Samurai27Schmerz verjährt nicht

„Zeit zu sterben!“, stand auf dem Sperrbildschirm und war auf ein Bild von ihm projiziert worden. Er hatte das Handy aufgehoben, das auf dem Waldweg gelegen hatte, den er entlang gejoggt war. Er reagierte sofort, ging leicht in die Knie und versuchte, die Umgebung in sich aufzunehmen.
Er hörte den Schuss erst, als die Rindenstücke schon auf seinen Rücken fielen. Das Geschoss hatte ihn knapp verfehlt, weil er nach jahrelangen Drill instinktiv gehandelt hatte. Das militärische Training bei den Fallschirmjägern hatte ihn auf solche Gefahrensituationen vorbereitet. Der Knall war laut, ein Gewehr, mittleres Kaliber, achtzig bis hundert Meter, links oben im Wald. Während diese Informationen vor seinem inneren Auge vorbei flimmerten, lag er schon hinter der Eiche, die ihm als Kugelfang gedient hatte. Der Schütze hatte ihn verfehlt. Ein glücklicher Umstand. Aus dieser kurzen Entfernung war ein Treffer nicht schwer und eine tödliche Verletzung war nicht nötig. Ein Körpertreffer hätte ausgereicht, um ihn auszuschalten.
Er lag am Fuß des Baums und spähte in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Er musste sofort weg von hier, dem Schützen kein neues Ziel bieten. Würde der Gegner seine Position verändern, fragte er sich? Anzunehmen, denn sicher wusste dieser, wer er, Klaus Müller war und dass es gefährlich sein konnte, ihn entkommen zu lassen.
Eine Fügung des Schicksals war das nicht. Aus einhundert Metern erkannte jemand genau, ob er auf ein Tier oder auf einen Menschen zielte. Zufall schied somit aus. Es war mit Absicht geschehen. Aber wer würde hier, mitten im Wald auf ihn schießen, fragte er sich. Vorsichtig rutschte er weiter, hinunter zu dem kleinen Bach. Er schaute an sich herunter, sah die kurze, schwarze Hose – gut. Nicht optimal war das neonrote Sweatshirt. Ein perfektes Ziel, ärgerte er sich und zog es zügig aus. Dass er jetzt nicht halb nackt war, verdankte er den Temperaturen im Wald. Anfang Oktober war es bis mittags recht kühl und er hatte zusätzlich ein Schwitzhemd angezogen – gut. Blieben die weiße Haut an Armen, Beinen und Kopf. Darum würde er sich später kümmern, wenn es denn ein später geben würde.
Unten am Bach hatte er Deckung hinter einem umgestürzten Baumstamm gefunden und suchte die Gegend ab. Der Schuss war vor knapp zwanzig Sekunden gefallen. Mit Nachladen, Stellungswechsel und erneuter Zielaufnahme wäre sein Gegenüber jetzt wieder feuerbereit. Und er war nur zehn Meter entfernt, von der Eiche am Weg, in der das erste Projektil steckte. Der Wald war zu dicht, er vermochte nichts zu sehen. Gut und schlecht zugleich. Gut, weil er kein leichtes Ziel bot und schlecht, weil er den Schützen nicht ausmachen konnte. Es würde einen Zweikampf auf Leben und Tod geben, denn es war nicht anzunehmen, dass sein Gegner aufgeben würde. Das war kein Jäger, der ihn mit einem Hirsch verwechselt hatte. Hirsche joggten nicht durch den Wald, schon gar nicht zur Mittagszeit und nicht in einem roten T-Shirt. Und Jäger legten Handys nicht als Falle aus.
Sein Gegenüber war jemand, der etwas Ernsthaftes gegen ihn hatte. Aber warum? Und weshalb die Sache mit dem Handy, fragte er sich, die Umgebung prüfend. Er kannte seine Joggingstrecke. Der Schuss war an einer kurzen Steigung gefallen, links ein mittelsteiler Hang mit lichtem Laubwald und rechts die Böschung am Bach, an dem er jetzt lag. Zurück zur Wegkreuzung waren es knapp fünfzig Meter. Immer dem Wasserlauf folgend. Er sah einige umgefallene Bäume, Sträucher und Erdwälle. Manches würde sich zur Deckung eignen. Aber wo war der Andere? Er musste es riskieren, spähte nach oben. Dann kroch er auf allen vieren weiter und folgte dem Bachlauf. Hinter einem Baum verharrte er und wartete auf einen zweiten Schuss, der aber nicht kam. Gut, vermutlich hat er mich nicht gesehen, ging es ihm durch den Kopf. Wo war er? Wo würde er sich verstecken, um sein Opfer zu treffen? Er würde anstreben, freies Schussfeld zu haben. Optimal wäre eine erhöhte Stellung mit einer Auflage für die Waffe. Dann würde er hoffen, ihn beim Überqueren des Weges zu erwischen oder wenn er versuchen würde, den Hügel am anderen Ufer zu erklimmen.
War sein Gegenüber alleine oder musste er sich Gedanken um weitere Personen machen? Er lauschte, hörte Vögel singen und das Wasser des Baches leise rauschen. Aber keine knackenden Äste und raschelndes Laub. Das wären die Geräusche, die ihm die Position des Schützen verraten hätten. Auf seinem Weg zum nächsten Baum achtete er genau auf die kleinen, dürren Zweige, deren Knacken seinen Tod zur Folge haben könnte. Im Moment schien er kein Ziel abzugeben, sonst hätte man schon auf ihn geschossen. Er erreichte eine umgefallene Tanne, die ihm durch die dichten, grünen Nadeln etwas Schutz bot. Immer wieder verharrte er, spähte in den Wald und lauschte. Nichts. Hatte der Gegner aufgegeben? Eher nicht.
Wo versteckte er sich? Und wer war er? Und warum dieses Handy? Wieso hatte er ihn überhaupt gewarnt? Eine Mitteilung, wann er sterben würde? Komische Idee. Wer hatte etwas von seinem Tod? Der Schuss war jetzt zwei Minuten her und noch immer hatte er das Handy in der Hand, welches auf dem Weg gelegen hatte. Es war ein schwarzes Smartphone mit einer Schutzhülle aus Plastik. Er drehte es um und sah Yin, die eine Hälfte des bekannten, chinesischen Symbols Yin und Yang. Er schloss kurz die Augen. Auf einmal war klar, was hier passierte.
Es war jetzt über zehn Jahre her und er hatte die Geschichte endlich verdrängt, nach vielen schlaflosen Nächten. Warum waren sie damals so blauäugig gewesen. So jung und dämlich.

* * *

Andreas Becker und er hatten damals Geldprobleme gehabt. Viele Möglichkeiten zur Einkommensverbesserung waren ihnen nicht eingefallen. Im Anschluss an ihre Dienstzeit bei der Bundeswehr, waren sie in ihre erlernten Berufe als Elektriker und Schreiner zurückgekehrt. Ihre Einkommen waren ausreichend, ihre Wünsche wurden größer. Was sie sich nicht alles überlegt hatten, um an mehr Geld zu kommen. So zogen sie Verbrechen in Erwägung. Einen Überfall schlossen sie aus, zu riskant, mit zu vielen Unwägbarkeiten. Einen Einbruch trauten sie sich zu. Für sie war es eine einmalige Sache, um zeitnah die finanziellen Probleme zu beheben. Sie waren auf die Idee gekommen, in eine Villa einzubrechen, und suchten ein geeignetes Objekt in der näheren Umgebung. Der Direktor der Sparkasse in ihrer Stadt schien ein passendes Opfer zu sein. Sein Name war Dr. Kurt Pieper und wohnte in einem großen Haus mit langer Zufahrt, war oft in den lokalen Medien präsent und spendete immer Geld an Kulturveranstaltungen. Für ihre Verhältnisse war der Mann reich und würde einen Einbruch überleben.
Sie fanden heraus, wann die nächste öffentliche Veranstaltung geplant war, an der Herr Pieper mit seiner Frau teilnehmen würde. Es war die Einweihung der neuen Feuerwehrleitstelle. Dafür war ein großes Fest vorgesehen, mit Empfang und einem Feuerwerk. Sie erwarteten, dass die Hauseigentümer erst spät in der Nacht nach Hause kommen würden.
Der Zeitpunkt stand fest und sie trieben die Planungen voran. So besorgten sie sich dunkle Schuhe mit Gummisohlen. In vielen Büchern, die sie seit ihrer Jugend über Kriminalfälle gelesen hatten, wurde immer auf dieses Detail hingewiesen. Von Profis lernen war ihre Maxime.
Ein Punkt war offen, mit oder ohne Schusswaffen. Laut Andreas bedurfte es keiner Pistole, besser planen war seine Devise. Eine Waffe sei eine Sicherheit, auf die er, Klaus, dagegen nicht verzichten wollte. Heimlich würde er eine einstecken, dies aber nicht erzählen.
Bei seinem letzten Einsatz in Afghanistan vor elf Jahren hatte er seine Dienstpistole verloren gemeldet. Damals war das nicht weiter aufgefallen, die Hektik im Krieg war zu groß, als das eine fehlende Waffe die Maschinerie lahmlegen würde. Sein Sturmgewehr zu entwenden, wäre riskanter, aber einige Pistolen wurden vermisst und abgehakt. Die notwendige Munition mitgehen zu lassen, zählte zu den Kavaliersdelikten.
An dem geplanten Abend hatten Sie ihre Ausrüstung gepackt. Brecheisen, Glasschneider, Taschenlampen, dünne Lederhandschuhe und Skimasken steckten sie in dunkle Sporttaschen. Schwarze Kleidung mit herausgetrennten Etiketten zogen sie an. Seine Pistole hatte er schon am Tag vorher gründlich gereinigt. Anhand von Fingerabdrücken auf der Waffe konnte er nicht identifiziert werden. Von Profis lernen. Für ihre Verhältnisse perfekt ausgerüstet waren sie aufgebrochen. Reichlich naiv, wie im Nachhinein klar wurde.
Sie fuhren mit Andreas Auto auf einen Wanderparkplatz, der etwa hundertfünfzig Meter vom Haus des Bankiers entfernt lag. Das Grundstück der Villa grenzte an einen Wald. Dort erwarteten sie um zehn Uhr abends keine Menschen mehr. Das hatten sie vorher überprüft. Wenigstens etwas stimmte.
Sie nahmen ihre Taschen und schlichen zum Zaun der Villa. Dieser war nur einen Meter hoch und sie kletterten schnell hinüber. Er setzte sein Nachtsichtgerät auf, ein weiterer Verlustartikel aus Bundeswehrbeständen und sah Haus in diffusem, grünen Licht. Stille. Das Anwesen war leer, dunkel. Hunde hatte das Bankiersehepaar nicht. Sie hatten versucht, alles zu bedenken.
Von diesem Zeitpunkt an, lief vieles schief.
Sie schlichen sich zum Haus, kauerten sich neben das Küchenfenster und stellten die Taschen ab. Er nahm den Glasschneider, setzte in der linken, unteren Ecke an und versuchte, ein Rechteck heraus zu schneiden. Es funktionierte.
Die nächste Polizeidienststelle war eine Viertelstunde entfernt, so dass sie bei ungünstigem Verlauf, zehn, zwölf Minuten hatten, bis die erste Streife eintreffen würde.
Andreas drückte das Stück Glas heraus. Es fiel mit reichlich Lärm auf den Küchenboden. Dann war es wieder still. Durch das Loch erreichte er den Fenstergriff, drehte und das Fenster war offen. Schnell waren sie hineingeklettert, holten die Taschenlampen heraus und sahen sich um. Sie hörten keinen Alarm, was nichts bedeuten musste. Ein stilles Signal an die Polizei war denkbar. Er sah auf seine Uhr und aktivierte den Timer. Zwölf Minuten.
Sie öffneten die erste Tür. Durch einen Flur kamen sie in einen größeren Raum. Das könnte das Wohnzimmer sein, hatte er zu Andreas gesagt und sie begannen mit der Durchsuchung. Schnell wanderten drei Leuchter, eine Digitalkamera und andere, vermeintlich kostbare Gegenstände in die Taschen. In einem Schrank fanden sie eine Münzsammlung und packten sie ein. Aber das war nicht genug.
Zwei Minuten waren vergangen. Sie schlichen in den Flur zurück und kamen in eine Halle an der Haustür. Eine große, ausladende Treppe, führte zu den Räumen in der oberen Etage.
Drei Minuten waren vergangen, als sie oben ankamen. Andreas lief zur ersten Tür, direkt vor Ihnen, öffnete sie und trat ein. Er selber war zu einer weiteren Tür gelaufen, machte diese auf und stand in einer Art Bibliothek. Schwere Lehnsessel waren in einem Rechteck angeordnet. Bilder mit mittelalterlichen Kriegsszenen hingen an den Wänden und ein stattlicher Kamin war mittig, zwischen zwei Fenstern zu sehen. Hier würde er gerne einen Single Malt genießen und ins Feuer starren, sinnierte er. Hier standen keine Wertgegenstände herum. Ein antiker Schrank hinter den Sesseln erregte sein Interesse. Er öffnete die polierte Kirschholztür, leuchtete mit der Taschenlampe hinein, als er einen lauten Knall hörte. Was zur Hölle war das gewesen, fragte er sich. Das hatte sich wie ein Gewehrschuss angehört, aber Andreas war doch unbewaffnet.
Fünf Minuten waren vergangen. Er rannte zurück in den Flur, hin zu der Tür, die offen stand. Eine Frau schrie Andreas an, die Hände zu heben und sich ja nicht zu bewegen. Die Stimme überschlug sich fast, wirkte ängstlich und unsicher. Aber die Person hinter dem Geschrei war bewaffnet. Und hatte geschossen. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Sechs Minuten waren vergangen, als er Andreas hörte. Es waren aber keine Worte, sondern Stöhnen. Ein grässlicher Laut, wie er es bei seinen Einsätzen in Afghanistan oft gehört hatte, wenn ein Mensch angeschossen worden war. Erst deutlich hörbare Atemgeräusche, gefolgt von der Luft, die man durch die vor Schmerz geschlossenen Lippen einsaugt. Er warf einen vorsichtigen Blick um die Ecke und sah sie, die Frau des Sparkassendirektors, mit einer doppelläufigen Schrotflinte neben dem Bett stehen. Sie zielte in seine Richtung. Und er sah Andreas, zwei Meter davor auf dem Boden liegend, mit einem blutenden Bein. Diesen Anblick hatte er schon oft gesehen und ihm war sofort klar, dass Andreas heute nicht mehr laufen würde. Was sollte er tun?
Sieben Minuten waren vergangen, als er seine Pistole aus der Jackentasche zog. Die Waffe war schussbereit. Wenn er mit Andreas hier herauskommen wollte, musste er die Frau ausschalten. Sofort schaltete er in den Kampfmodus, führte die Pistole mit beiden Händen vor seinen Oberkörper, trat einen Schritt zur Seite, und stand in der Tür. Die Frau befand sich unverändert vor dem Bett. Sie hob die Flinte, er ging in den Anschlag und gab zwei schnelle Schüsse ab. Das alles hatte keine drei Sekunden gedauert, so wie er es gelernt hatte. Lehrbuchmäßig.
Die Frau wurde durch die Schussenergie auf das Bett geschleudert, die Flinte fiel zu Boden und ein roter Blutfleck breitete sich auf Ihrem Bauch aus. Sie schrie nicht, war still, bewegte sich nicht. Er sah zu seinem Partner hinab. Neben ihm lag die schwarze Tasche, die er im ersten Zimmer gefüllt hatte. Andreas schaute mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihm herauf, streckte eine Hand in seine Richtung. Flehte um Hilfe. Er sah auf die Wunde. Die Schrotkugeln hatten den Oberschenkel getroffen, wobei das bei Schrot eine unzureichende Umschreibung war. Das Bein war zerfetzt. Keine Chance auf Rettung.
Acht Minuten waren vergangen, da hörte er die Sirenen. Zu früh, dachte er sich und schaute auf seine Uhr. Jetzt galt es, zügig zu agieren, rasch nachdenken und seine Optionen abzuwägen, sonst würde er zusammen mit Andreas verhaftet werden. Gemeinsame Flucht erschien undenkbar, dafür war Andreas zu schwer verletzt. E traf eine folgenschwere Entscheidung.
Schnell warf er die Pistole neben Andreas auf den Boden, griff nach der Tasche und sah ihm ein letztes Mal in die Augen. Dann drehte er sich um, rannte die Treppe hinunter, durch den Flur zurück in die Küche und sprang aus dem Fenster. Draußen griff er sich beide Taschen und lief zum Wald. Dort angekommen kletterte er über den Zaun und suchte Deckung im Gestrüpp.
Zehn Minuten waren vergangen, als er die Sirenen deutlich hören konnte. Die Polizei war da. Sie würden den angeschossenen Andreas blutend auf dem Boden liegend finden und auf dem Bett die verletzte Frau. Er rechnete damit, dass diese den Schuss in den Bauch nicht überleben würde und hoffte, dass Andreas ebenfalls schon tot war. Der Oberschenkel hatte grausam ausgesehen. Die Polizei würde hoffentlich von einem Einzeltäter ausgehen.
Nach elf Minuten trat er aus dem Gestrüpp auf den Weg und verschwand in der Dunkelheit.

* * *

Yin und Yang. Die andere Hälfte, Yang, prangte auf seiner Schutzhülle. Es war ihr Zeichen gewesen, das Symbol gegenseitiger Ergänzung. Aus Freundschaft, Identität und Loyalität hatten sie es sich auf ihre Handyhüllen drucken lassen. Ein Bekenntnis für das, was sie zusammen in Afghanistan erlebt hatten. Das Grauen, der Hass, das viele Blut und die Toten. Der Einsatz dort in Kunduz war mit der Hölle vergleichbar gewesen. Ein seelisches Inferno, das so nie beschrieben wurde. Die Wahrheit über die Gefechte drang nicht an die Öffentlichkeit. Alles war totgeschwiegen worden. Mit toten Soldaten und anderen Misserfolgen gewannen Politiker keine Wahlen. Die, die es erlebt hatten, würden nie wieder so sein, wie zuvor. Andreas und er hatten die Zeit zusammen durchgestanden und sich nach ihrer Rückkehr diese Handyhüllen gekauft. Für immer Freunde. Bis zu diesem bescheuerten Abend.
Es war also Andreas, der ihn da draußen jagte, der auf ihn geschossen hatte, der ihn töten wollte. Er hatte die Schusswunde damals überlebt. Das hatte er später herausgefunden. Die Wunde am Bein hatte schrecklich ausgesehen. Er hatte ihm keine Überlebenschance gegeben. In Afghanistan hatte er Menschen mit geringeren Verletzungen sterben sehen. Nachdem er damals geflüchtet war, hatte er verfolgt, was Andreas passiert war. Er war verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis, wegen Totschlags, verurteilt worden. Es wurde aber nie von einem Komplizen berichtet. Andreas hatte die ganze Schuld und die volle Strafe auf sich genommen.
Er, Klaus, hatte nie versucht, Kontakt aufzunehmen. Auf die zwangsläufig kommenden Fragen hätte er nicht antworten können. Er hatte seinen besten Freund hängen lassen, nach allem, was sie zusammen durchgestanden hatten.
Die zehn Jahre Haft waren scheinbar vorbei. Damit Andreas ihn nicht würde finden können, war er von einiger Zeit, umgezogen. Weit weg von der Heimatstadt. Er hatte eine eigene Schreinerei eröffnet und irgendwann aufgehört, an die Sache zu denken. Die Beute war nicht so groß gewesen, wie sie erhofft hatten. Als Startkapital für seine Firma hatte es gereicht. Und einen gebrauchten Porsche Carrera hatte er gekauft, seinen Jugendtraum verwirklicht. Nur seinen Namen hatte er nicht geändert. Das war ein Fehler. Ein weiterer auf der langen Liste.
„Hallo Klaaaauuuus“, hörte er es rufen. Die Stimme war eindeutig, keine Zweifel möglich. „Komm doch raus. Ich weiss doch, wo du steckst“. Die Worte troffen vor Hass und er drückte sich dichter an den Baum. Was waren seine Optionen? Eins war klar, er musste hier weg, denn wenn Andreas ihn so freimütig ansprach, schien er zu wissen er, wo er sich versteckte. Er spähte links und rechts am Baumstamm vorbei und sah – nichts. Andreas konnte nur vermuten, wo er sich verbarg. Hinter sich sah er einen Akazienbusch, neben einer dicken Eiche. Vorsichtig ließ er sich auf den Boden sinken und schob sich rückwärts auf sein Ziel zu. An der Stelle angekommen verharrte er und spähte durch die Blätter, den Hand hinauf. Hatte sich dort oben etwas bewegt? So dreißig Meter den Hang hoch. Er war sich nicht sicher und sah sich weiter um. Er war jetzt fünfunddreissig bis vierzig Meter vom Hauptweg entfernt. Von dort aus konnte er versuchen, zum Parkplatz zu gelangen, auf dem sein Auto stand. Im Handschuhfach wartete seine Pistole auf ihn. Kein originelles Versteck, ungeachtet dessen, feuerbereit. Bis dahin waren es knapp fünfhundert Meter. Auf dem Weg würde Andreas ihn nicht so mal eben überraschen, denn dieser durchquerte einen Fichtenwald. Das bedeutete zwar, dass er nur wenig Schutz haben würde, aber Andreas würde ebenfalls nur schwer Deckung finden. Und ein bewegliches Ziel in einem Wald ist nicht leicht zu treffen. Wo würde er ihm auflauern?
„Klaus, Klaus, Klaus. Das bringt doch nichts. Du kannst mir nicht entkommen.“ Ein Schuss folgte und etwas rechts von ihm fielen Rindenteile zu Boden. Er weiß nicht genau, wo ich bin, dachte er sich und bewegte sich vorsichtig weiter zurück, den nächsten Schutz suchend. Wieder eine Eiche, ein relativ dicker Stamm, nochmals gute Deckung.
„Klaus, Klaus, Klaus. Wir waren wirklich gute Freunde. Mein Leben hätte ich dir anvertraut. Und du lässt mich einfach liegen. Das war nicht nett vor dir. Jetzt komm schon hinter dem Baum vor.“
Er spähte an der Eiche vorbei und sah weiterhin nichts. Dann löste er sich vom Baumstamm und robbte weiter rückwärts fünf, sechs Meter auf einen kleinen Hügel zu. Darauf lag der Rest eines umgestürtzen Baums. Dahinter suchte er Schutz.
Wieder vernahm ein einen Schuss, sah aber keinen Treffer. Er hörte weder ein Nachladegeräusch noch eine andere Bewegung. Andreas war über fünfzig Meter weit weg, schätzte er, sonst hätte er mit Sicherheit das Nachladen gehört. Sollte er es riskieren, zum Weg zu laufen. Andreas würde ihn auf jeden Fall sehen. So wäre sein kleiner Vorteil dahin, trotzdem würde er schneller in den Fichtenwald kommen. Eins war klar, aufgeben würde sein Gegenüber nicht.
„Weist Du eigentlich, wie es im Gefängnis zugeht?“, hörte er Andreas rufen. „Das war die Hölle. Dagegen war Kunduz ein Kindergeburtstag. Willst Du wissen, was mich am Leben gehalten hat? Nur der Gedanke an dich. Daran, dich zu erwischen. Dich spüren zu lassen, was sie mir angetan haben.“
Sollte er direkt zum Parkplatz zurücklaufen, fragte er sich. Wenn Andreas ihn hier aufgespürt hatte, wusste er bestimmt, wo sein Auto stand. Kein guter Plan.
Sein aktueller Vorteil war, dass sein Gegenüber mit ihm hier unten am Bach war und nicht am Parkplatz auf ihn warten würde. Hatte Andreas eigentlich eine Prothese? Wie war seine Wunde damals behandelt worden? Das hatte er sich bisher nie gefragt, jetzt konnte dies eine nützliche Information darstellen. Mit einem künstlichen Bein wäre eine Verfolgung schwerer.
Seine Entscheidung war gefallen. Er sprang auf und lief die fünfzig Meter durch den dichten Wald bis zur Wegkreuzung. Kein Schuss fiel. Er glitt hinter einen Busch und spähte den Weg hinauf. Das war zu simpel gewesen. Andreas war nicht blöd, sonst hätte er ihn nie gefunden. Es gab drei Möglichkeiten. Er konnte probieren, die fünfhundert Meter zum Auto zu schleichen. Mit etwas Glück würde Andreas nicht dort warten, sondern versuchen ihm zu folgen. Auf dem Parkplatz gab es nicht genug Deckung, der lag zwischen Maisfeldern. Wenn Andreas da in einem Hinterhalt liegen würde, würde er es nicht mitbekommen. Kein optimaler Plan.
Option zwei würde länger dauern, war dafür aber sicherer. Er müsste einen größeren Umweg laufen, etwa drei Kilometer und würde dann zum Parkplatz gelangen. Er könnte sich durch ein Maisfeld schleichen und so, fast ungesehen, zum Auto kommen. Besser.
„Die haben mir im Knast alles genommen, was ich noch hatte. Ich war nur noch ein Stück Fleisch. Ich wollte sterben, aber das ist gar nicht so einfach. Das kannst du mir glauben.“, hörte er. „Und die Schmerzen wirst Du jetzt teilen.“
Er musste sich jetzt schnell entscheiden. Option eins, direkt zum Auto, schied aus, zu simpel und zu gefährlich. Möglichkeit drei, Andreas zu töten, war ohne Waffe schwer durchzuführen, und daher riskant.
Er wählte Option zwei und lief los. Geduckt, im Zickzack von Baum zu Baum, von Busch zu Busch. Andreas gab drei schnelle Schüsse ab, die über seinen Kopf hinweg flogen. Er sprang hinter einen Stamm hervor, rollte sich auf dem weichen Waldboden ab und brach sich fast die Hand an einer Wurzel. Fluchend kroch er voran zum nächsten, umgefallenen Baumstamm. Kurz verharrend, schnellte er empor und lief weitere zwanzig Meter in den Wald, fand Deckung. Hinter sich vernahm er nichts, duckte sich und rannte wieder los.
„Ich kriege Dich. Und dann nehme ich dir alles. Alles. Hörst du? Alles.“, hörte er es leise hinter sich. Er hatte es erst einmal geschafft. War weit genug weg.
Jetzt hieß es, Gas geben. Für die drei Kilometer würde er um die zehn Minuten brauchen. Er war trainiert und der Waldweg ein Teil seiner Laufstrecke. Hoffentlich würde Andreas versuchen, ihm zu folgen. Dann hätte er eine gute Chance, ihn abzuhängen. Mit Waffe konnte er unmöglich schneller laufen.
Umkehren und sich am Parkplatz auf die Lauer zu legen, war für sein Gegenüber keine gute Wahl. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass er, Klaus, auch zum Auto laufen würde. Er würde ihn verfolgen müssen. Nahm er zumindest an.
Alle Kräfte aktivierend lief er den Weg entlang. Auf Deckung achtete er nicht, Geschwindigkeit war sein Trumpf. Riskant, sorglos und ungeplant, hätte sein Vorgesetzter in Kunduz dazu gesagt.
Dann, ein Knall. Das Geschoss traf seine Wade und riss ihn zu Boden. Er rollte sich ab und fand Schutz hinter einem Brombeerbusch. Wie war das möglich, was hatte er übersehen, fragte er sich. Er griff sich ans Bein, der Knochen war heil, eine Fleischwunde. Glücklicher Umstand. Sein Blick suchte die Umgebung ab. Nichts. Er musste die Blutung stoppen, ging es ihm durch den Kopf. Schnell zog er sein Unterhemd aus, riss den Ärmel ab und verband notdürftig die Wunde.
„Da hast Du ja nochmal Glück gehabt. Das war mir nicht vergönnt, damals, als die Oma mich getroffen hat. Erinnerst du dich?“, hörte er Andreas lachend rufen.
Das Auto war jetzt etwa einhundertfünfzig Meter entfernt. Das konnte er mit der Wunde schaffen. Andreas blieb dicht hinter ihm, das war klar, als er aufsprang, die Schmerzen unterdrückte und weiterlief. Es fiel kein weiterer Schuss. Der Wald verschluckte ihn.
Auf das, was ihm am Parkplatz erwarten würde, konnte er sich nicht optimal vorbereiten. Er würde improvisieren müssen. Das Andreas ihn weiter verfolgte war anzunehmen, er hoffte, ihn auszutricksen. Sein Plan war, durch das Maisfeld zu schleichen, ins Auto zu springen und davonzufahren, bevor ein Geschoss ihn treffen würde.
Schwitzend näherte er sich dem Feld. Jetzt, kurz nach Mittag, die Sonne stand im Zenit, war es warm. Mit der Schusswunde zu rennen, hatte ihn mehr angestrengt, als er vermutet hatte.
Die Zeit für das Endspiel war gekommen. Er konnte den Parkplatz bisher nicht sehen, sich aufzurichten wäre zu gefährlich gewesen. Da hätte er gleich rufen können.
Das Maisfeld war jetzt im Oktober erntereif, die Pflanzen zwei Meter hoch und dicht. Er würde gezwungen sein, auf dem Boden zu kriechen oder geduckt zu laufen. Die Stangen sollten nicht durch Wackeln auf ihn hinweisen. Wenn die Blätter begannen hin und her zu wiegen, konnte man leicht erkennen, dass sich etwas im Mais bewegte.
Er drückte die ersten Maisstangen auseinander und kroch auf allen vieren weiter, versuchte Bewegungen der Stängel zu vermeiden. Er kam langsam vorwärts, stoppte immer wieder und lauschte. Nichts. Wo war Andreas? Wo hatte er sich versteckt. Wenn er es schaffen würde, an die Pistole zu kommen, stiegen seine Chancen deutlich an. Andreas hatte kein Sturmgewehr, dafür war der Knall der Schüsse zu laut gewesen. Es musste ein Jagdgewehr sein. Damit war kein Dauerfeuer möglich. Das Magazin hatte nur fünf Schuss. Aber fünf Schuss waren eben fünf Schuss. Für einen guten Schützen auf fünfzig Meter ausreichend, ein bewegliches Ziel zu treffen. Das hatte er schon gezeigt. Aber er hatte schon mehrmals vorbei geschossen. Aus Absicht?
Langsam kam er voran. Das Feld war um die hundert Meter breit. Er hockte sich hin, lauschte und lief vorsichtig weiter.
Nach quälenden Minuten hatte er es geschafft. Die Maispflanzen wurden lichter und schemenhaft erkannte er den Parkplatz. Auf allen vieren kroch er voran. Seinen Porsche hatte er rückwärts an das Feld gestellt, in dem er sich aufhielt. Fünf Meter war er im Moment entfernt. Er schlich bis an den Feldrand heran, lauschte und hörte nichts.
Jetzt würde es ernst werden. Problematisch war, dass, wenn er den Türöffner betätigte, der Porsche einem Weihnachtsbaum gleichen würde. Der Scheinwerfer würde aufleuchten und mehrmals blinken, die Innenbeleuchtung würde angehen und ein lautes „Klack“ würde das Öffnen der Türen bestätigen. Nicht gerade unauffällig.
Sollte er versuchen wegzufahren oder die Waffe holen und sich dem Kampf stellen? Er war sich nicht sicher. Andreas würde noch nicht hier sein, hoffte er. So fit war er früher nie gewesen.
Sein Plan war, die Pistole aus dem Handschuhfach zu holen und dann ins Maisfeld zurückzulaufen. Das wäre seine beste Chance, nahm er an.
Vorsichtig kroch er bis an den Rand des Feldes und verharrte. Er sah und hörte nichts. Jetzt musste es schnell gehen. Er sprang auf, drückte auf die Fernbedienung, rannte um den Wagen herum zur Fahrertür und realisierte, dass die Jagd vorbei war.
Am Fenster der Tür klebte ein Handy.
„Hasta la vista, Baby“ las er, die Melodie von „Time to day goodbye“ erklang und der Porsche explodierte.

One thought on “Schmerz verjährt nicht

  1. Dramatische Geschichte…spannend erzählt, als wärest Du selbst schon einmal auf der Flucht gewesen =))
    Ein paar kleine Holperer kann man überlesen – ein like von mir.

    Freut mich, wenn Du meine Geschichte auch liest.. “Die Andere” von lotte.quint
    LG

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