wie er seinen Hosenstall schließt und wie er den Raum wieder verlässt – ganz offensichtlich, ohne sich vorher die Hände gewaschen zu haben! Angstschweiß läuft ihm die Stirn herunter. Er erinnert sich, dass er alleine auf dem Klo gewesen ist – oder etwa doch nicht?

Die nächsten Bilder sind von heute: Er trinkt sein viertes, fünftes, achtes Bier; er pennt auf dem Stuhl und sabbert, streitet sich mit irgendwem. Anschließend kommen wieder Bilder von anderen Tagen in der Kneipe zum Vorschein: wie er eine Frau anbaggert und sie ihm die Tasche schwungvoll ins Gesicht donnert. Hä, überlegt er fieberhaft, wie können erst alte Bilder, dann ganz neue und dann wieder ältere kommen? Dann müssen die Bilder doch vorher hin- und hergeschickt worden sein! Panisch scrollt er bis ganz unten. Es dauert einen Moment, bis er erkennt, dass die anderen Bilder ebenfalls bloß ihn zur Show stellen.

Die letzten Bilder bringen ihn einem Herzinfarkt nahe. Vor Schock wird im schwindelig, alles dreht sich. Er muss sich auf den kalten Bürgersteig gleiten lassen und die Hand an seine nassgeschwitzte Stirn legen. Mit leerem Blick starrt er ins Nichts. Seine Brust hebt und senkt sich hektisch. Sein Atem kommt in kleinen ruckartigen Schüben. Er fühlt sich wie im Fieberwahn und als würde er jede Minute in Ohnmacht fallen. Das Handy liegt neben ihm.

Es beginnt zu regnen. Trotzdem bleibt er sitzen, den Mund halb offen. Er hechelt.

Die Bilder von damals verinnerlichen sich wieder in seinem Kopf. Die Bilder des Geschehens von jenem Tag an dieser schrecklichen U-Bahn. Die gehässig lachenden Gesichter seiner Mitschüler, das verzweifelte und bittende Gesicht …

Auch jetzt und in Gedanken kann Dominik seinen Namen noch nicht aussprechen, der Schmerz sitzt zu tief.

Das erste Mal seit Jahren zeigt er sich von der weichen Seite – na ja, zeigt ist wohl übertrieben, er ist ja schließlich alleine hier … und die kommende Bahn …

Es regnet heftiger, Dominik friert am ganzen Leib. Er ist völlig durchnässt.

Nach einer Weile steht er wieder auf und hebt das gruselige Handy auf. Zu seinem Pech ist es – im Gegensatz zu seinem – wasserfest und hat keinen Schaden genommen. Am liebsten hätte er es einfach gegen eine Wand geschleudert und liegen gelassen, doch irgendetwas in ihm hält ihn davon ab. Er schließt nur die grausame Galerie. Denn diese verstörenden Bilder will er nicht mehr sehen. Niedergeschlagen schaut er nach den anderen Apps: Nur Telefon und WhatsApp sind vorhanden. Er will WhatsApp öffnen, aber der Zugang ist gesperrt. Dann tippt er aufs Telefon-Symbol: bloß ein Kontakt namens Xy und die eigene Nummer! Zögernd klickt er darauf. Die Nummern kommen ihm irgendwie bekannt vor … doch woher?

Ihm will es einfach nicht einfallen. Er ist drauf und dran, Xy anzurufen, lässt es aber sein. Verärgert steckt er das Telefon in seine Jackentasche und macht sich auf den Weg nach Hause.

Es ist fast kein Auto mehr unterwegs. Ständig schaut er sich nach Verfolgern um, sieht aber keine. Die Straßen sind wie leergefegt.

Als er durch die Unterführung der Stadtbrücke torkelt, fasst er doch Mut und ruft Xy an, etwas verunsichert zwar, aber entschlossen, ihm seine Meinung zu geigen.

Das Freizeichen ertönt. Dominik geht nervös auf und ab. Da hört er hinter sich plötzlich ein Handy klingeln. Er schreckt auf und dreht sich augenblicklich um, doch er kann keine Menschenseele erkennen, Autos ebenfalls nicht. Seltsam.

Das Klingeln des Handys wird lauter, Schritte sind zu hören. Er wirbelt panisch herum.

Ein lauter Knall ertönt. Jemand muss gestürzt sein, denkt er. Tatsächlich ist ein Mann gerade von der Brücke hinunter zu Dominik geklettert und den letzten Meter gesprungen. Dominik wagt nicht, sich umzudrehen, er ist völlig regungslos vor Angst.

So sieht er den Muskelprotz mit den zerrissenen Jeans und der geöffneten Jeansjacke nicht, der weiter nichts an hat. Sein Gesicht ist in der Dunkelheit eh nicht zu erkennen. In seiner rechten Hand hält er das klingelnde Handy.

Ist das Xy? Höchstwahrscheinlich!

Auf einmal legen sich starke Finger um Dominiks Nacken. Er zuckt unwillkürlich zusammen, das mysteriöse Handy lässt er fallen.

Der Mann setzt sein Telefon ans Ohr und nimmt ab. Seine gehässige Stimme ist deutlich zu hören:

„War ja klar, dass du anrufst. So vorhersehbar, so dumm, Niki.“

Die Stimme ist tief und lässig böse. Aber etwas beunruhigt Dominik mehr als alles andere: Ihn hat seit Jahren niemand mehr Niki genannt! Nur eine Person … nein, das kann einfach nicht sein, oder doch? Schließlich …

Doch der zunehmende Druck in seinem Nacken reißt ihn brutal aus seinen Gedanken.

Der Typ legt auf und drückt noch stärker zu. Der Schmerz ist wirklich unangenehm. Er verzerrt das Gesicht, wagt es dennoch nicht, sich zu wehren.

Sein Kopf wird auf die Seite gedrückt, der Kerl legt seine Lippen nah an sein Ohr und flüstert langsam mit bedrohlicher Stimme:

„Weißt du denn immer noch nicht, wer ich bin?“

Dominik zögert. Der Angreifer drückt seinen Kopf gewaltsam auf die andere Seite und bohrt ihm dabei seine Nägel tief in den Hals. Dominik beißt die Zähne zusammen, inzwischen blutet er aus drei kleinen Löchern nahe der Hauptarterie.

„Ich hab dich was gefragt, Niki! Und – man – antwortet, – wenn – man – etwas – gefragt – wird, – oder? ODER?“, fügt er aggressiv hinzu, wobei er jedes Wort mit einem gewaltigen Tritt gegen seinen Rücken unterstreicht. Dominik fällt direkt auf sein Kinn und liegt nun bäuchlings auf dem schmutzigen Straßenboden, sein Rücken brennt vor Schmerz.

Mit letzter Kraft antwortet er schmerzerfüllt: „N-nein … nein, ich weiß nicht, wer Sie sind.“

Darauf hat der Mann wohl gewartet, er lacht verächtlich.

Sie? Na, jetzt bin ich aber doch etwas enttäuscht von dir!“

Dominik versteht nichts. Er hat solche Angst, dass er noch nicht einmal unhöflich sein kann wie sonst immer. Stattdessen fragt er unsicher zurück:

„Ich verstehe nicht ganz. Woher kennen Sie … woher kennst du mich?“

Der Mann prustet vor Lachen, nimmt seinen Kopf und drückt ihm ihn unangenehm so weit in den Nacken, dass es laut knackt. Jetzt kann Dominik direkt in seine schlangenartigen blauen Augen blicken. Nein, er kann nicht, er muss!

Schockiert erkennt er ihn jetzt endgültig wieder. Er wird Gewissheit für ihn, mit seinem lockigen blonden Haar, den linken Augen, dieser Hakennase, den platten Lippen, die ein mehr als fieses Lächeln formen, der blassen Haut und dem – nun ja – freizügigen Modegeschmack. Dominiks Pupillen weiten sich.

„George?“, hechelt er heiser.

Währenddessen schleicht sich eine andere dunkle Gestalt außer Dominiks Sichtweite an die beiden heran.

George schüttelt Dominiks Gesicht hin und her.

„Hast du mich vermisst?“

Immer noch unerkannt steht die andere seltsame Gestalt unmittelbar neben Georges Opfer. George und er tauschen Blicke. Dann nickt George ihm zu. Es ist fast nicht zu sehen.

Der Unbekannte holt mit einem großen Holzbrett weit aus. Dominik hat Georges Blick durchaus bemerkt, flüstert noch ein leises „Was?“, befreit seinen Kopf aus seinen Händen, dreht sich um zu dem Mann – der ihm das Brett mit voller Wucht gegen den Kopf schlägt, sodass es in zwei Teile zerbricht.

Dominiks Kopf fällt sofort auf die Straße zurück. Er blinzelt ein, zwei, drei Mal benebelt – und verliert das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kommt, liegt er rücklings in der Mitte der Straße unter der Brücke. Er blinzelt und versteht nicht ganz, wie ihm geschieht. Sein Hinterkopf ist angeschwollen und blutverschmiert, genau wie sein Rücken, sein Kinn und sein Hals. Er blutet aus der Nase. Sein linker Nasenflügel juckt.

Doch als er sich kratzen will, merkt er, dass er gefesselt ist. Um sein linkes Handgelenk ist eine lange Schlinge gebunden, die bis zu einem Gullideckel am Bürgersteig führt, an dem das andere Ende befestigt ist. Von seinem rechten Handgelenk führt eine weitere Schlinge zu einem Gulli in entgegengesetzter Richtung. Die Seile schneiden ihm ins Fleisch. Sie sind so gespannt, dass er seine Arme nicht mehr wirklich bewegen kann und sich schon das Blut darin staut. Seine Beine sind an schweren Stangen gebunden.

Dominik zappelt verzweifelt. Doch es ist vergebens.

Dann erinnert er sich wieder an alles.

George und sein Komplize kommen auf ihn zu, stellen sich links und rechts neben ihn und beäugen ihn amüsiert. Den Unbekannten erkennt er weiterhin nicht. Er trägt eine schwarze Jeans und eine schwarze Lederjacke. Rötliche Augen hat er, schwarz-verfilztes Haar, einen Vollbart und gelbliche Haut.

„Was soll das?“

„Was das soll? Ist das dein Ernst?“ Georges Grinsen endet abrupt. „Jetzt tust du auch noch so, als könntest du dich an nichts erinnern! Hast du denn überhaupt kein Gewissen? Zeig doch wenigstens etwas Reue!“ Er atmet jetzt ernsthaft erschüttert, heftig. „Mein armer Bruder!“

Die Erinnerung trifft Dominik wie ein Stromschlag. Er hört George längst nicht mehr. Die Bilder jenes Tages, als er Georges Bruder rücksichtslos zurückließ – ja, ihn tötete! –, erscheinen wieder vor seinem geistigen Auge.

Es war ein Freitag, der 13. – so wie heute –, damals der letzte Tag vor den Sommerferien. Der vierzehnjährige Dominik war in den Pausen wieder einmal gemobbt worden. Denn neben Georges Bruder Benjamin, dem dummen, behinderten Rollstuhlfahrer mit den abgehackten Stummelbeinen, war er der uncoolste, verzogenste, viel zu übertrieben guterzogenste und unangesagteste Junge aus der ganzen Schule. Er wollte doch bloß immer das Richtige tun – ganz anders als später der erwachsene Dominik.

Als der Schulgong die Ferien einläutete, machten sich alle fröhlich auf den Heimweg.

Dominik würde seinen Mitschülern, insbesondere den Klassenidioten, an der U-Bahn noch einmal begegnen. Die Idioten Hanna, Gert, Rupert, Tom, Leon und Daniel tuschelten aufgeregt. Das war eigentlich nicht so ungewöhnlich, aber dieses Mal hatten sie etwas wirklich idiotisch Böses vor und ließen Benjamin nicht aus den Augen.

Dominik hätte nie gedacht, dass er sich in wenigen Minuten sein Leben lang als Mörder bezeichnen würde …

George war ebenfalls dort, zusammen mit seinem Bruder. Er ging nur ganz kurz zur Anzeigetafel. Seinen Bruder verlor er deshalb kurz aus den Augen – ein schrecklicher Fehler.

Vieles passierte jetzt gleichzeitig.

Hanna und Leon stürzten sich förmlich auf den armen Benjamin. Sie schoben ihn blitzschnell zum U-Bahn-Rand, er schrie und dann … schmissen sie ihn kaltblütig auf die Gleise. Menschen kreischten.

Gert, Rupert, Tom und Daniel hielten die anderen davon ab, ihm zu helfen, insbesondere George.

Aber die meisten waren ohnehin so schockiert, dass sie wie angewurzelt stehen blieben.

Benjamin kreischte, alleine konnte er unmöglich von den Gleisen fliehen.

„Dominik! DOMINIK! HILF MIR!“, brüllte er erst verzweifelt, dann hysterisch.

Dominik war der Einzige, der ihm helfen konnte. Das wusste er. Sein Bruder war nicht zu sehen. Kreidebleich bewegte sich Dominik auf ihn zu.
„HILF MIR! HILF MIR! BITTE, HILF MIR! DOMINIK!“

Von Weitem hörte man schon die Bahn.

„Nein, Dominik! Das tust du nicht!“, rief Hanna bösartig.

„Nein, tu´s nicht! Oder willst du nie zu uns Coolen gehören?“, pflichtete ihr Rupert bei, der George zusammen mit Tom und Daniel festhielt.

„DOMINIK! HÖR NICHT AUF SIE! RETTE IHN!“, brüllte George.

Dominik war das alles zu viel.

„HILF MIR! DOMINIK, BITTE!“ Verzweiflung und Angst waren dem Rollstuhlfahrer deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Nein, er ist eh nichts wert! Lass ihn da liegen!“, befahl Daniel gebieterisch und schadenfroh zugleich.

Ja, Dominik wollte einfach dazugehören und machte deshalb den Fehler seines Lebens: Er zögerte.

Die Bahn kam, man konnte sie jetzt auch sehen.

Benjamin und George schrien markerschütternd.

„NEIN!“, kreischte George.

Erschüttert beobachtete Dominik, wie der schreiende Benjamin von der gigantischen Bahn überfahren und in Stücke gerissen wurde.

Dann ließen sie George lachend los. Der sprintete weinend zu den Gleisen. Die Bahn war inzwischen zum Stillstand gekommen. Der Anblick von dem, was sie angerichtet hatte, war unbeschreiblich.

George sprang verzweifelt neben die Überreste seines Bruders und umarmte, laut schluchzend, was noch von ihm übrig geblieben war.

„Nein, nein, nein!“, rief er immer wieder.

Alles war voller Blut. Benjamins Körperteile lagen – blutend, zerfetzt – wild zerstreut herum.

Dominik bereute sofort und hasste sich seitdem: jeden Tag seines weiteren Lebens!

Hanna, Tom, Rupert, Daniel, Leon und Gert lachten immer noch.

Nach einer Weile hob George sein blutverschmiertes und nassgeweintes Gesicht und schluchzte: „Ihr Schweine! IHR ARSCHLÖCHER! Was hat er euch denn getan?“

Er sprang von den Gleisen und raste auf die Idioten zu, die jetzt alle nah beisammen standen. George schnaufte. Dann schlug er brüllend voller Wut und Trauer mit all seiner Kraft erst auf Leon, dann auf Hanna ein und verletzte die anderen vier ebenfalls schwer.

Vier Polizeibeamte mussten ihn beruhigen, damit er von ihnen abließ.

Bevor sie alle mitgenommen wurden, holte er noch einmal tief Luft und wandte sich Dominik hasserfüllt zu. Langsam und in Begleitung eines Sanitäters ging er zu ihm.

„Aber … aber du!“, flüsterte er heiser, nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. „Du hättest ihn retten können … retten!“ Er wischte sich mit dem Ärmel Blut und Rotze von der Nase. „Und was hast du getan? Du hast ihn sterben lassen!“ Nun kreischte er wieder. „Hast ihn von der Bahn zerquetschen lassen! Du Mörder! Du hast ihm tatenlos beim Sterben zugesehen! MÖRDER! MÖRDER! DU BIST EIN MÖRDER! IHR ALLE SEID VERDAMMTE MÖRDER!“

Als er tränenüberströmt erneut zum Schlag ausholte, wurde er zu Dominiks Glück von zwei der Polizisten zurückgehalten. Benjamins Bruder wehrte sich heftig.

„Lasst mich los! Lasst mich los! Mein armer Bruder! Mein Bruder! Sie haben ihn getötet! Die Bastarde! Wichser! VERDAMMTE MÖRDER! MÖRDER! ERMORDET HABEN SIE IHN! Lassen Sie mich los! Helfen Sie mir! Helfen Sie ihm! Helfen Sie Benjamin, meinem armen Bruder! Verhaften Sie die Mörder! LASSEN SIE MICH!“, schrie er immer noch, als sie ihn wegführten.

Die Erinnerung verschwimmt. Was genau mit den sechs Idioten passiert ist, weiß Dominik nicht oder nicht mehr. Er weiß nur, dass George danach erst einmal in die Psychiatrie gekommen und schwer depressiv geworden ist – und dass er selbst, Dominik, sich seit damals völlig verändert hat, um sein Dasein als Mörder irgendwie ertragen zu können. Niemand hat ihm je wieder zu nahekommen dürfen.

Eine Träne läuft ihm über die Wange.

Als er seine Augen wieder aufschlägt, erkennt er ein paar Meter von ihm entfernt ein großes schwarzes Auto mit riesigen Reifen. Neben ihm steht noch immer George. Bestimmt hat er nicht aufgehört zu reden.

„Du hast ihn umgebracht! Du bist schuld!“, schimpft er gerade. Dann beruhigt er sich scheinbar und lächelt dämonisch – ein Blick, den Dominik zutiefst fürchtet. „Aber heute, heute wirst du es bereuen – wie ich es dir damals versprochen habe!“

Was hat er nur vor?, denkt Dominik panisch.

„Wir haben das seit Jahren geplant“, führt er grinsend fort. „Wir, Matthias …“

Er deutet auf den Mann, der nun im Auto Platz nimmt. Jetzt erkennt ihn Dominik auch wieder. Matthias ist Benjamins bester Freund aus der Parallelklasse gewesen.

„Wir, Matthias und ich haben dich wochenlang beobachtet und fotografiert. War nicht schwierig, dir dann das Handy unterzujubeln, um dir noch weichere Knie zu machen!“, jubiliert George geradezu.

Der seltsame Typ in der Kneipe, der mir so bekannt vorgekommen ist!, fällt es ihm nun wie Schuppen von den Augen.

„Bist jetzt ein ganz anderer Mensch, überhaupt nicht arrogant und ungehobelt, jetzt, wo du dir vor Angst in die Hose machst!“ Er kichert wie ein Verrückter.

„Was … was habt ihr vor?“, fragt Dominik kleinlaut.

„Nun ja … Was meinst du denn, Niki? Däumchen drehen? Hmm?“, antwortet er sarkastisch und fügt barsch hinzu: „RACHE NEHMEN, du Vollhonk!“

Niki – nein, Dominik! – schluckt.

„Also, sicher ist es dir nicht ganz entgangen, dass der arme Benjamin behindert gewesen ist. Er konnte halt nicht laufen und hatte bloß halbe Beine“, erklärt er geradezu im Plauderton. „Und dann wird er einfach so von der Bahn zerquetscht und auseinandergerissen. Nun ja …“

Und was kommt jetzt?

„… du sollst wissen, wie das ist und, nun ja, es einfach einmal selbst ausprobieren!“

Dominik ist mehr als nur in Panik. Wie verrückt reißt er an seinen Fesseln, natürlich ohne Erfolg.

„Dafür ist das Auto da.“ Er macht eine bedeutungsvolle Pause. „Zuerst werden wir deine Beine lahmlegen und dir … ein bisschen wehtun. Danach geben wir dir den qualvollen Rest!“ Beide Männer lachen wie von Sinnen. „Bereit? Freust dich schon?“

George steigt neben Matthias ins Auto.

„Oh, ach ja!“, fügt er noch eilig hinzu. „Wir haben dir für den maximalen Spaß Adrenalin gespritzt, damit du – nun ja – auch alles mitbekommst und uns nicht zu früh wegtrittst!“

„Das … das könnt ihr doch nicht machen! NEIN! NEIN! Es tut mir doch leid. Glaubt mir doch! Es tut mir unendlich leid!“

Mit geöffneten Fenstern fährt Matthias ein Stück rückwärts. Dominik zappelt.

Dann saust der Wagen auf seine gefesselten Schienbeine zu und darüber hinweg. Er schreit markerschütternd. Blut spritzt. Seine Hose platzt, Knochen werden freigelegt, brechen, Muskeln reißen.

Matthias und George lachen laut.

Matthias legt den Rückwärtsgang ein, fährt erneut über das Opfer. Dabei knickt Dominiks linkes Knie qualvoll zur Seite. Tränen schießen ihm aus den Augen, Wasserfällen gleich. Weitere Knochen brechen. Das machen sie noch weitere drei Male. Am Ende sind alle Zehen abgebrochen oder zumindest gebrochen. Aus den Beinen gucken Venen und zerfetzte Knochen heraus. Von beiden Knien ist nicht mehr viel übrig. Trotz des Adrenalins ist der Schmerz inzwischen unerträglich. Niki schreit wie am Spieß.

„Das war die Vorspeise“, ruft Matthias durchs Fenster. „Freu dich jetzt auf den Hauptgang und das Dessert!“

Sie fahren einige hundert Meter zurück und rasen anschließend mit mehr als 70 Sachen auf ihn zu.

2 thoughts on “Schmerz ist ein Bumerang

  1. Liebe Lilli,
    wow, wirklich eine seht gute Geschichte!
    Dein Schreibstil ist super fesselnd und hat die Emotionen sehr gut transportiert. Die Handlung spannend und außerordentlich dramatisch. Das Ende war anders als ich erwartet habe.👍 Die Geschichte zeigt auch, dass hinter “asozialem” Verhalten traumatische Erlebnisse stecken können . Du hast die menschliche Psyche gut beleuchtet.

    Hat mir auf jeden Fall sehr gefallen, dafür ein ♥️ von mir!

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

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