PossenreisserSchülersprechstunde

Der Parkplatz lag verlassen da, nur von zwei Straßenlaternen notdürftig erhellt. Ein Wagen rollte knirschend über den Kies, ehe der Motor abgestellt wurde. Der Fahrer blieb für einen Moment regungslos sitzen.

Ihm war immer noch nicht klar, was genau schiefgegangen war – aber dass irgendwas schiefgegangen war, stand außer Frage. Das Mädchen hätte diese Fotos niemals finden dürfen. Finden können. Aber sie hatte sie, und er würde herausbekommen, woher, bevor sie damit irgendwelchen Unsinn anstellte.

Kein anderer Wagen auf dem Parkplatz, aber an einem baufälligen Holzzaun, der den Parkplatz gegen den Acker abgrenzte, lehnte ein Fahrrad. Das des Mädchens? Das konnte bedeuten, dass die „Journalistin“ noch nicht hier war.

Mit anderen Worten, noch war Zeit, um die Situation zu bereinigen.

Er vergewisserte sich unnötigerweise, dass er das Handy des Mädchens in der Hosentasche hatte. Sein eigenes lag auf dem Beifahrersitz, daneben Akku und SIM-Karte, die er vorhin in der Stadt entfernt hatte. Die Pistole war deutlich zu spüren, ein beruhigendes Gewicht im Halfter unter seinem Jackett.

***

Das Handy lag in der Mädchenumkleide, in der Ecke hinter dem Papierkorb, leicht zu übersehen. Wahrscheinlich war es seiner Besitzerin unbemerkt aus der Tasche gerutscht und dann mit einem unvorsichtigen Schritt in die Ecke gekickt worden. Dort hätte es das ganze Wochenende über liegen können, wäre da nicht Webers Angewohnheit gewesen, nach jeder seiner Sportstunden die Sporthalle und alle angrenzenden Räume noch einmal durchzusehen. Als Sportlehrer war das zwar nicht ausdrücklich seine Aufgabe, aber er empfand es doch als seine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass er alles ordentlich hinterließ.

Das Handy steckte in einer Plastikhülle mit einer Comicfigur darauf, irgendein Gesicht mit übergroßen Augen und bunten Haaren. Es gab nicht eben wenige Schüler, die von japanischen Mangas fasziniert waren, wobei Weber das eher im Kunstunterricht auffiel, seinem zweiten Fach, als in Sport. Immerhin brachte es ein paar Kids dazu, sich mit Gestaltung und Zeichnen auseinanderzusetzen.

Er schob das Handy in die Hosentasche, um es gleich im Sekretariat abzugeben. Die Besitzerin konnte es sich dann am Montag dort abholen.

Weber holte seine Tasche aus der Lehrerumkleide, ehe er die Umkleideräume und die Sporthalle abschloss und sich auf den Weg zum Lehrerzimmer machte. Nur noch ein bisschen Papierkram, dann war Wochenende. Er überquerte den Schulhof und betrat das schon nachmittäglich stille Schulgebäude. Am Fuß der Treppe grüßte ihn Kollege Nowak, einer der anderen Kunstlehrer. „Herr Weber, hätten Sie kurz?“

„Sicher, ich…“, fing Weber an, als das Handy in seiner Hosentasche zu vibrieren begann.

„Ach, gehen Sie ruhig dran, das hat auch noch Zeit bis Montag“, sagte Nowak gutgelaunt und machte Anstalten weiterzugehen.

„Nein, das ist nicht… Moment.“ Weber zog das Handy aus der Tasche, um den Anruf abzulehnen und so das Summen abzustellen – und erstarrte fast, als er auf dem Sperrbildschirm nicht etwa eine weitere Mangafigur sah, sondern ein Foto von einer Gruppe Männer. Er selbst ganz links, dann Miller, Dietz, Lehmann, die beiden Borowskis. Seine Kameraden, im Hintergrund hellbraune Hügel.

Hastig drückte er den Anruf weg und steckte das Handy wieder ein, ehe Nowak vielleicht einen Blick auf das Gerät erhaschen konnte. Und Fragen stellte.

Doch der war schon weitergegangen. „Schönes Wochenende“, wünschte er, ohne sich nochmal nach Weber umzudrehen.

„Gleichfalls“, sagte Weber abwesend. Er starrte den dunklen Bildschirm des Handys an.

Die Neugier war übermächtig. Weber eilte die Treppe hinauf und in die Lehrertoilette – er war nicht unvorsichtig genug, mitten im Treppenhaus auf dem Handy einer Schülerin herumzudrücken. Wahrscheinlich war das Ding ohnehin mit einer PIN geschützt.

Weber schloss sich in einer der Kabinen ein und drückte die Powertaste. Keine PIN – zum Entsperren musste man nur über den Bildschirm wischen, der nach wie vor das Gruppenbild zeigte. Er kannte es natürlich; es war ein uraltes Erinnerungsfoto, lange vor seiner Zeit als Lehrer aufgenommen. Die eigentliche Frage aber war doch, wie diese Schülerin an dieses Foto gekommen war, und warum es auf ihrem Sperrbildschirm angezeigt wurde.

Der Hintergrund der Startseite zeigte dasselbe Foto. Weber überlegte kurz und tippte dann auf die erstbeste von drei verschiedenen Messenger-Apps. In der App wurde er fündig –  im Profil stand der Name des Mädchens.

Weber kannte sie. Melanie Sonntag, elfte Klasse, still, fast schon krankhaft schüchtern, stellte sich weitgehend untalentiert in seinem Sportunterricht an. Vor ein paar Jahren hatte er Melanie Sonntag auch mal in einer Kunstklasse gehabt, aber er erinnerte sich nicht mehr an Details. Kein Wunder, die stillen, schüchternen Schüler vergaß man schnell.

Auf jeden Fall musste er mit dem Mädchen reden. Das Foto konnte sie kaum bei Google gefunden haben. Also – woher hatte sie dieses Foto?

Die Elfte hatte er vorhin in der dritten Stunde unterrichtet, und Weber war sich ziemlich sicher, dass Melanie Sonntag gefehlt hatte. Oder war das letzte Woche gewesen? Zum Glück ließ sich das leicht im Klassenbuch nachprüfen.

Weber steckte das Handy wieder ein und ging ins Lehrerzimmer. Wenn er Glück hatte, war Kollegin Schulz-Naumann, die Klassenlehrerin der fraglichen Elften, schon gegangen, und er konnte sich das Klassenbuch einfach aus dem Regal holen.

Frau Schulz-Naumann saß mit einer großen Tasse Tee vor einem Stapel Hefte, das Klassenbuch neben sich.

„Entschuldigen Sie, ist das das Klassenbuch für die 11c?“

Schulz-Naumann sah kaum auf. „Sicher, Herr Weber, nehmen Sie sich’s nur.“

„Danke.“ Er nahm das Klassenbuch und blätterte zum heutigen Datum. Seine Erinnerung erwies sich als korrekt – ein Kollege hatte Melanie Sonntags Fehlen in der zweiten Stunde vermerkt, und Weber und alle folgenden Kollegen hatten jeweils die Abwesenheit ergänzt. Das Mädchen war den Rest des Tages nicht mehr zum Unterricht erschienen.

Bedeutete das, dass das Handy seit der letzten Sportstunde am Dienstag dort in der Ecke gelegen hatte? Oder hatte das Mädchen die Schule verlassen und dann noch schnell das Handy in der Umkleide verloren? Das ergab wenig Sinn.

„Entschuldigen Sie nochmal, Frau Schulz-Naumann.“ Die Kollegin blickte auf. „Vorhin fehlte Melanie Sonntag unentschuldigt in meiner Stunde. War sie bei Ihnen in der ersten Stunde noch da?“

Schulz-Naumann nickte. „Ja, Melanie Sonntag war anwesend. Ich habe einen Test schreiben lassen, da wäre es mir aufgefallen.“ Sie runzelte die Stirn. „Vielleicht ging es ihr nicht gut.“

„Aber abgemeldet hat sie sich nicht“, stellte Weber fest.

„Nicht bei mir.“ Sie zuckte die Achseln. „Naja, Sie wissen ja, wie die Schüler sind. Ich denke nicht, dass wir uns wegen eines Schultages Sorgen machen müssen.“

„Wahrscheinlich haben Sie Recht.“ Kollegin Schulz-Naumann nickte erneut und wandte sich wieder ihren Korrekturen zu. Weber nutzte die Gelegenheit und blätterte durch das Klassenbuch, nach vorne zur Adressliste. Er prägte sich die Adresse ein und legte das Klassenbuch zurück. „Schönes Wochenende, Frau Schulz-Naumann.“

„Danke, danke, Ihnen auch“, murmelte Schulz-Naumann.

Den Papierkram konnte er auch noch am Wochenende erledigen. Wichtiger war jetzt, mit einer gewissen Schülerin ein ernstes Wörtchen zu reden. Nicht dass es besonders ratsam war, das Mädchen zu Hause aufzusuchen; wahrscheinlich müsste er stattdessen die Schulleitung informieren. Aber solange noch Gelegenheit dazu war, wollte er diese Geschichte lieber auf dem kurzen Dienstweg klären.

***

Er musste dreimal klingeln, ehe der Türöffner summte. Im zweiten Stock schielte ein verschlafenes Frauengesicht hinter der einen Spaltbreit geöffneten Tür hervor.

Weber stellte sich vor. „Ist Melanie da?“

„Müsste gleich aus der Schule kommen.“ Die Mutter war offensichtlich zu verschlafen, um sein Hiersein in Frage zu stellen. „Ich hab diese Woche Nachtschicht, da seh ich nicht viel von meiner Tochter. Sie ist morgens in der Schule und ich abends in der Klinik.“ Die Mutter gähnte. „Was ist denn?“

„Melanie war heute nicht in der Schule, und es liegt keine Entschuldigung vor. Ich wollte nur mal sehen, ob alles in Ordnung ist.“

„Nicht in der Schule?“ Die Mutter unterdrückte ein weiteres Gähnen. „Lassen Sie uns drinnen reden.“ Mit einem misstrauischen Blick ins Treppenhaus öffnete sie die Tür und machte ihm Platz. Weber trat ein.

Die Mutter schnaubte. „Nicht, dass sie einfach im Bett liegt? Melanie?“ Sie öffnete die Tür zu einem Zimmer mit hellen Möbeln. Ein paar Mangaposter zierten die Wände. Auf dem Schreibtisch lag unter der Computermaus ein schwarzweißer Ausdruck eines Fotos, das Weber ebenfalls unangenehm bekannt vorkam, doch er hielt es für klüger, sich vorerst nichts anmerken zu lassen. Die Mutter schloss die Tür und lotste ihn in die Küche am Ende des Flurs.

„Wissen Sie, wir sind keine von diesen Familien, wo Sie gleich vorbeikommen und nach dem Rechten sehen müssen. Ich bin sicher, Sie haben andere Schüler, die mehr ausfressen, als mal einen Tag zu fehlen.“ Unter ihrer Müdigkeit klang sie ungeduldig; die Botschaft war klar.

„Natürlich.“ Vielleicht konnte er sie beschwichtigen. Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, war eine verärgerte Mutter, die ihm Probleme bereitete. „Deswegen habe ich mir ja überhaupt erst Sorgen gemacht. Melanie ist nicht die Art Schülerin, die plötzlich fehlt. Im Gegenteil.“

„Ich bin sicher, sie kommt irgendwann heute Abend nach Hause, dann kann Sie Ihnen ja schreiben.“ Die Mutter klang etwas versöhnlicher. Sie gähnte wieder. „Hinzulegen brauche ich mich jetzt auch nicht mehr. Möchten Sie auch einen Kaffee?“

„Nein, danke, ich muss weiter. Bitte entschuldigen Sie vielmals die Störung.“ Weber rieb sich umständlich den Nacken. „Könnte ich vielleicht noch kurz Ihre Toilette benutzen?“

Die Mutter achtete schon gar nicht mehr auf ihn, sondern hantierte mit der Kaffeemaschine. „Sicher. Den Flur runter, vor der Wohnungstür rechts.“

Weber beeilte sich. Das Zimmer war aufgeräumt; nichts zu sehen, was vielleicht Melanies Abwesenheit erklärt hätte. Er griff nach dem Ausdruck – ein weiteres Foto aus seiner Vergangenheit. Noch ein Gruppenfoto, im Hintergrund eine rauchende Hütte.

Als er den Ausdruck unter der Maus hervorzog, erwachte der Computer aus seinem Ruhezustand, und auf dem Monitor erschien ein Sperrbildschirm. Auch hier kein Passwort. Das E-Mail-Programm war geöffnet. Er überflog die letzte eingegangene E-Mail.

„… bin sehr interessiert an Ihrer Geschichte und den Fotos. Treffen Sie mich heute Abend um 21 Uhr in der Grillhütte am Alten Turm.“ Absender war eine Ricarda Reinhard, der Signatur nach eine Angestellte der Lokalzeitung. Eilig scrollte er durch den Posteingang, aber zwischen Newslettern und Werbespam war auf die Schnelle kein Hinweis zu finden, woher das Mädchen die Fotos hatte. Ihm blieb keine Zeit, um weiterzusuchen. Wenigstens hatte er eine Zeit und einen Ort.

Weber schloss behutsam die Tür zu Melanies Zimmer und schlich ins Bad, um dort die Spülung zu betätigen. Dann rief er den Flur hinunter: „Danke, auf Wiedersehen!“ Die gemurmelte Antwort war kaum zu verstehen.

***

Vom Parkplatz führte ein breiter Waldweg zur Grillhütte, kaum mehr als ein Fußmarsch von fünf Minuten.

Weber war unruhig und hetzte den Pfad hinauf. Irgendwas an dieser Geschichte stank zum Himmel. Er hatte unter einem Vorwand in der Zeitungsredaktion angerufen, nur um sicherzugehen – aber eine Ricarda Reinhard arbeitete da gar nicht. Im Internet war keine Frau dieses Namens aufzufinden. Wer hatte das Mädchen also hierher bestellt?

So oder so, er hatte keinen ausgeprägten Wunsch, seine Vergangenheit an die große Glocke zu hängen. Jugendliche Abenteuerlust hatte ihn nach seiner Bundeswehrdienstzeit dazu verleitet, bei Paladin Military Services anzufangen, einem privaten Militärdienstleister. Nach dem Einsatz im Irak war Paladin Military Services abgewickelt worden, und er hatte sein neues Leben begonnen. Ihm gefiel, wie sich die Dinge entwickelt hatten, und er legte keinen Wert darauf, dass seine Vergangenheit ihm jetzt noch Scherereien bereitete. Mit jenem Leben hatte er abgeschlossen.

Die Grillhütte stand auf einer Lichtung, die vom Halbmond in Zwielicht getaucht wurde. Eine einzelne Laterne warf einen grellen Lichtkreis genau vor den Eingang.

Weber machte noch zwei Schritte auf die Grillhütte zu. Es war unmöglich zu erkennen, ob jemand drinnen im Schatten lauerte. „Melanie?“, fragte er, doch er erhielt keine Antwort.

Nach kurzem Zögern betrat er vorsichtig die Hütte und fühlte sich für ein paar Augenblicke sehr exponiert, bis seine Augen sich an die Dunkelheit im Innern gewöhnt hatten. Die Hütte war nicht groß, ein einzelner Raum, in der Mitte ein gemauerter Grill, ringsum an den Wänden grobe Sitzbänke. Keine Winkel, in denen sich jemand verstecken konnte. Kein Mädchen.

Ein paar Minuten später hörte er von draußen, jenseits der Hüttenwand, verstohlene Schritte. „Melanie?“, fragte er erneut.

Doch das Lachen, das ihm antwortete, gehörte ganz klar nicht zu einem Schulmädchen.

„Da hast du die Bilder also gesehen. Hast dich ein bisschen erschreckt, was? Und bist meiner kleinen Brotkrumenspur bis hierher gefolgt, mein alter Kamerad. Gut gemacht. Du warst schon immer ein ganz Hundertprozentiger.“

Weber erkannte die Stimme, oder vielleicht war es auch die Anrede „alter Kamerad“.

„Borowski.“

Er erntete weiteres Lachen. „Du erinnerst dich an mich. Ich bin fast ein bisschen gerührt.“

„Was soll das hier?“, fragte Weber und versuchte, ungehalten zu klingen. „Was ist mit dem Mädchen?“

„Was weiß ich.“ Borowski klang desinteressiert. „Die spielt keine Rolle. Das Handy war nur dazu da, dich hierher zu locken. Hat ja auch gut geklappt. Du warst schon immer ziemlich durchschaubar.“

Weber begriff. „Du hast die Sachen auf ihrem Computer platziert.“

Borowski schnaubte. „Hab wohl ein paar neue Tricks gelernt seit damals.“ Eine kurze Pause, dann wiederholte er: „Damals.“

„Schön, du hast mich erfolgreich hergelockt. Was soll der Scheiß?“

„Ich will mich nur ein bisschen mit dir unterhalten, alter Kamerad. Wie’s dir so ergangen ist seit der Demobilisierung. Frau, Kinder, Hund, über was man halt so plaudert.“ Weber sagte nichts, wollte sich nicht zu einer verfrühten Reaktion hinreißen lassen.

Borowski fuhr fort: „Ich für meinen Teil hab die letzten vierzehn Jahre im Knast verbracht. Vierzehn verdammte Jahre, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Mein Bruder ist da drin draufgegangen. Hat sich mit seinem Bettlaken am Fenstergitter aufgehängt. Miller sitzt immer noch. Lehmann haben sie schon vor vier Jahren entlassen, der ist ein verdammtes Wrack.

Und dich finde ich jetzt hier. Mit neuem Namen. Neuem Job. Weißt du, ich hab mich das immer gefragt. In Den Haag haben sie nie erwähnt, was aus dir geworden ist. Aber sie hatten Aussagen und Fotos von der Zeit im Irak. Man fragt sich doch, woher? Miller hat sich dasselbe gefragt, mein Bruder auch, bevor er sich aufgehängt hat. Wenn einer von uns gesungen hätte, hätten sie den ja wohl nicht einfahren lassen, oder? Nur dich haben sie verschont, und das, obwohl du genauso tief dringehangen hast wie wir anderen.“

Weber antwortete immer noch nicht. Die ganzen achtzehn Monate im Irak waren die Hölle gewesen, als externe „Sicherheitsberater“ – eine leicht zu durchschauende Umschreibung für irreguläre Kampfeinheiten, für die eine Regierung sich nicht rechtfertigen musste. Die Umstände waren brutal gewesen, und sie hatten brutal handeln müssen, um zu überleben. Nein, sie hatten sich nicht mit Ruhm bekleckert. Das niedergebrannte Dorf außerhalb von Falludscha, weswegen man schließlich seine Kameraden eingebuchtet hatte, war nur einer von ziemlich vielen üblen Vorfällen gewesen. Man hatte ihm einen Deal angeboten, und er hatte angenommen. Dafür hatte er einen neuen Namen bekommen und eine zweite Chance.

„Und was willst du von mir?“, fragte Weber schließlich. „Soll ich zum Staatsanwalt gehen und brav drum bitten, dass sie mich auch noch einbuchten?“

„Nein, alter Kamerad“, sagte Borowski. „Da wäre mir doch das Risiko zu groß, dass sie dich wieder laufenlassen, nachdem du Verräterschwein ihnen so gute Dienste geleistet hast. Für dich hab ich mir was anderes vorgestellt.“

Dann hörte Weber die verstohlenen Schritte, hinter der Grillhütte entlang, auf den Eingang zu. Er zog seine Pistole und machte einen Schritt zur Seite, ehe er in die Hocke ging, um ein kleineres Ziel abzugeben. Dann das unverkennbare Geräusch einer Pistole, die durchgeladen wurde.

Kurz wunderte Weber sich, warum Borowski seine Waffe erst jetzt und so deutlich hörbar durchlud. Dann trat eine Gestalt in den Eingang, nicht mehr als ein Schatten im grellen Licht der Laterne. Weber schoss dreimal – kein Risiko eingehen bei den schlechten Sichtverhältnissen. Sein Gegner fiel ohne einen Laut nach hinten über.

Das Handy in seiner Hosentasche vibrierte, aber das war jetzt auch egal. Er steckte die Pistole ein.

Da hörte er zu seinem Entsetzen erneut Borowskis Stimme. „Vielleicht solltest du diese E-Mail lesen, alter Kamerad. Ist zwar nicht für dich, aber du dürftest sie trotzdem ganz interessant finden.“

Mit zwei großen Schritten eilte Weber zu der Gestalt, auf die er soeben geschossen hatte. Zierliche Figut. Die Hände vor dem Bauch gefesselt, einen Knebel im Mund. Vor Angst weit aufgerissene Augen. Und drei Einschüsse in der Brust. Er musste nicht erst ihren Puls prüfen, um zu wissen, dass Melanie nicht mehr zu retten war.

Mit tauben Fingern fischte er das Handy der Toten aus der Hosentasche und entsperrte es. Öffnete die E-Mail-App.

Die neue E-Mail war von Webers privater Adresse abgeschickt worden. „Triff mich um 21 Uhr an der Grillhütte und bring ALLE Fotos mit. Ich hab das Geld. Versuch nicht, mich zu linken!“ Darunter war der Nachrichtenverlauf zu lesen. Die Forderung des Mädchens nach Geld, sonst würde sie die Fotos veröffentlichen. Inklusive Anhang, einem Erinnerungsfoto aus einem brennenden Dorf bei Falludscha.

„Was soll das, Borowski?“

„Na das liegt doch auf der Hand. Die Kleine hat dich erpresst, und du hast’s ihr heimgezahlt. Hast den Nachmittag über nach ihr herumgefragt und sie dann hier, wo’s keiner mitbekommt, zum Schweigen gebracht.“ Borowski kicherte. „Bisschen unvorsichtig. Muss dich ganz schön auf die Palme gebracht haben.“

Weber lachte, zwang sich zu lachen. „Das soll irgendjemand glauben?“

„Dass du sie erschossen hast, ist kaum von der Hand zu weisen, oder?“ Borowski kicherte wieder. „Dafür, dass du hinter ihr her warst, gibt es Zeugen. Und sogar dein Handy kann man leicht hier orten, nachdem jemand den Akku wieder reingesteckt hat.“ Er kicherte erneut. „Na dann, mach’s mal gut, alter Kamerad. Du hast ja jetzt weiß Gott genug damit zu tun, eine Leiche loszuwerden.”

Von der anderen Seite der Grillhütte hörte er Borowskis Schritte. Weber rannte los, hinterher, in den nachtschwarzen Wald, um sich seinen alten Kameraden zu schnappen und vielleicht noch irgendetwas zu retten oder den Bastard wenigstens mitzunehmen.

2 thoughts on “Schülersprechstunde

  1. Moin,

    eine richtig Gute Geschichte hast du dir hier ausgedacht hast.
    Unvorhersehbar, packend und mit einem Twist der sehr gut in die Geschichte passt.
    Ich habe deine Geschichte in einem Rutsch gelesen und ich finde sie großartig.
    Dein Schreibstil ist unaufgeregt, schnörkellos und deine Liebe zum Schreiben merkt man in jedem Wort, jedem Satz. Deine erste Geschichte?
    Du kommst ohne große Metaphern aus, aber dennoch bleibt deine Geschichte spannend und man möchte unbedingt wissen wie sie endet und hier kommt deine Große Stärke zum tragen…KREATIVITÄT UND FANTASIE! Eine an sich harmlose Geschichte wird zur Tragödie! Klasse!

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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