Fanny3593Schnitzeljagd

 

18.03.2020

Mein Kopf dröhnte, als ich versuchte meine Augen zu öffnen und von dem grellen Licht geblendet wurde. Es fühlte sich an, als hätte jemand versucht, meinen Schädel zu zertrümmern. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals solche Kopfschmerzen gehabt zu haben.

Langsam startete ich einen zweiten Versuch, diesmal vorsichtiger und auf alles vorbereitet. Ich blinzelte und das schneidende Licht war immer noch präsent und blendete mich so sehr, dass ich nichts anderes erkennen konnte. Wo war ich?

Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich mich erinnern konnte, was passiert war…

Ich hob meine Hand an meinen Kopf, um mein Gesicht von der beißenden Helligkeit abzuschirmen. Meine Gesichtsmuskulatur entspannte sich und schon ließen auch die Kopfschmerzen ein wenig nach. Ich versuchte einen klaren Gedanken zu fassen und schaute mich um. Nur wenige Meter vor mir machte ich einen Strahler aus, so wie man ihn auf Baustellen benutzte, um beispielsweise in dunklen Räumen arbeiten zu können. Dieser Strahler war gleichzeitig sowohl der Ausgangspunkt dieser unerträglichen Helligkeit als auch die einzige Lichtquelle in dem Raum, in dem ich mich befand. Ich streckte meinen Fuß aus, um die Lampe zu erreichen und sie von mir wegzudrehen. Sobald sie mich nicht mehr direkt anstrahlte, fiel es mir leichter, mich zu konzentrieren und meine Augen dankten es mir.

Ich sah mich um und entdeckte… nichts. Ich befand mich in einem fensterlosen Raum, ohne Möbel, ohne irgendwelche Gegenstände, einfach nur blanke Betonwände. Das einzige, was man fand, waren zwei schwere Metalltüren – die eine stand sperrangelweit offen, ließ dahinter aber nur ein schwarzes Loch erkennen – die andere war nur einen Spalt weit geöffnet.

Langsam zog ich die Beine an, meine Glieder waren steif und auch mein Rücken rebellierte, als ich versuchte aufzustehen. Wie lange ich wohl angelehnt an der Wand hier schon gesessen haben musste?

Viel Zeit, darüber nachzudenken, blieb mir nicht, denn im Nebenraum rumpelte es. Es klang wie ein Stück Metall, das auf den harten Boden knallte. Mein Blick schnellte in Richtung der fast geschlossenen Tür und mit einem Satz war ich auf den Beinen. Adrenalin schoss durch meinen Körper und ließ mich den Schmerz von einem auf den anderen Moment vergessen. Zu groß war nun auch meine Neugier, was – oder eher wer – sich hinter dieser Tür verbarg. Leise schlich ich auf den Durchgang auf der anderen Seite des Raumes zu. Ich presste meinen Rücken gegen die Wand neben der Tür und warf einen Blick durch den offenen Spalt. Ich konnte niemanden sehen und wagte mich, die schwere Tür ein Stück weiter aufzudrücken. Auf Zehenspitzen schritt ich gefühlt in Zeitlupe durch den Türrahmen. Mein Herz pochte mir bis zum Hals und ich fürchtete mich vor dem, was mich erwartete. Noch größer als die Angst war aber der Drang zu erfahren, wer dieser Verrückte war, der mich heute durch die halbe Stadt gejagt und letztendlich hier in dieses Loch verschleppt hatte. Deshalb nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und machte einen nächsten Schritt.

Von hinter der Tür her schien ein dämmriges Licht in den Raum hinein und ein modriger Geruch stieg mir in die Nase. Nachdem ich noch einmal tief Luft geholt hatte, drehte ich mich um und sah…

Mein Herz setzte einen Schlag aus und der Anblick, der sich mir bot, ließ meinen Magen rebellieren. Ich zitterte am ganzen Körper und drohte ohnmächtig zu werden.

5 Stunden zuvor…

Mit einem gut gelaunten Lächeln verließ ich das Krankenhaus durch den Haupteingang. „Urlaub…“, murmelte ich leise und zufrieden, während ich kurz innehielt, die Augen schloss und einmal tief durchatmete. Die laue Frühlingsluft roch nach Blumen und frisch gemähtem Gras. Die Vögel zwitscherten und die Schmetterlinge wirbelten wild durch die Luft.

Ich freute mich, dass es langsam wärmer wurde – das tat gut nach diesem langen und kalten Winter, der in etwa genauso hart durchzuhalten war wie die letzten Monate im Krankenhaus. Man durfte mich nicht falsch verstehen, ich liebte meinen Job über alles. Aber der Alltag zwischen unerwünschten Diagnosen und schrecklichen Leidensgeschichten zehrte manchmal schon sehr an der eigenen Psyche. Wenn es nicht ab und zu diese kleinen, unerwarteten Wunder gäbe, wäre die Arbeit als Arzt wohl kaum durchzustehen. Man sollte meinen, jeder weiß, worauf er sich einlässt, wenn er beschließt, diese berufliche Laufbahn einzuschlagen. Das mag in gewisser Weise ja auch stimmen, allerdings ist der Berufsalltag oft noch um ein Vielfaches schlimmer, als man vorher so annimmt. Dennoch hatte ich mich für ein Medizinstudium entschieden, ich wollte nie etwas anderes und hatte bereits während meiner Schulzeit darauf hingearbeitet. Ich war einer der Wenigen, der lange vor dem Abitur wusste, was er später einmal werden wollte und es tatsächlich auch genauso durchgezogen hat.

Bei aller Freude an meinem Beruf war ich aber nun doch froh, einmal zwei Wochen am Stück durchschnaufen zu können.

An meinem Auto auf dem Dienstparkplatz angekommen erregte ein Funkeln meine Aufmerksamkeit, als ich gerade die Autotür öffnete und einsteigen wollte. Das strahlende Sonnenlicht schien sich in einem glatten Gegenstand zu spiegeln. Ich sah es nur im Augenwinkel und normalerweise hätte ich wahrscheinlich nicht weiter darüber nachgedacht, aber meine Intuition zog mich förmlich zu diesem Objekt hin. Ich schloss die Autotür wieder und trat näher heran. Und tatsächlich, im Grünstreifen schräg vor meinem Parkplatz lag ein Smartphone. Ich hob es auf und betätigte den kleinen Knopf an der Seite zum Entsperren. Der Akku war halb voll und auch ansonsten schien das Mobiltelefon noch komplett funktionstüchtig zu sein. Musste wohl jemand verloren haben…

Ich öffnete das Kontaktmenü, um jemanden kontaktieren zu können, der den Besitzer über den Verlust seines Handys informieren konnte, der das Fehlen eventuell noch gar nicht bemerkt hatte. Doch die Kontaktliste des Telefons war leer… diese Tatsache irritierte mich und ich runzelte die Stirn.

Vielleicht hatte ich ja Glück und konnte wenigstens anhand der Fotos einen Anhaltspunkt finden, wem das Handy gehörte. Ich klickte das Icon der Galerie an und es ploppte ein einziger Bilderordner auf. Ich öffnete das erste Bild darin und Moment mal… das war doch ich? Eindeutig, ich vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Ich wischte weiter zum nächsten Foto. Wieder ich, diesmal hier auf dem Parkplatz, wo ich jetzt auch gerade stand. Intuitiv sah ich mich sofort um, um herauszufinden, ob ich beobachtet wurde. Ich konnte niemanden ausmachen außer eine junge Frau mit Hund, die hier jeden Tag um die selbe Uhrzeit ihren Spaziergang tätigten und mich keines Blickes würdigten.

Mein Blick wanderte zurück auf das Display, ich blätterte weiter. Auf dem Smartphone befanden sich noch mehr Fotos, die mich zeigten – ich in der Kantine bei der Mittagspause, durch die große Glasfassade fotografiert, ich beim Joggen auf meiner wöchentlichen Route durch den Wald, ich im Supermarkt beim Einkaufen, ich bei einem gemütlichen Plausch mit einem Kumpel in meinem Stammcafé…

Wo um Himmels Willen kamen diese Bilder her?! Wer hatte sie gemacht und vor allem aus welchem Grund? Wurde ich etwa gestalkt???

Fassungslos ließ ich meine Hand sinken, ratlos starrte ich ins Leere.

Etwas mulmig war mir schon zumute, doch ich behielt das Handy bei mir und stieg nun endlich ins Auto. Das Telefon legte ich in die Mittelkonsole meines Wagens und startete den Motor. Bevor ich jedoch losfahren konnte, störte ein Piepsen die Stille. Ich zog die Handbremse erneut an und schaltete in den Leerlauf. Schon beinahe genervt nahm ich das fremde Handy aus der Ablage heraus und tatsächlich zeigte das Display eine neue Nachricht an. Ich zögerte kurz, bevor ich die Nachricht öffnete. Unter normalen Umständen würde ich niemals in anderen Handys herumschnüffeln, aber dieses Telefon enthielt schließlich auch Bilder von mir, die jemand unberechtigterweise aufgenommen hatte, also was sollte es…

In der eingegangenen SMS befanden sich lediglich ein paar Zahlen und Buchstaben, die ich anhand ihrer Anordnung als Koordinaten deutete.

Eigentlich hatte ich absolut keine Lust auf irgendwelche Spielchen, trotzdem gab ich die Standortdaten in den Routenplaner meines eigenen Smartphones ein. Tatsächlich lag der angegebene Ort in einem kleinen Waldgebiet nicht weit vom Krankenhaus entfernt.

Entschlossen startete ich die Navigation und parkte aus. Meine Neugier, was mich dort erwarten würde, war geweckt.

In 30 Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht.“, sprach die Frauenstimme aus meinem Handy. Ratlos sah ich mich zwischen den Bäumen um. Hier gab es weit und breit nichts Sehenswertes. Bis auf ein paar Vögel, die im Laub herumhüpften auf der Suche nach Insekten, war kein anderes Lebewesen hier unterwegs.

Sie haben Ihr Ziel erreicht.“

Ich wusste ja noch nicht einmal, wonach ich suchen sollte. Das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich hier in diesem Abschnitt des Waldes immer joggen ging. Hier in der Umgebung musste auch eines der Fotos aufgenommen worden sein.

Wieder und wieder sah ich mich um, bis mein Blick an einem Baum hängen blieb. Aus einer Vertiefung in der Rinde spitzte etwas Weißes hervor.

Vorsichtig ging ich durch das Unterholz auf den Baum zu und betrachtete die Stelle aus der Nähe. Meine Finger zogen ein kleines, eingerolltes Stück Papier aus der Öffnung heraus.

Ich rollte den Zettel auf und las die kurze Mitteilung.

Begib dich an den Ort, an dem es dich sogar im Hochsommer frösteln lassen kann.

Zwischen den unzähligen Variationen an Früchten und Farben wirst du meine nächste Botschaft finden.

Bitte was?!

Ich wusste absolut gar nichts mit diesem Hinweis anzufangen…

Den Zettel zerknüllte ich und steckte ihn in meine Hosentasche, während ich mich auf den Rückweg zu meinem Auto machte.

Dort angekommen setzte ich mich in mein Fahrzeug, fuhr die Fenster herunter, lehnte mich zurück und massierte mir die Schläfen. Ein leichter Anflug von Schmerz breitete sich in meinem Gehirn aus. Ich zerbrach mir den Kopf, wer der Unbekannte war, der mich hier aller Voraussicht nach auf den Arm nehmen wollte, und vorallem darüber, was derjenige von mir wollte. Um das herauszufinden, musste ich wohl seine geheimnisvolle Botschaft entschlüsseln…

Gedankenverloren fuhr ich durch die Stadt. Ich hatte kein Ziel vor Augen und irrte nur verzweifelt umher, ohne zu wissen, wohin, wieso, weshalb…

Ich war schon kurz davor aufzugeben, nach Hause zu fahren und das alles einfach wieder zu vergessen.
Während ich an einer roten Ampel stand, ließ ich meinen Blick schweifen. Meine Augen wanderten an dem Supermarkt vorbei, in dem ich am Wochenende immer einkaufen ging.

Mir fiel ein, dass hier auch eines der Fotos auf dem Handy entstanden sein musste… konnte der Hinweis etwas mit dem Laden zu tun haben? Als ich mir diese Frage stellte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Die Autos hinter mir begannen zu hupen. Kein Wunder, denn die Ampel hatte schon längst auf grün umgeschaltet, ich war nur zu sehr in meine Gedanken versunken. Ich riss das Lenkrad herum und wechselte auf die Abbiegespur, was ein weiteres Hupkonzert nach sich zog. Schnurstracks steuerte ich den Einkaufsmarkt an.

In dem Geschäft rannte ich förmlich durch die Gänge in Richtung Kühlregal.

Dort angekommen stand ich aber dann vor dem nächsten Rätsel. Den Ort, an dem man sogar frösteln musste, wenn es draußen warm war, hatte ich gefunden, aber was zur Hölle war mit Früchten und Farben gemeint?

Hektisch suchte ich nach etwas, worauf die Beschreibung passte. So kam ich nicht weiter, ich musste systematischer vorgehen.

Der oder die Unbekannte kannte mich allem Anschein nach sehr gut, wusste, wo ich arbeitete, Sport trieb und einkaufte. Womöglich wusste er auch, was ich regelmäßig einkaufte.

Meine Augen klapperten das Regal ab. Wurst, Käse, Butter, Milch… Joghurt! Klar, Früchte, mein Lieblingsjoghurt!

Ich begab mich zur Joghurtauswahl und hielt Ausschau nach etwas Auffälligem oder Ungewohntem. Und tatsächlich sah einer der Joghurtbecher aus, als wäre er bereits geöffnet worden. Ich hob ihn an und der Deckel war wirklich nicht mehr komplett verschlossen. Bevor ich den Becher ganz öffnete, sah ich mich zuerst um, um sicher zu gehen, dass ich nicht zu sehr auffiel durch mein merkwürdiges Verhalten.

Als die Luft rein war, wagte ich einen Blick in das Innere des Behälters. Ich zog eine kleine Plastiktüte aus dem Joghurt heraus, in der wieder ein kleiner Zettel versteckt war.

Auf dem Stück Papier fand ich diesmal eine Telefonnummer. Ich behielt den Zettel in meiner Faust, stellte den Joghurtbecher zurück ins Regal und verließ den Supermarkt auf kürzestem Wege.

Im Auto angekommen wählte ich die angegebene Handynummer, mein Herz schlug schneller und meine Hände schwitzten.

Nach einem Freizeichen knackte es einmal in der Leitung, als ob eine Mailboxaufnahme abgespielt wurde und eine verzerrte Stimme begann zu sprechen:

Dr. Lothschütz… wie ich sehe, haben Sie also meine bisherigen Rätsel alle gelöst. Wie schön, dass Sie soweit gekommen sind. Nun erhalten Sie Ihre nächste Aufgabe. Ich verspreche Ihnen, sobald Sie diese gemeistert haben, wird es nicht mehr lange dauern, bis wir uns gegenüberstehen. Ich kann es kaum erwarten, geht es Ihnen genauso? Dann hören Sie mir jetzt gut zu: Ich möchte, dass Sie sich an einem Ort einfinden, den sie schon unzählige Male in Ihrem Leben besucht haben. Der Ort ist Ihnen sehr vertraut – Sie haben hier sowohl gemütliche Nachmittage mit Freunden und Familie als auch romantische Dates verbracht. Ich denke, Sie wissen, von welcher Örtlichkeit ich spreche. Man wird Sie dort bereits erwarten.

Es tutete in der Leitung. Nachdem die Verbindung abgebrochen war, führte ich direkt eine Wahlwiederholung durch. Die gleiche Aufnahme wurde ein weiteres Mal abgespielt. Noch einmal rief ich die Nummer an, in der Hoffnung, an der Stimme oder der Sprache der Person irgendetwas Vertrautes erkennen zu können. Doch dieses Mal bekam ich nur ein „Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist vorübergehend nicht erreichbar“ zu hören.

Mist! Wütend warf ich mein Handy auf den Beifahrersitz. Wer bist du?!

Ich hatte keine Lust auf diese Spielchen, aber es war wohl zu spät, um damit aufzuhören, ich war schon mittendrin. Und mittlerweile kam ich mir vor wie bei einer verdammten Schnitzeljagd! Nur dass mich voraussichtlich am Ende nichts Erfreuliches erwarten würde…

Aber ich hatte die Vorgehensweise durchschaut. Dieses Mal fiel es mir nicht schwer, den Ort zu ermitteln, wo der Typ mich hinlocken wollte. Alles begann am Krankenhaus, meiner Arbeitsstelle und er schickte mich danach an weitere Orte, die in meinem Alltag eine Rolle spielten und die zudem auf den Fotos zu sehen waren, die sich auf dem gefundenen Smartphone befanden.

Schnell war mir klar, dass ich mich auf den Weg zu meinem Stammcafé machen musste.

Ich hatte mich für einen Tisch im Freien auf der großzügigen Terrasse entschieden. Wenigstens konnte ich hier ein bisschen die Sonne genießen.

Zeit zum Abschalten blieb mir jedoch nicht. Noch bevor ich die Getränkekarte aufschlagen konnte, stand die freundliche, junge Kellnerin schon mit einer Tasse Cappuccino neben mir.

Aber ich habe doch noch gar nichts…“ … bestellt, wollte ich noch sagen, da stand das Heißgetränk schon vor mir auf dem Tisch und die Bedienung unterbrach meinen Satz mit einem „Bitteschön, Herr Lothschütz, das Übliche.“

Okay, ich war wirklich oft hier und meine Gewohnheiten sind hier altbekannt. Doch unter den momentan gegebenen Umständen fand ich die Tatsache ein wenig unheimlich, dass mir einfach etwas vor die Nase gesetzt wurde…

Mit einer unauffälligen Handbewegung schob die Dame mir auf dem Tisch einen Umschlag zu und fügte hinzu: „Der hier wurde hier für Sie abgegeben.“

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verschwand wieder im Innern des Cafés.

Gedankenverloren drehte ich den Umschlag in meinen Händen hin und her. Wollte ich den Inhalt überhaupt genauer in Erfahrung bringen? Die gesamte Situation, dieses Spiel, wenn es denn eines war, wuchs mir so langsam über den Kopf und die Ungewissheit, was mich am Ende dieser Schnitzeljagd erwartete, beunruhigte mich zutiefst. Dennoch würde ich höchstwahrscheinlich wohl keine Ruhe finden, wenn ich dieses Spiel nicht zu Ende spielte. Und dafür musste ich die Regeln des Spielemachers befolgen und in Erfahrung bringen, was in dem neuen Kuvert zu finden war.

Widerstrebend öffnete ich es und zog mehrere Fotos heraus. Die Bilder zeigten einen Jungen, höchstens 18 Jahre alt. Er lag in einem Krankenbett, vermutlich in einer Klinik, und war durch Schläuche an mehrere Geräte angeschlossen. Von Foto zu Foto konnte man förmlich spüren, wie sein Zustand sich verschlechtert haben musste. Auf den letzten Aufnahmen musste er sogar beatmet werden.

Ich hatte diesen Jungen noch nie zuvor gesehen und konnte ihn nicht zuordnen.

Zwischen den Fotos fiel noch ein Stück Papier heraus. Ich klappte dieses auf und las die dazugehörige Nachricht:

Du kennst diesen jungen Mann auf den beiliegenden Fotos augenscheinlich nicht. Als Arzt wirst du aber sehr wohl erkennen können, wie schlecht es um ihn zu diesem Zeitpunkt stand. Was würdest du tun, wenn du diesem jungen Menschen helfen könntest, seine Krankheit zu überleben?

War das eine rhetorische Frage? Ich wusste nicht, woran dieser Junge litt, aber es stand außer Frage, was es für einen Arzt in dieser Situation zu tun galt.

Empört las ich weiter.

Wenn du wissen willst, wie seine Geschichte ausging, dann befolge die nachfolgenden Anweisungen.

Diesmal ohne große Umschweife, denn wie sagt man so schön „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Ich glaube, ich habe dich lange genug auf die Folter gespannt.

Komme zur Beethovenstraße 23, sobald du deinen Cappuccino mit Milch ausgetrunken hast. Ich warte auf dich.

K.

Eilig schlang ich den Rest meines Cappuccinos herunter, hinterließ 2,50 € plus Trinkgeld auf dem Tisch und machte mich zu Fuß auf den Weg zum genannten Ort.

In der Beethovenstraße 23 stand ich vor einer Baustelle. Ein Erweiterungsbau mit Büronutzung für die Hauptfiliale einer großen Bank hier in der Stadt, der Keller des ehemaligen Gebäudes wurde erhalten und die anderen Geschosse neu aufgebaut – das wusste ich von meiner Exfreundin Sophie. Das Architekturbüro, in dem Sie arbeitete, betreute das Projekt. Die genaue Adresse war mir nicht bekannt, aber sie hatte mir einmal über das Bauvorhaben berichtet.

Ich trat an den Baustellenzaun heran und warf einen Blick zum Gebäude. Alles wirkte menschenleer, was kaum verwunderlich war, da schon reichlich Zeit vergangen sein musste und die Bauarbeiter sich bereits längst im wohlverdienten Feierabend befanden. Es fing schon leicht an zu dämmern, so viel Zeit hatte ich bereits mit der Suche nach Antworten verbracht.

Auch als ich die Baustelle einmal umrundet hatte, begegnete mir keine Menschenseele.

Ich entdeckte eine lückenhafte Stelle im Bauzaun und friemelte mich hindurch, natürlich erst nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mich keiner beobachtete.

Vorsichtig bewegte ich mich zu dem Bau hin.

Im hinteren Bereich fand ich eine offene Kellertür. Wenn das keine Einladung war… das musste mein Hinweis sein.

Vorsichtig und leise betrat ich das Gebäude und schaute mich um. Ich befand mich in einem langen Flur, von dem zahlreiche Türen rechts und links abgingen, die aber alle verschlossen waren. Ganz im Gegensatz zu der Tür ganz am Ende des Ganges, die mir wohl meinen weiteren Weg zeigte.

Ich passierte den Durchgang und stand in einem stockdunklen Raum. An der Wand neben mir tastete ich blind nach einem Lichtschalter und wurde fündig. Mit einem Flackern und dem typischen Geräusch gerieten die Leuchtstoffröhren an der Decke in Gang.

Der Raum, in dem ich stand, war nicht sonderlich groß, die Wände waren mit Bildern in verschiedenen Größen behangen. Es handelte sich um die gleichen Fotos, die ich in dem letzten Umschlag des Verrückten fand, in jeweils mehrfacher Ausführung. Auch der Boden war teilweise damit übersät.

In Großbuchstaben und in signalrot war das Wort „MÖRDER“ an eine der Wände gesprüht. Galt dieser Vorwurf mir? Ich war Arzt! Ich rettete Leben und wenn mir das nicht gelang, dann nicht aus böser Absicht… und selbst wenn einem Arzt mal ein Behandlungsfehler unterlief, konnte man ihn noch lange nicht als Mörder bezeichnen.

Außerdem kam mir der Junge nicht bekannt vor… ich wusste nicht, was ich mit ihm zu tun haben sollte. Er war niemals mein Patient, ich wusste nicht, woran er litt. Ich wusste noch nicht einmal, ob er noch am Leben war…

Doch bevor ich Zeit hatte, mir noch länger den Kopf darüber zu zerbrechen, spürte ich einen Schlag auf meinem Hinterkopf und mir wurde schwarz vor Augen.

Starr vor Schreck stand ich da. Mir war immer noch speiübel.

Da hing sie, Sophie, meine große Jugendliebe, an Ketten aufgehängt, auf ihrer eigenen Baustelle, mit einem Loch in der Brust.

Herr Dr. Lothschütz“, hörte ich eine Männerstimme sagen. Diese drang jedoch nur wie durch Watte in mein Ohr. Ich war unfähig zu antworten, unfähig mich zu bewegen und auch unfähig zu weinen, obwohl mir eindeutig danach zumute war. Ich war ebenso unfähig, meinen Blick von der Horrorszenerie abzuwenden.

Endlich lernen wir uns mal kennen.“ Die Freude war ganz meinerseits…

Aus dem Dunkel trat ein Mann hervor, nicht besonders groß gewachsen, dunkle Haare, Bart, eventuell türkischer Abstammung.

Mein Name ist Karim Atalay“, fuhr er fort. „Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie.“

Was wollen Sie von mir?“, brach es aus mir heraus.

Ich bin auf der Suche nach Gerechtigkeit. Sie haben vor einigen Jahren einen schweren Fehler begangen, auf den ich bei meinen Nachforschungen gestoßen bin.“ Er kam langsam auf mich zu. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie momentan noch nicht verstehen, wovon ich rede. Aber ich gebe Ihnen gerne einen kleinen Tipp. Der Fehler hat etwas mit ihrer süßen Freundin hier zu tun.“
„Exfreundin…“, stieß ich hervor. Sophie und ich waren seit mehreren Jahren getrennt. Wir waren im Guten auseinander gegangen, hatten zwar nicht mehr übermäßig viel Kontakt, aber schrieben uns doch regelmäßig Nachrichten an Geburtstagen oder Weihnachten. Deshalb wusste ich auch über ihr Bauprojekt Bescheid, auf das sie sehr stolz war, da es ihre erste, eigene, größere Planung war.

Wir wurden in der 10. Klasse ein Paar und hatten zusammen das Abitur durchgestanden. Während unserer Studienzeit führten wir eine Fernbeziehung, da sie zum Studieren nach Weimar ging. Es war nicht einfach, aber wir glaubten, das zu schaffen. Als sie jedoch nach Abschluss ihres Studiums wieder zurückkam und wir auf Dauer zusammenwohnten, stellten wir fest, dass wir uns doch sehr auseinander gelebt hatten, während dieser Phase, in der wir mehr getrennt als beisammen waren. Deshalb hatten wir uns schweren Herzens aber einvernehmlich dazu entschlossen, unsere Beziehung zu beenden.
Wir hatten schöne Zeiten und Sophie war nach wie vor ein wichtiger Teil meines Lebens, weshalb es mir jetzt auch sehr nahe ging, sie so zu sehen.

Na schön, Exfreundin. Aber Sie haben schon sehr viel für sie getan, hab ich Recht?“

Wir hatten uns geliebt, natürlich tat ich viel für sie und unsere Beziehung.

Aus Liebe tut man manchmal schlimme Dinge. Wissen Sie, Herr Doktor, es gab auch Menschen in meinem Leben, die ich über alles geliebt habe. Mir wurde nur leider die Chance genommen, meine Lieben jeden Tag bei mir zu haben. Mein Sohn, Yunus, war gerade mal 17 Jahre alt, als er sterben musste…“

Das ist schrecklich, das verstehe ich, aber was habe ich damit zu tun?“, keuchte ich, immer noch atemlos.

Oh, Sie haben mehr damit zu tun, als sie jetzt vielleicht denken mögen“, antwortete er. „Mein Sohn war schwer herzkrank, seit er ein kleines Kind war. Mit den Jahren wurde es immer schlimmer und kurz nachdem er 16 Jahre alt wurde, ging es mit ihm steil bergab. Es grenzt schon beinahe an ein Wunder, dass er überhaupt so lange durchhielt. Aber er war eine Kämpfernatur und er wollte weiterleben. Irgendwann war klar, dass er ohne ein geeignetes Spenderorgan nicht mehr lange überleben konnte. Uns blieb nichts anderes übrig als abzuwarten. Aber der erlösende Anruf kam nicht…“ Der Mann hielt kurz inne, vermutlich um sich zu sammeln. Es war bestimmt nicht einfach für ihn, über dieses schwere Schicksal seines Kindes zu sprechen. Er räusperte sich einmal kurz und redete dann weiter: „Und so kam es, wie es kommen musste, und er verließ unsere Welt für immer. Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie schwer das für uns als Eltern zu verkraften war. Unser einziges Kind starb und wir konnten nichts tun, um ihm zu helfen. Er hatte sein ganzes Leben noch vor sich, wollte einmal Fußballprofi werden. Weiß Gott, ob ihm das gelungen wäre, aber er bekam nie die Chance, es zu versuchen. Meine Frau distanzierte sich danach immer mehr von mir, sie kam mit der Situation einfach nicht klar. Ich hätte ihr so gerne geholfen, ich versuchte ihr beizustehen, für sie stark zu sein, aber sie ließ mich einfach nicht mehr an sich heran. Eines Tages fand ich sie mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne… sie ertrug den Schmerz nicht mehr länger und ich hatte nun nicht mehr nur meinen Sohn verloren…“

Ich sah ihn an und empfand ehrliches Mitleid. „Hören Sie, das tut mir sehr Leid, was mit Ihrer Familie passiert ist. Aber ich verstehe immer noch nicht, was ich damit zu tun haben soll.“

Sein Gesichtsausdruck wechselte von neutral zu wütend. So ruhig er die ganze Zeit über vorher mit mir gesprochen hatte, so aufgebracht wurde er jetzt. „Sie haben sie mir doch genommen!“, schrie er schon fast. „Viel später erst, nachdem ich nicht locker ließ, habe ich erfahren, dass eigentlich ein passendes Spenderherz für Yunus zur Verfügung stand. Es war für ihn bestimmt, uns hat nur leider niemand informiert, weil das Herz nämlich unberechtigterweise an eine andere Person ging…“

Ich sah von ihm zu Sophie und wieder zurück zu ihm. Plötzlich wurde mir alles klar. Er hatte Recht, ich hatte vor langer Zeit einen Fehler gemacht. Aber ich hatte es aus Liebe getan…

Sophie hatte ebenfalls einen angeborenen Herzfehler, der sie jedoch nie wirklich beeinträchtigt hatte. Wie das aber mit Krankheiten so ist, kann man nie vorhersehen, ob und wie lange das noch so bleibt. Eines Tages bekam sie Probleme mit dem Herzen. Der Prozess begann schleichend, doch nach mehreren Monaten der langsamen Verschlechterung landete sie schließlich doch im Krankenhaus. Es waren immer nur kurze Aufenthalte und mit Medikamenten behielt man die Sache gut im Griff. Als damals angehender Arzt wusste ich aber, wohin das schlussendlich führen würde, egal wie lange es noch dauern mochte. Früher oder später wäre es um Leben und Tod gegangen, wenn man nicht rechtzeitig ein Spenderorgan erhalten hätte. So weit wollte und konnte ich es nicht kommen lassen, ich liebte diese Frau! Und so beging ich meine einzige illegale Handlung, die ich in meinem Leben je begangen hatte. Ich bestach meinen damaligen vorgesetzten Oberarzt, damit er das Spendeverfahren manipulierte und für Sophie das nächstmögliche, passende Herz quasi beiseite schaffte und sie operierte. Das musste wohl das Herz gewesen sein, das eigentlich für Yunus bestimmt war…

Es tut mir Leid…“, flüsterte ich. Ich schleppte dieses Geheimnis seitdem mit mir herum und erzählte niemandem davon. Selbst Sophie wusste nichts davon, dass sie ein Herz in sich trug, das wir einem anderen Menschen weggenommen hatten… einerseits bereute ich meine Tat, seit ich sie begangen hatte – andererseits hatte ich damit Sophies Leben gerettet.

Es tut Ihnen also Leid…“, fing Karim an. „Schön, davon werden meine Frau und mein Kind auch nicht mehr lebendig.“ Er kam auf mich zu und zeigte in Richtung des leblosen Körpers von Sophie. „Sie wusste nicht, was sie verbrochen haben, damit sie weiterleben durfte, hab ich Recht?“

Ich schüttelte den Kopf und sah beschämt zu Boden. Nein, sie hätte es auch nicht für gut geheißen, wenn sie davon erfahren hätte…

Der Zustand meines Sohnes war so kritisch, dass er unter der Dringlichkeitsstufe High Urgency gemeldet wurde. Er stand auf der Transplantationsliste ganz oben, er wäre der Erste gewesen, der das Organ hätte bekommen müssen, wenn es passend gewesen wäre und im geeigneten räumlichen Umkreis zur Verfügung gestanden hätte. Und stattdessen nehmen sie es ihm weg und geben es Ihrer Freundin, die es weitaus nicht so drigend benötigte wie er. Sie hatte noch Zeit im Gegensatz zu meinem Sohn…“

Ich fragte mich kurz, woher er diese ganzen Informationen hatte. Auf legalem Wege konnte er diese nämlich auf keinen Fall erhalten haben, aber im Prinzip war das auch jetzt nicht mehr wichtig.

Hinzu kommt noch, dass Yunus Fall unter die besonderen Vergaberegeln für bestimmte Personengruppen fiel. Schwerkranke Kinder haben bei der Vermittlung Vorrang und er war zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig. Ihre Freundin hingegen war schon Mitte zwanzig. Was ist mit dem Eid, den man als Arzt leisten muss? Davon halten sie anscheinend nicht viel.“ Er sprach höchstwahrscheinlich vom hippokratischen Eid und wusste nicht, dass dieser schon vor langer Zeit durch eine zeitgemäße Fassung ersetzt wurde und dass man auch heutzutage nicht mehr dazu verpflichtet war, diesen bei seiner Zulassung aufzusagen. Allerdings hatte er vollkommen Recht, dass man als Arzt eine gewisse Verantwortung gegenüber seinen Patienten hatte. Und wenn man diese Verantwortung verletzte, konnte man seine Approbation verlieren. Ich bekannte mich schuldig. Was ich getan hatte, war nicht zu entschuldigen und es gab nichts, was ich sagen konnte, das diesem Mann sein Leid erleichterte. Also blieb ich stumm und sah ihn hilflos an.

Du warst egoistisch und wolltest deiner Liebsten um jeden Preis ein neues Leben schenken und dafür hättest du alles getan… Dafür hast du andere Identitäten einfach so zerstört, meine Identität, die meines Sohnes, meiner Frau, meine ganze Familie hast du ausgelöscht… und dafür wirst du jetzt endlich bezahlen.“

Ich hatte nicht wirklich realisiert, dass er bei meiner Anrede vom Sie zum du gewechselt war. Viel zu beschäftigt war mein Kopf mit anderen Gedanken.

Deswegen habe ich herausgefunden, wer du bist, wo du arbeitest. Ich habe dich beobachtet, um deinen alltäglichen Tagesablauf rekonstruieren zu können. Ich wollte Rache, du solltest genauso leiden wie ich es tue. Dich einfach zu töten, wäre zu einfach gewesen. Ich brauchte jemanden, der dir wichtig war. Mit deiner Freundin hier hatte ich dann auch leichtes Spiel. Jeden Tag nach Feierabend machte sie einen kurzen Abstecher hierher, um auf der Baustelle nach dem Rechten zu sehen. Sie war immer alleine hier, weshalb es kein Problem für mich war, sie abzufangen. Auch wenn sie nichts für deine Tat konnte, ja noch nicht einmal etwas davon ahnte, musste sie leiden. Damit du leidest. Und zudem trug sie das Herz in der Brust, das meinem Jungen zustand. Diesen Gedanken konnte ich nicht ertragen…“ Er wandte seinen Blick von mir ab und betrachtete stattdessen sein Werk, das da von der Decke hing. „Ich musste das tun und ich denke, du wirst wohl Verständnis dafür aufbringen müssen. Du hast nicht nur mein Kind ermordet, du hast ebenso meine Frau auf dem Gewissen. Damit hast du mir mein Herz herausgerissen…“ Wie passend, dass das Herz auch zufällig genau das Organ war, mit dem Sophie von einem anderen Menschen ein neues Leben geschenkt bekommen hatte. Und was für eine Ironie des Schicksals war es nun, dass ihr genau dieses Körperteil wieder von diesem Psychopathen entrissen wurde…

Ihre Schreie, als ich anfing, ihr die Brust aufzuschlitzen, waren zwar kaum zu ertragen, aber der Gedanke an meine Familie hat mich bestärkt und mich nicht schwach werden lassen.“ Sie hat noch gelebt, als er sie verstümmelt hat?! Mein Gott, was musste mein Mädchen für Qualen durchlaufen haben kurz vor ihrem Tod…

Du krankes Schwein!“, brüllte ich und ging auf ihn los. Es war, als hätte ich mit einem Mal meine Kraft wiedergefunden.

Er stieß mich weg und ich stolperte zu Boden. „Damit kommst du nicht durch!“

Und wie ich damit durchkommen werde. Ich werde Sie jetzt gleich hier fesseln, die Polizei anrufen und verschwinden, bevor diese hier auftaucht. Vorher werden Sie jedoch noch ein Geständnis ablegen, das ich aufnehmen und der Presse morgen zuspielen werden, damit jeder erfährt, was sie getan haben“, sprach er nun wieder mit ruhiger Stimme.

Damit kommst du nicht durch!“, rief ich noch einmal, eher um mich selbst zu überzeugen als ihm damit zu drohen.

Selbst wenn, Herr Lothschütz“, entgegnete er. „Was habe ich zu verlieren? Ich habe nichts mehr, was mein Leben lebenswert machen würde. Wenn die mich erwischen und wegsperren, kann ich gut damit leben, weil ich weiß, dass ich Sie zur Strecke gebracht habe. Vielleicht informiere ich die Polizei ja auch noch gar nicht und lasse Sie hier noch ein paar Stunden länger den Anblick genießen.“

Er zog eine Digitalkamera aus der hinteren Tasche seiner Hose und richtete sie auf mich.

Alle meine Kräfte waren wieder geschwunden und ich war nicht mehr in der Lage, mich zu wehren. Erschöpft ließ ich seinen Monolog über mich ergehen, in dem er berichtete, was ich verbrochen hatte. Ich wollte einfach nur, dass die Schmerzen aufhörten, die ich jetzt wieder in meinen Gliedern spürte. Und ich wollte diese Bilder einfach vergessen. Ich hatte diesen Raum hier noch nicht einmal verlassen und wusste schon, dass mich dieses Szenario vermutlich mein ganzes weiteres Leben begleiten würde. Schon wenn ich jetzt die Augen schloss, sah ich den Horror vor mir. Diese Bilder werden mich für immer verfolgen.

Ist es nicht so, Dr. Lothschütz?“

Ich sah in die Kamera und nickte schwach. „Ja… es ist wahr. Alles, was er sagt, stimmt“, beantwortete ich seine Frage widerstandslos. „Was ich getan habe, ist nicht zu entschuldigen. Wegen mir musste ein unschuldiger Mensch sterben… ich werde nie wieder als Arzt arbeiten.“

Mit einem Piepen wurde die Aufnahme beendet und Karim ließ die Kamera mit einem „Sehr schön“ wieder in seiner Hose verschwinden.

Mit Kabelbindern fesselte er meine Hände an eines der vorhandenen Heizungsrohre an der Wand und prüfte noch einmal, ob sie fest genug saßen, bevor er sich umdrehte und ging. „Machen Sie es gut“, sagte er noch, zog seinen nicht vorhandenen Hut und weg war er. Die Stahltür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss.

19.03.2020

Skandal um Oberarzt – Rätselhafter Leichenfund

Wie tief ist er in den Fall verwickelt?

Der bekannte Oberarzt Dr. Alexander Lothschütz scheint in einen mysteriösen Mordfall verwickelt zu sein. Am frühen Donnerstagmorgen fanden Bauarbeiter eine Frauenleiche im Untergeschoss einer Baustelle. Es handelt sich bei der Toten um Sophie R., die Exfreundin des Arztes. Der Fall wirft einige Rätsel auf.

Am Tatort wurden bis auf die Verstorbene und einige Kabelbinder, die vermutlich als Fesselmaterial genutzt wurden, keine weiteren Beweise gefunden. Umso grausamer stellte sich die perverse Szenerie dar. Was ist mit der jungen Frau geschehen und warum musste sie sterben?

Uns wurde ein anonymer Hinweis zugespielt. Ein unbekannter Mann erzählt in einem Video, der Arzt habe vor einigen Jahren eine Herztransplantation unter illegalen Umständen arrangiert. Das Herz, das eigentlich für einen schwerkranken Patienten vorgesehen war, wurde seiner damaligen Freundin Sophie R. gespendet. Dazu passt, dass der Toten, die in Ketten gehängt aufgefunden wurde, das Herz herausgeschnitten wurde. Auch Dr. Lothschütz selbst bestätigt die Geschichte dieser Person hinsichtlich der manipulierten Organspende am Ende des Videos. Sofern diese Vorwürfe tatsächlich der Wahrheit entsprechen, wird ihn das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seine Zulassung als Arzt kosten.

Handelt es sich bei der Tat um einen Racheakt aufgrund der vergangenen Ereignisse? Hat der renommierte Arzt noch mehr dunkle Geheimnisse?

Wer der fremde Mann ist, dessen Stimme auf dem Video zu hören ist, ist derzeit noch nicht bekannt. Ebenso ist unklar, was genau in dem Keller vorgefallen ist und wer die Frau getötet hat. Von den beiden Männern fehlt bisher jede Spur. Die Polizei ermittelt.

4 thoughts on “Schnitzeljagd

  1. Wie schön! Eine Geschichte mal in einem ganz anderen Stil! Das war fast schon erfrischend zu lesen! Mir gefällt dein Schreibstil auch sehr gut! Auch wenn das Ende offen ist, hat es mich allerdings nicht so umgehauen… der Anfang und der hauptteil waren dafür wirklich bombe! Dran bleiben!:)

  2. Hallo Fanny3593,

    “Sie haben Ihr Ziel erreicht” mal anders – gute Idee !
    Du hast gute Einfälle und sicher auch Freude am Schreiben ; bleib dran!
    Vielleicht das eine oder andere Füllwörtchen streichen, um die Spannung zu erhöhen, aber mein Herz hast du!
    Liebe Grüße,
    Katharina

Schreibe einen Kommentar