CarmenMayerSchuld und Sühne

Schuld und Sühne

Der Anfang vom Ende

Es war ein heißer Sommertag, an dem mein Leben eine entsetzliche Wendung nehmen sollte. Obwohl es noch nicht einmal 10 Uhr war, hinterließ die Sonne bereits ein brennendes Gefühl auf meiner Haut, als ich die schweren Koffer durch den Vorgarten in Richtung Straße bugsierte.
Das Taxi stand bereits am Straßenrand. Der Fahrer hatte sich eine Zigarette angezündet und stand mit dem Rücken zu mir lässig gegen seine Fahrertür gelehnt. Er sah in das gegenüber unserem Haus gelegene Waldstück. Als ich mit dem Koffer am Taxi angekommen war, brachte er ein flüchtiges, über die Schulter geworfenes „Hallo“ hervor. Dabei machte er sich nicht die Mühe, sich weiter als nötig zu mir umzudrehen. Den Wald betrachtend zog er erneut an seiner Zigarette.
Für einen Moment bildete ich mir ein, er wäre mir bekannt vorgekommen. Weniger auf Grund seiner Gesichtszüge, von denen ich durch die mir entgegen blendende Sonne ohnehin nicht viel erkannt hatte. Es waren eher seine Bewegungen, die mich für einen kurzen Moment stutzen ließen. Grübelnd verstaute ich das Gepäck in den Kofferraum des Wagens und ging zurück zum Haus. Meine Familie trat inzwischen fertig angezogen in den Vorgarten. Der Anblick meiner Frau und der beiden Kinder erfüllte mich mit Stolz.
Sarah war damals, nach dem ganzen Scheiß, den ich erlebt hatte, meine Rettung gewesen. Sie begegnete mir in einer Zeit, in der sich mein Leben für immer verändert hatte. Ihre beiden Zwillinge Jo und Arne waren erst ein halbes Jahr alt gewesen. Sarah redete nicht gern über die Vergangenheit. Mir war das nur recht. Da wir dieses Thema mieden, war auch ich nicht gezwungen, ihr allzu viele Lügen aufzutischen. Wir gaben uns gegenseitig Halt, welchen ich zuvor nie erlebt hatte. Auch heute, 7 Jahre später, bedeuteten sie und die Jungs mir alles.
Als sie in unserem Vorgarten auf mich zukamen, um sich von mir zu verabschieden, fühlte ich Wehmut. Wir würden uns die nächsten drei Wochen nicht sehen, weil Sarah mit den Kindern zur Kur fuhr. Wir nahmen uns ein letztes Mal in die Arme. Der Taxifahrer war inzwischen wieder in sein Auto gestiegen und wartete auf seine Fahrgäste.
Ich schloss die Autotür hinter Sarah und winkte dem abfahrenden Taxi hinterher. Die nun eingekehrte Stille fühlte sich schwer in meinem Magen an.
Bevor ich zurück zum Haus ging, wollte ich mich vergewissern, dass der Fahrer seine Zigarette vernünftig ausgedrückt hatte. Bei einem dermaßen trockenen Sommer war es reine Fahrlässigkeit, am Waldrand zu rauchen. Ich betrachtete die Stelle, an der das Taxi gestanden hatte. Nachdem ich die immer noch leicht aufsteigende Rauchschwade sah, trat ich die Kippe kopfschüttelnd aus. Plötzlich wurde ich kurz von einem aufblitzenden Lichtschein geblendet. Ich sah mich suchend um und entdeckte einen Gegenstand am Waldrand. Mit erweckter Neugierde ging ich einige Schritte darauf zu. Ich erkannte, dass es sich um ein Mobiltelefon handelte, in dessen Display die Sonne sich reflektiert haben musste. Wer hatte das hier verloren? Ab und zu kamen Jogger oder Radfahrer vorbei, meistens war es jedoch sehr ruhig in unserer Gegend. Wir wohnten zurückgezogen auf dem Land. Selbst von den Nachbargrundstücken trennten uns einige hundert Meter Land. An diesen Ort verirrte sich selten jemand und das war auch gut so.
Ich hob das Handy auf und fragte mich, ob ich darauf einen Hinweis auf dessen Besitzer finden würde. Zu meiner großen Überraschung ließ sich das Display ohne PIN-Abfrage entsperren und gab den Startbildschirm frei.
Was dieser allerdings beinhaltete, ließ mir augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren.
Ich erkannte auf dem Hintergrundbild genau jene Szene, die sich erst vor wenigen Minuten in unserem Vorgarten abgespielt hatte. Das Bild zeigte uns Vier, wie wir uns umarmten und voneinander verabschiedeten. Die Perspektive zeigte an, dass die Aufnahme vom Waldrand aus entstanden sein musste. Aber da war doch niemand gewesen! Oder hatte ich einfach jemanden in dem Licht- und Schattenspiel der durch die Bäume scheinenden Sonne übersehen? Meine Knie wurden weich und ich begann zu zittern, obwohl es so heiß war. Was hatte das zu bedeuten? Ich sah mich um, konnte aber Niemanden sehen. Ich setzte mich auf einen großen Stein und versuchte, meine seltsame Entdeckung einzuordnen. Da ertönte plötzlich eine kurze Melodie, welche den Eingang einer Textnachricht verkündete. Ich versteifte mich augenblicklich und starrte auf das Nachrichtensymbol. Nach einem tiefen Atemzug öffnete ich die Nachricht.

Schiedsrichter: Time to say goodbye, Frankyboy!

Die Nummer war unter Schiedsrichter gespeichert? Ich konnte nicht fassen, was ich da las. Die Nachricht an sich ergab für mich zwar zunächst wenig Sinn, allerdings jagte mir ein bedeutendes Detail einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Ich: Was soll das? Wer ist da?
Schiedsrichter: Hast du Lust auf ein Spiel?
Ich: Nein, habe ich nicht! Was soll das Foto auf dem Handy?

Sollte das ein perfider Scherz sein? Saß in diesem Moment jemand hinten im Wald und lachte sich ins Fäustchen? Aber wenn das ein Scherz war, woher wusste er dann….
Ein erneuter Nachrichtenton riss mich aus meinen Gedanken.

Schiedsrichter: Nun mein lieber Franky, das ist aber sehr schade. Denn ich habe Lust zu spielen. Ich mache hier die Regeln und an die wirst du dich halten. Und das wirst du, glaub mir! Denn der Spieleinsatz ist hoch…es geht um alles!

Ich spürte, wie Adrenalin in meine Adern schoss und mein Magen zu rebellieren begann. Es geht um alles…
Ich hatte schon einmal „alles“ verloren und es bis heute nicht zurück erlangt. Das würde ich auch nie wieder. Aber noch einmal alles zu verlieren, was ich mir neu erschaffen hatte…Nein, dazu war ich nicht bereit.

Ich: Was soll das heißen?

Anstelle einer Textnachricht erreichte mich wenige Sekunden später eine Bilddatei im Posteingang. Ich schluckte schwer und fand erst nach einigen Atemzügen den Mut, diese zu öffnen. Bei deren Anblick überkam mich eine Mischung aus Wut, Hilflosigkeit und Panik. Ich sah direkt in die drei Gesichter, die mir am meisten bedeuteten… heimlich aufgenommen über den Innenspiegel des Taxis.
Mir wurde speiübel.

Ich: Wenn du meiner Familie auch nur ein Haar krümmst!
Schiedsrichter: Ich gebe dir 13 Stunden und 24 Minuten.

Ich sah auf die Uhr, die genau auf 10 Uhr zeigte. 23.24 Uhr…

Ich: 13 Stunden und 24 Minuten wofür?
Schiedsrichter: Frankyboy, stell dich nicht dumm! 13 Stunden und, mit Verlaub, nur noch 23 Minuten, um deine Familie zu retten. Ich gebe dir eine faire Chance.

Mit ansteigendem Magendruck und schweißgebadeten Fingern tippte ich die nächste Nachricht.

Ich: Was hast du mit ihnen vor?
Schiedsrichter: Wir haben noch gar keinen Namen für unser Spiel, Franky. Was hältst du von „Spiel auf Leben und Tod“?
Und eines sollte klar sein: keine Polizei!

Nach dem Lesen dieser Nachricht konnte ich nicht mehr gegen die saure Masse ankämpfen, die sich meinen Hals empor drückte und in einem Schwall vor mir ergoss.
Nach dem dritten Würgen beruhigte sich mein Brechreiz, doch die schwüle Hitze und die Angst schlangen sich weiter um meinen Körper und schnürten mir mehr und mehr die Luft ab.

 

Flashback

Das Gefühl der Angst kannte ich von jeher. Aufgewachsen im Sozialviertel unserer Stadt in einem Elternhaus, das jene Bezeichnung nicht ansatzweise verdiente, suchte ich schnell Anschluss bei Gruppen, in denen ich mich aufgehoben und sicher fühlte. Meine Freunde wurden mir zur Familie, auch wenn diese größtenteils nicht der beste Umgang waren.
Von klein auf hatte ich jedoch einen Freund, der immer an meiner Seite war, egal in welcher Clique ich mich grade vermehrt bewegte. Sein Name war John. Ich merkte früh, dass er anders war als die anderen Kinder. Er war klug und den anderen immer einen Schritt voraus. Sein familiärer Hintergrund ließ ebenso wie meiner zu wünschen übrig und so freundeten wir uns bereits als Kinder auf dem Hinterhof unseres Blocks miteinander an. Wir hielten zueinander, spendeten uns Trost und fanden so etwas wie einen Bruder in dem Anderen.
In unserer frühen Jugend gelangten wir vermehrt in falsche Kreise.
John hatte einen 3 Jahre älteren Bruder namens Hank. Dieser ließ uns von seinen Drogen probieren und alsbald bestand er darauf, dass wir ihm für seine Großzügigkeit etwas schuldig wären. Er brachte uns dazu, das Zeug für ihn zu verticken. Während wir uns in den folgenden Jahren mit dem Drogenhandel über Wasser hielten, war Hank inzwischen an viel größere Fische geraten und hatte sich zum Member eines stadtbekannten Rockerclubs hoch gearbeitet. Er schwärmte uns oft davon vor. Wie eine Familie sei es dort. Alle würden zueinander halten und wenn einer Ärger bekäme, so stünde er damit nie allein da, sondern würde bis aufs Blut von seinen Kameraden verteidigt werden. Irgendwann schlug er schließlich John und mich als Hangarounds und später als Prospects für den Club vor.
Je besser wir unsere Aufträge erfüllten, umso mehr Anerkennung ließen uns die anderen Mitglieder und der Präsident zukommen. Nach einigen Jahren hatten wir mit Hilfe schwerer Delikte von Drogenhandel bis Körperverletzungen unsere feste Mitgliedschaft erlangt.
Die Ehre war groß für uns und der Club stand über allem Anderen. Hier waren wir wer, man schaute zu uns auf. Wir lebten in einer Art Parallelwelt, in der Vieles im Untergrund fernab der normalen Geschehnisse draußen ablief. Manchmal dachte ich darüber nach, wie viele Dinge sich im Schatten der Realität abspielten, ohne dass es ein normaler Mensch je bemerkte. Im Verlaufe der Zeit sollte sich meine innere Einstellung zum Club jedoch wandeln.
Es gab in unserer Stadt und Umgebung noch andere Motorradclubs, denen wir feindselig gegenüber standen. Es kam oft zu brenzligen Situationen, die mir nicht geheuer waren. Auch die Machenschaften, die im Namen des Clubs stattfanden, wurden immer abgründiger. Obwohl man zu Beginn wusste, worauf man sich einließ, war die Kaltblütigkeit, mit denen manche Taten vollzogen wurden, oft verstörend.
Manchmal spürte ich in meinem Inneren ein Unbehagen, das ich mich jedoch nicht traute, weiter zu erörtern. Nicht einmal mit John. Doch auch er hatte manchmal so einen Ausdruck in den Augen, der mir zeigte, dass auch ihm manches mehr als falsch vorkamen.
Es sollten einige Jahre vergehen, bis mir ein Schlüsselerlebnis die endgültige Erkenntnis brachte, dass mein Weg im Club zu Ende war.
Der Preis, den ich dafür zahlte, sollte der höchste sein.

 

Die Wahrheit

Ich ging ins Haus und beugte mich über das Waschbecken, um mir den Angstschweiß und die Reste von Erbrochenem aus dem Gesicht zu waschen. Aus einem ersten Impuls heraus war ich geneigt, sofort die Polizei zu informieren. Immerhin waren Polizisten in den letzten 8 Jahren die einzigen Menschen gewesen, denen ich vertrauen konnte. Abgesehen von Sarah.
Aber irgendetwas hielt mich trotzdem davon ab. Irgendwie hatte ich das Gefühl, der „Schiedsrichter“ wäre mir immer einen Schritt voraus und würde sofort wissen, wenn ich mich nicht an die Regeln hielt.
Also setzte ich mich und nahm erneut das fremde Handy zur Hand.

Ich: Wie soll ich meine Familie retten, wenn ich ihren Aufenthaltsort nicht kenne? Das nennst du eine faire Chance?
Schiedsrichter: Ich werde dir einen Tipp geben. Allerdings bekommst du diesen nicht umsonst. Zuerst musst du erraten, wer ich bin…
Ich: Wie soll ich das erraten? Du könntest Jeder sein! Ich verstehe nicht, warum du das tust!

Die Minuten verstrichen, ehe endlich ein Klingelton das Eintreffen einer Nachricht anzeigte.

Schiedsrichter: Schau tief in deine Vergangenheit, mein Lieber. Wen hast du so sehr im Stich gelassen, dass er nach so vielen Jahren noch immer nicht vergessen kann? Du hattest mir dein Wort gegeben Franky!

Diese Worte zu lesen, löste etwas in mir aus. Schlagartig wurde ich in die Vergangenheit versetzt, zurück an den schlimmsten Tag meines Lebens.
In jener Nacht war ich mit John in einer Bar, um Schutzgeld zu kassieren. Dabei stießen wir auf einige Member und den Sergeant at Arms eines verfeindeten Motorradclubs. Da die Bar unserem Territorium unterlag, kam es schnell zu einer handfesten Auseinandersetzung. Diese sollte mit einem Schusswechsel enden. Mein Freund John war in dem Kugelhagel gestorben.
Du hattest mir dein Wort gegeben, Franky
Ich hatte in meinem gesamten Leben nur zwei Menschen mein Wort gegeben. John und ich versprachen uns als Kinder, immer aufeinander aufpassen. Das war unser Pakt, welcher auch über die Kindheit hinaus Bestand hatte. Und meiner Frau Sarah versprach ich am Tag unserer Hochzeit, für immer an ihrer Seite zu bleiben.
Wen hatte ich im Stich gelassen? Du hattest mir dein Wort gegeben, Franky…
Oft plagten mich wegen der Nacht in der Bar Schuldgefühle. Erst seitdem erkannte ich endgültig, wie falsch alles lief und wünschte mir seit jeher, rechtzeitig einen anderen Weg eingeschlagen zu haben. Dann würde John heute noch leben. Wen hast du so sehr im Stich gelassen, dass er nach so vielen Jahren noch immer nicht vergessen kann?
Das konnte doch nicht sein. John war tot. Ich hatte ihn selbst gesehen, wie er leblos in seiner eigenen Blutlache lag. Er hatte keinen Puls mehr. John war tot. Oder etwa nicht?
In derselben Nacht war ich abgetaucht. Durch meine Vermummung in der Bar hatte ich nicht zu befürchten, dass mich jemand erkannt hatte.
Ich hatte nur aus den Medien erfahren, dass es bei der Schießerei einen Toten gegeben hatte. Ich hatte über jene Ereignisse nie ein Wort verloren. Nicht einmal die Polizei erfuhr ein Sterbenswort darüber, obwohl ich seither sehr eng mit ihr zusammen arbeitete. Diese Kooperation bezog sich jedoch auf andere Machenschaften, die ich für die Beamten offen legte.
Konnte es möglich sein?
Mit einem Mal schoss mir eine schreckliche Verbindung in den Sinn, die mir vorher noch nicht aufgefallen war. Wir hatten damals um kurz nach 23 Uhr die Bar betreten. 23.24 Uhr.
Das konnte doch nicht möglich sein.

Ich: John!?
Schiedsrichter: Kannst du dich an die kleine Hütte im Wald erinnern, die du mit Sarah beim Pilze sammeln entdeckt hast?

 

The final countdown

Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, was ich dem Entführer meiner Familie überhaupt entgegen zu setzen hatte, rannte ich wie ein Irrer aus dem Haus und sprang in mein Auto.
Es war Nachmittag geworden und ich raste über die Straßen wie ein Wahnsinniger.
Kilometer um Kilometer war ich kopflos durch die Landschaft geflogen, als ich endlich den kleinen Waldweg erreichte, der zur Hütte führte. Ich wurde langsamer und hielt an dem Pfad. Die Hütte war in der Ferne bereits zu sehen und den letzten Abschnitt musste ich zu Fuß zurück legen. Als ich an dem kleinen Holzhaus ankam, stand tatsächlich das Taxi in der Einfahrt. Was würde mich nun erwarten? Eine seltsame Ruhe lag in der Luft. Die heiße, trockene Waldluft legte sich auf meine Schleimhäute und ich begann zu schlucken. Bis auf auf das Gezwitscher einiger Vögel herrschte eine Totenstille. Ich ging langsam auf die Tür zu. Ich hatte Angst. Doch da war noch ein anderes Gefühl in mir, welches ich in diesem Moment noch nicht zu deuten vermochte.
Vielleicht waren meine Liebsten gar nicht mehr am Leben. Mein Hirn schaltete sich aus und ich ergab mich der Situation. Ich legte die Hand auf die Klinke und drückte diese vorsichtig hinunter. Stickige Luft schlug mir aus dem Inneren entgegen. Meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen und so konnte ich den Raum nur schemenhaft visuell erkunden. Nachdem ich meinen Blick über die alten Möbel schweifen ließ, entdeckte ich auf einem Stuhl die Silhouette einer Person. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte ich schließlich Sarah. Meine Sarah! Sie saß allein in dem kleinen Raum. Ich war so erleichtert, sie wohlauf zu sehen, dass ich auf sie zu lief und sie fest umarmte. Sie erwiderte diese Geste nicht. Ich löste meine Umarmung und fragte mit aufgeregter Stimme: „Schatz, was ist hier los? Wer hat dich hierher gebracht? Hat er dir etwas angetan? Was ist mit den Kindern? Um Gottes Willen, was ist mit ihnen?“
Sie hob ihren Blick und sah mir direkt in die Augen. Mit Entsetzen zuckte ich zurück, als ich Kälte darin erkannte.
„Hallo, Frank!“, spie sie mir die Worte entgegen.
Zwei kleine Worte, die mir jedoch mit einem Schlag klar machten, dass sie hinter mein Geheimnis gekommen war.
„Was hast du dir dabei gedacht? All die Jahre hast du mich belogen! Hast mir völlig falsche Informationen aus deiner Vergangenheit gegeben. Ja, wir haben nicht viel über damals geredet. Aber dass du ein völlig anderer Mensch bist, als der, den du mir vorgespielt hast, ist eine ganz andere Nummer. Ich habe dir vertraut, Chris! Wie konntest du mich nur so belügen? Du hast mir was versprochen!“. Ihre Stimme brach. Ich fühlte mich so elend. Sie hatte recht. Ich hatte sie all die Jahre belogen.
„Sarah, Liebling! Bitte, du musst mir glauben, dass ich dich immer geliebt habe. Alles zwischen uns war echt. Ich durfte Niemandem erzählen, wer ich wirklich bin.“ Sie schluchzte. Als sie einige Momente später wieder die Fassung gewann, wurde ihre Stimme lauter: „Du bist ein Krimineller, ein verdammter Verbrecher! Ich habe all die Jahre unwissentlich zugelassen, dass ein Schläger, ein Zuhälter und Mörder, tagtäglich mit mir und meinen Kindern zusammen ist! Ich habe dich geliebt, Chris. Das tue ich verrückter Weise immer noch, obwohl ich jetzt weiß, wer du wirklich bist.“ Sie senkte den Kopf, als sie flüsternd hinzufügte:„Du bist eine Gefahr für meine Kinder. Du bist zu Allem fähig. Ich kann nicht zulassen, dass du je wieder einen Schritt in die Nähe meiner Kinder setzt!“.
Fassungslos starrte ich meine wunderschöne Frau an, die mir einerseits so vertraut und in diesem Moment doch so fremd war.
„Woher weißt du es?“, fragte ich matt.
„Er hat es mir erzählt. Er hat mich ausfindig gemacht. Ich muss zugeben, Chris, dass auch ich nicht ganz ehrlich zu dir war. Ich habe dir erzählt, dass Jo´s und Arne´s Vater nur eine Affäre war und nichts von meiner Schwangerschaft wusste. Das stimmte auch, zumindest dachte ich das. Offensichtlich muss er es doch herausgefunden haben. Aber ich habe dir eine Information vorenthalten.“. Sie schwieg einen Moment, bevor sie weiter sprach: „Ich mochte ihren Vater sehr. Allerdings erfuhr ich einige Wochen nach unserem Kennenlernen, dass er Mitglied eines Motorradclubs war. Ich beendete unsere junge Beziehung umgehend, da ich mit all dem nichts zu tun haben wollte. Wenige Tage später wurde er ermordet. Als ich davon erfuhr, wollte ich nur noch weg. Ich hatte Angst, dass seine Mörder es auch auf mich abgesehen haben könnten und habe in einer Nacht- und Nebelaktion die Stadt verlassen.“
Während sich mit Erschütterung langsam die Puzzleteile in meinem Gehirn zusammen setzten, bat ich sie, weiter zu sprechen.
„Ich fing ein neues Leben an. Wie du weißt, hatte ich keine Eltern mehr und die wenigen losen Freundschaften, die ich pflegte, bedeuteten mir nicht allzu viel. Ich hatte dich getroffen und wir bauten uns ein gemeinsames Leben auf. Bei dir fand ich endlich die Geborgenheit, nach der ich mich immer gesehnt hatte. Und du warst ein toller Vater für meine Jungs.“ Eine stumme Träne lief ihr über die Wange, als sie fort fuhr. „Und plötzlich änderte sich Alles. Vor einigen Tagen klingelte es an der Tür. Er hatte nach mir gesucht. Er wollte die Kinder kennen lernen. Und als ich ihn herein bat und mich mit ihm unterhielt, entdeckte er unser Hochzeitsfoto auf dem Kaminsims. Er konnte den Zufall selbst kaum glauben, als er mir erzählte, er würde dich kennen. Und dass er auch nach dir jahrelang gesucht hätte. Und dann, Chris, hat er mir alles erzählt.“
Ich verstand noch immer nicht. „Wer hat dir alles erzählt?“, fragte ich, als ich plötzlich ein Knarren hörte. Ich hob den Blick und sah, wie die Hintertür der Hütte sich öffnete und ein Mann hinein trat. Mich traf der Blitz, als ich ihn erkannte.
„Hey Franky, wie schön dich endlich wieder zu sehen, altes Haus. Dachtest du wirklich, du kannst dich einfach aus dem Staub machen? Nach allem, was wir zusammen durch gemacht haben?“. Er trat näher an mich heran und flüsterte die nächsten Worte fast: „Ich habe so lange nach dir gesucht. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt, dich jemals ausfindig zu machen. Aber was drei Privatdetektive nicht auf die Reihe gekriegt haben, hat nun der pure Zufall für uns erledigt. Nun können wir endlich abrechnen.“
Eigentlich hatte ich immer gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Man kann sich vielleicht für eine Weile verstecken, aber seinem Schicksal entrinnen kann man nicht.
„Du hast uns alle verraten Franky, uns unsere Geschäfte versaut und einen Haufen Kohle in den Sand gesetzt. Du warst einer von uns. Du hast einen Eid abgelegt. Du hast mir was versprochen, Alter!“
Ich ließ seine Worte auf mich wirken und plötzlich überkam mich ein Gefühl der tiefen inneren Ruhe, dass ich so noch nie zuvor verspürt habe. Als er im nächsten Moment seine Waffe hervor zog, schloss ich die Augen. Ich atmete ruhig ein und aus und wartete auf das Klickgeräusch der Entsicherung.
Statt des Geräusches jedoch vernahm ich im nächsten Moment seine Stimme. „Vergiss es, Bruder! Das kannst du schön selbst machen! Du hast deinen besten Freund, deinen Bro, einfach sterben lassen und hast dich verpisst, ehe die Bullen kamen. Du hast deine Kameraden auf die nur erdenklich schlimmste Weise verraten, hast dich versteckt wie eine Memme. Aber nun ist Schluss damit! Du wirst endlich für das grade stehen, was du getan hast.“
Das Gefühl, welches sich vorhin auf dem Weg zur Hütte in meinem Innersten angebahnt hatte, ergriff immer mehr von mir Besitz. Als er mir für einen Moment tief in die Augen sah, musste er es erkannt haben. Er drückte mir ohne zu zögern die Waffe in die Hand. Ich sah zu Sarah hinüber. Sie kämpfte erneut mit den Tränen, aber ich kannte meine Frau. Ich wusste, sie würde alles tun, um ihre Kinder vor mir zu beschützen. „Sarah, es tut mir so leid!“, flüsterte ich, als sie sich erhob und durch die Hintertür das Holzhäuschen verließ. Ich schloss die Augen. Ich hörte das Klicken. Und während ich die Waffe an meinen Mund führte, wurde mir schlagartig bewusst, welches Gefühl in mir immer stärker zum klingen kam und sich nicht mehr unterdrücken ließ. Es vereinnahmte mich vollends in dem Moment, in dem ich das kalte Metall des Pistolenlaufs auf der Zunge spürte.
Erleichterung!

One thought on “Schuld und Sühne

Schreibe einen Kommentar