SerhanKSchuldgefühle

Schuldgefühle

Mit hastigen Bewegungen zieht sich das junge Mädchen ihre Handschuhe an. Voller Vorfreude auf den Film, den sie sich gleich mit ihrer besten Freundin im Kino ansehen wird, geht sie die Hauptstraße entlang. Wegen der klirrenden Kälte läuft sie schneller als sonst, während die Lichter der Straßenlaternen und Läden ihren Weg erhellen. Einen Block weiter sieht sie das große Gebäude mit der bunten Beleuchtung und den Filmplakaten. Die rote Ampel an der Kreuzung für den Fußgängerweg hindert sie am Weiterlaufen. Vor ihr auf der gegenüberliegenden Straßenseite hält ein großer Pick-Up. Sie kennt das Auto, aus dem ihre Freundin steigt und sich von ihrem Vater verabschiedet. Sie ruft den Namen ihrer Freundin, die sich überrascht zu ihr dreht. Lächelnd winkt sie ihr kurz zu und pustet sich anschließend warme Luft in die Hände. In diesem Moment schaltet die Ampel auf grün und das Mädchen überquert die Straße. Aus ihrem Augenwinkel sieht sie grelle Lichter schnell näherkommen, gefolgt von einem Hupen und dem knackenden Geräusch ihrer brechenden Knochen.

 

Es ist der schrille Klang der Sirenen, vorbeifahrender Krankenwagen, der John aus seinem Tagtraum reißt und erschrocken zusammenzucken lässt. Eine kalte Brise weht ihm entgegen und holt ihn zurück in die Realität, wo er mit seinem Freund Pete in der Fußgängerunterführung einer Brücke steht. Erst jetzt bemerkt er, dass der alte Mann vor sich hin brummelt und die Hände aneinanderreibt, um sie zu wärmen. „Das muss der kälteste Winter sein, den ich jemals erlebt habe“, beschwert er sich und deutet mit den Händen, die er noch immer ineinander geschlagen hat, auf die flimmernde Straßenlaterne vor ihnen. Riesige Eiszapfen hängen bedrohlich Richtung Asphalt und sorgen dafür, dass zwei vorbeilaufende Passanten näher an den Gebäuden entlanglaufen. „Möglich“, entgegnet ihm John mit ausdruckslosem Blick. Pete fährt sich durch seinen langen, ungepflegten Bart und rückt seine Mütze zurecht. „Nach 40 Jahren auf der Straße gewöhnt man sich an die Kälte der Menschen, aber nicht an die des Winters. Ich kann es kaum erwarten, dass es wieder wärmer wird“, führt Pete mit einem gezwungenen Lächeln fort. Ihre Blicke treffen sich kurz und John nickt verlegen. Wortlos wendet er sich ab und blickt auf einen Haufen Pappkartons, zerfallene Decken und einen Einkaufswagen mit seinen Habseligkeiten, die unter der Brücke liegen und in der Dunkelheit kaum zu sehen sind. Mit langsamen Schritten läuft er darauf zu und lässt Pete stehen. Zielstrebig greift er in einen großen Plastikbeutel und zieht eine in Zeitungspapier umwickelte Schnapsflasche hervor, mit der er wieder zurück zu seinem Freund geht. „Hier, das wird dich wärmen.“ Dankend greift Pete nach der Flasche und genehmigt sich einen großen Schluck. Nachdem John ebenfalls aus der Flasche getrunken hat, blicken sie still in die Nacht hinein. Es fahren noch einige Autos vorbei, deutlich weniger als tagsüber. Einige hundert Meter entfernt, an der großen Kreuzung, sehen die beiden Männer einer dreiköpfigen Familie dabei zu, wie sie in ihr warmes zu Hause flüchten. Langsam senkt John den Kopf und blickt auf die Pfütze direkt zu seinen Füßen. Im schwachen Schein der Laterne sieht er in ihrer Spiegelung das ungepflegte Gesicht eines drogenabhängigen Mannes. Schlechte Haut, lichtes Haupthaar und zotteliger Bart sind das Produkt seines Lebens auf der Straße.  „Weißt du, Pete? Manchmal fühlt es sich an wie Erinnerungen aus einem anderen Leben. Die Zeit mit meiner Familie, meine ich“, flüstert John mit ernster Miene. Pete bemerkt die tiefe Trauer, die in Johns Stimme mitschwingt, schweigt jedoch. Stattdessen greift er seinem deutlich jüngeren Freund an die Schulter und seufzt: „Wir kennen uns inzwischen seit beinahe zwei Jahren und teilen uns Schlafplatz und Brot. In dieser Zeit haben wir viel über unsere Vergangenheit gesprochen, aber was dich hierherbrachte, hast du mir nie erzählt. Stattdessen dröhnst du dich jedes Mal mit Drogen zu, sobald du an die Zeit zurückdenkst, die dich so plagt.“ Sein Griff wird fester und er stellt sich John direkt gegenüber. „Du musst nicht mit mir darüber reden, aber es wird Zeit, dass du wieder rauskommst aus diesem Loch hier. Von mir bekommst du jedenfalls ab sofort keinen Stoff mehr!“ John starrt mit leerem Blick in die Augen des alten Mannes und schüttelt den Kopf. Er presst seine Augenlider fest zusammen und Tränen fließen seine Wangen herunter. „Ich kann nicht, es geht nicht anders.“ Er löst sich aus Petes Griff und läuft stumm Richtung Schlafplatz. Pete schaut ihm mitleidig hinterher und macht sich ebenfalls auf den Weg zu seinem Schlafplatz auf der anderen Straßenseite. „Gute Nacht, John! Bis morgen“, flüstert Pete, kaum hörbar und legt sich schlafen.

Der harte Boden macht es John unmöglich ruhig einzuschlafen. Die dünne Schicht aus Karton und Zeitungspapier, die er zur Dämmung unter seinen Schlafsack gelegt hat, reicht nicht aus, um die Kälte auch nur ansatzweise aufzuhalten. Er zieht sich noch eine dicke Decke, die er vor einigen Wochen in einem großen Müllcontainer zwei Querstraßen weiter gefunden hat, bis zur Nasenspitze hoch. Doch es ist nicht genug, die lähmende Kälte die von seinen Füßen in seinen ganzen Körper steigt, aufzuhalten. Auf dem Rücken liegend, dreht er seinen Kopf in Richtung der anderen Straßenseite, wo Pete liegt. Die Mauer hinter Pete ist vollbemalt mit Graffiti. Große schnörkelige Schriften, die keinen Sinn zu ergeben scheinen, umrahmen die Abbildung eines gesichtslosen Mannes der auf einem Stuhl steht. Um seinen Hals liegt eine Schlinge und er blickt in den Lauf einer riesigen Pistole, die ihm eine fremde Gestalt entgegenstreckt. ‚Wie ironisch‘, denkt sich John und schließt die Augen in der Hoffnung endlich Schlaf zu finden. Seine Gedanken kreisen um Alles und Nichts und kurze Zeit später weiß er, dass er nicht ohne ein wenig Hilfe schlafen kann. An der großen Kreuzung rauschen zwei Polizeifahrzeuge vorbei und die lauten Sirenen sorgen erneut dafür, dass John aufschreckt. ‚Verdammt, ich kann diese beschissenen Sirenen nicht mehr ertragen, ärgert sich John, schlüpft aus seinem Schlafsack und steht auf. Leise läuft er über die Straße und nähert sich dem Schlafplatz von Pete, aus dem er ein Schnarchen wahrnimmt. ‚Unfassbar, dass er bei der Kälte schlafen kann. Die jahrzehntelange Erfahrung als Penner zahlt sich aus‘, denkt sich John. Er weiß, dass Pete ein Gewohnheitstier ist und dass seine wenigen Besitztümer ihren eigenen Platz haben und immer dort zu finden sind. Das muss auch der Grund sein, weshalb er seit 40 Jahren unter derselben Brücke lebt. Er hat schon viele Kommen und Gehen gesehen und hat es auch deshalb zum Lieblingsdealer so vieler Stammkunden aus der Stadt geschafft. Pete stellt wenig Fragen, liefert zuverlässig und hat immer genug da. Er versteckt sein Meth in Tüten verpackt, in einer Schatulle tief in seinem schwarzen Rucksack vergraben. Auf der anderen Straßenseite angekommen, öffnet John vorsichtig den Reißverschluss des Hauptfaches und schielt vorsichtig zu Pete in der Hoffnung, dass dieser nicht plötzlich aufwacht. Der Rucksack ist voll mit Gerümpel, hauptsächlich zerrissene und schmutzige Kleidungsstücke, in denen man nicht herumwühlen möchte. Ganz unten ertastet John die Schatulle und zieht sie heraus. Dabei fällt ihm ein Reißverschluss auf, der innerhalb der Tasche ist und scheinbar ein kleines Geheimfach verschließt. Neugierig öffnet John das Fach und findet ein Smartphone. Völlig überrascht darüber, dass sein Gefährte ein teures Handy besitzt und aus Furcht, dass dieser jeden Augenblick aufwachen könnte, steckt John das Gerät reflexartig ein und schnappt sich auch noch etwas von dem Stoff aus der Schatulle. Nachdem er hastig alles wieder in den Rucksack gepackt hat, dreht er sich auf leisen Sohlen um und schleicht zurück an seinen Schlafplatz. Als er sich auf seinen Unterlagen niederlässt, vergewissert er sich regungslos, ob Pete noch schläft. Er kramt zuerst seine Gute-Nacht-Medizin hervor, die er voller Vorfreude begutachtet. Dann jedoch fällt ihm das Smartphone ein, dass er versehentlich eingesteckt hatte. Getrieben von Neugier, zieht er das Smartphone aus der Jackentasche, um es sich anzusehen. Das Gerät steckt in einer hellgrünen Schutzhülle, die offensichtlich nicht ihren Zweck erfüllte. Das Display ist vollständig zersplittert. Gespannt drückt John die Einschalttaste am Rand, doch es passiert nichts. Noch während er alle Tasten zu betätigen versucht, hört er Schritte, gefolgt von einer tiefen Stimme: „Ich weiß genau, was du getan hast!“ Ein kalter Schauer fährt John über den Rücken und er erstarrt. ‚Das ist nicht die Stimme von Pete‘, denkt er sich und versucht sich zu fassen. Die Schritte verstummen und John gelingt es, langsam seinen Kopf zu heben, um den Fremden zu sehen. Etwa zehn Meter vor ihm steht ein großer Mann breitbeinig am ersten Brückenpfeiler. Durch das schwache Licht der Straßenlaternen hinter ihm, wirkt die Gestalt im Kapuzenpullover bedrohlich und es gelingt John nicht, mehr als eine dunkle Silhouette zu erkennen. „Was… wer ist da?“, stammelt John, noch immer versteinert vor Schreck, dass er von einem Fremden auf frischer Tat ertappt wurde. Der Mann macht einen Schritt nach vorne. „Ich wusste nicht, dass du neuerdings auch Diebstahl auf deine Verbrechensliste aufgenommen hast. Und dann auch noch von einem Freund. Du solltest dich schämen!“ Der vorwurfsvolle Ton und die Konfrontation mit seiner Tat bringen John noch weiter aus dem Konzept. Sein Puls rast und er kann keinen klaren Gedanken fassen. „Was!? Kennen wir… Ich habe es nicht geklaut, ich zahle es ihm bald wieder zurück“, stammelt John. Erneut macht der Fremde einen Schritt nach vorn und ruft zu ihm herüber: „Es ist schon eine Weile her, John. Erinnerst du dich an mich… oder zerfressen die Drogen dein Gedächtnis?“ John erschaudert und ihm wird klar, dass hier eindeutig jemand vor ihm steht, der ganz bewusst nach ihm gesucht hat. „Es war nicht schwer, dich zu finden“, fährt der Fremde fort. „Täter kehren oftmals an den Tatort zurück.“ Johns Anspannung steigt ins Unermessliche, das Adrenalin schießt ihm durch den Körper. Er verkrampft, während er noch immer das Handy in der Hand hält und den Worten des Mannes beklommen lauscht. Sein Blick schweift währenddessen an dem Fremden vorbei, weiter nach links die Straße entlang zu der großen Kreuzung. „Ja, genau, du erinnerst dich also“, knurrt der Mann bedrohlich und macht einen weiteren Schritt auf John zu. „Wie könnte ich das jemals vergessen,“ flüstert John leise vor sich hin, den Blick starr auf die Kreuzung gerichtet. „Sieh ruhig noch einmal hin. Sieh dir den Ort genau an, an dem Ellie deinetwegen ihr Leben verlor“, befiehlt die Gestalt. Regungslos schaut John zur Kreuzung. „Du bist für den Tod meiner Tochter verantwortlich“, brüllt der Fremde John an. John zuckt erneut zusammen durch den plötzlichen Ausbruch des Mannes. Er wendet sich wieder dem Fremden zu, der sich mit beiden Händen die Kapuze nach hinten wirft und sein Gesicht offenbart. Sein schwarzes, volles Haar trägt er nach hinten gekämmt. Seine hasserfüllten Augen und der zornige Ausdruck passen nicht wirklich zu seiner sonst makellos gepflegten Erscheinung. John zittert am ganzen Leib. „Nein… nein, nein“, sagt er schwach. „SEI STILL“, befiehlt ihm der Mann mit bebender Stimme und fährt sich dabei durch sein glattrasiertes Gesicht, um sich wieder zu beruhigen. „Weißt du, wie ich es erfahren habe?“, fragt der Mann leise, ohne auf eine Antwort zu warten. „An jenem Abend fuhr ich auch diese Straße entlang. Die Unfallstelle war komplett abgesperrt und die Polizei leitete den Verkehr daran vorbei. Hinter den Einsatzfahrzeugen stand ein Auto, dessen Windschutzscheibe komplett zerschmettert war. Da sah ich sie – ich erkannte mein kleines Mädchen vor dem Auto auf dem Boden liegen. Wie in Trance bin ich ausgestiegen und das nächste woran ich mich erinnern kann, ist ihr toter Körper in meinen Armen und wie ich ihr über das blutige Haar stricht.“ John sieht Tränen in den Augen des Mannes. Auch er wird von seinen Gefühlen übermannt und Tränen rollen seine Wangen hinunter. Die Schuld in ihm wächst zu einem gigantischen Kloß, der ihn förmlich zu ersticken droht. Voller Scham senkt er seinen Blick, weil er seinem Gegenüber nicht länger in die Augen sehen kann. Der Mann wischt seine Tränen weg und fährt mit leiser Stimme fort: „Hätte ich sie damals ins Kino gefahren, wäre das alles nie geschehen-“ Er stockt für einen Moment und holt tief Luft. Als John erneut seinen Blick hebt, stell er fest, dass der Mann ihm inzwischen bedrohlich nahegekommen ist. Ihre Blicke treffen sich kaum eine Armlänge entfernt und John sieht den blanken Hass, der ihm aus den Augen seines Gegenübers entgegenschreit. „Du bist dafür verantwortlich, John… deiner Fahrlässigkeit hat meine Tochter ihren Tod zu verdanken,“ zischt ihm der Mann mit schneidender Stimme entgegen. Noch während John versucht, die Vorwürfe zu verarbeiten, greift der Mann in seine Gesäßtasche. Das nächste was John erblickt, ist der Lauf einer Pistole. Das Blut gefriert ihm in den Adern. Noch immer auf dem Boden hockend sieht er dem Fremden ins Gesicht. Die Tränen in John Augen trüben seinen ohnehin leeren Blick. „Tu es,“ flüstert John in einem bittenden Ton. „Erlöse mich von dieser Qual, die mich seit zwei Jahren zerfrisst“, fleht er ihn an. „Jeden Tag aufs Neue durchlebe ich diese Nacht.“ Der Mann geht in die Hocke und blickt John fest an, die Pistole noch immer in der Hand und bedrohlich auf John gerichtet. „Weißt du, John? Jetzt wo ich dich wiedersehe, erkenne ich, dass Weiterleben die größte aller Strafen für dich ist. Dich aus Rache zu töten, bringt mir Ellie nicht zurück. Jedoch zu wissen, dass du jeden Tag am Ort des Geschehens aufwachst, ist mir Rache genug…“, flüstert der Mann John zu und steht langsam auf. Vorsichtig verstaut er die Waffe wieder in seiner Tasche und zieht sich die Kapuze über den Kopf. Er kehrt John den Rücken zu und verschwindet in die dunkle Nacht. John weiß nicht, wie ihm geschieht. Entgeistert springt er auf und schreit: „Halt, nein! Bitte tu es. Bring es zu Ende!“ Erneut schießen ihm Tränen in die Augen und er sieht dem Mann hinterher, dessen Leben er zerstört hat und beginnt schmerzerfüllt zu schreien.

„John? JOHN! Was ist mit dir?“, ruft Pete, der aus dem Schlaf geschreckt ist und vollkommen irritiert zu seinem Freund herüberstarrt. Er rappelt sich auf und eilt zu John, der neben seinem Schlafplatz steht und wild herumschreit. Nachdem John nicht auf ihn reagiert, packt Pete ihn an den Schultern und schüttelt ihn, in der Hoffnung zu ihm durchzudringen. Johns verzweifeltes Heulen verklingt und er bemerkt, dass Pete vor ihm steht und auf ihn einredet. Mit Tränen in den Augen weicht er einen Schritt von Pete zurück und versucht seinem Griff zu entkommen. Pete packt ihn fester und schlingt seine Arme tröstend um ihn herum. John versucht die Situation zu begreifen, während er die Nähe zulässt und sich schluchzend in der Schulter des alten Mannes vergräbt. „Was hast du John? Mit wem hast du gesprochen?“, fragt Pete besänftigend. „Er war hier…“, flüstert John gebrochen und ergänzt leise: „Vor zwei Jahren, an dieser Kreuzung. Ich bin schuld daran, dass Ellie gestorben ist.“ Pete löst sich von der Umarmung seines Freundes und lauscht ihm aufmerksam zu. In diesem Augenblick bemerkt er das Smartphone in Johns Hand und fragt entrüstet: „Hast du in meiner Tasche rumgewühlt? Gib das her!“ Er greift nach dem Handy und erhält es ohne Widerstand. Nachdem Pete das Gerät kurze Zeit stillschweigend in der Hand hält, seufzt er. „Ich muss dir etwas sagen John. Hör mir gut zu!“ Aufgewühlt und noch voller Schmerz versucht er seinem Freund Aufmerksamkeit zu schenken. Pete sieht die Erschöpfung, Gleichgültigkeit und das Leid in Johns verhärmtem Gesicht.

„Ich habe dir das nie gezeigt, weil ich Angst davor hatte, was es mit dir anstellen würde.“ Pete dreht das Handy in seiner Hand und entfernt die Schutzhülle. Zwischen Hülle und Handy zieht er etwas heraus und hält es John hin. „Was… wie kann das sein,“ stottert John mit weit offenen Augen. Seine Gesichtszüge entgleisen ihm und er scheint vollkommen die Fassung zu verlieren. Pete blickt ihn mitleidig an. „Vor zwei Jahren, einige Wochen bevor wir uns trafen, passierte an dieser Kreuzung ein fürchterlicher Unfall. Dabei ist ein junges Mädchen gestorben. Am nächsten Tag fand ich dieses Telefon im Gebüsch und nahm es mit. Es ist leider bei dem Unfall kaputt gegangen, aber das hier konnte ich retten.“ Was ihm Pete vor Augen hält ist ein Foto. Er nimmt es mit zittrigen Fingern und ungläubigem Blick entgegen. John betrachtet eine glückliche Familie. Dieser Anblick gibt ihm ein warmes Gefühl der Geborgenheit und gleichzeitig einen stechenden Schmerz in die Brust. In der Mitte dieses Familienportraits steht ein kleines Mädchen, dessen Lächeln das ganze Foto erhellt. Vater und Mutter halten das Kind an den Händen und vervollständigen das Bild einer perfekten Familie. John ist wie gebannt von diesem Foto und kann seinen Blick nicht abwenden. „Ist das der Mann mit dem du vorhin gesprochen hast, John? Erkennst du ihn wieder?“, fragt Pete forschend und deutet mit seinem Finger auf das Foto. „D…das ist er! Das ist Ellies Vater. Woher kennst du ihn?“, möchte John verzweifelt wissen und sieht sich den Mann auf dem Portrait schwermütig an. „Der Mann auf dem Foto… das bist du, John“, flüstert Pete sanft. „Du hast vor zwei Jahren deine Tochter verloren.“ Die Worte sind wie tausend Messerstiche in Johns Herz. Plötzlich sieht er das Foto mit ganz anderen Augen und er spürt, wie seine Vergangenheit ihn wieder einholt. Die Erinnerungen und Gefühle brechen über ihn zusammen und es kommt ihm so vor, als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegreißen. „Geh!“ sagt John aufgelöst und drückt seinen Freund von sich weg. „John“, ächzt Pete „du kannst mich loswerden, aber vor dir selbst kannst du dich nicht verstecken!“ „Geht weg! Lasst mich alle in Frieden!“, brüllt John hasserfüllt und stößt Pete voller Wucht auf die Straße, wo er reglos liegen bleibt.

John sinkt zu Boden und bleibt apathisch auf seinem Schlafplatz sitzen. Er wühlt nach dem Tütchen mit dem Stoff und bereitet sich einen Schuss vor.

‚Dass ich dich nicht ins Kino gefahren habe, kann ich mir niemals verzeihen! Es tut mir so leid, Ellie. Ich liebe dich… und werde es bis an mein Lebensende tun‘, sind seine letzten Gedanken in dieser Nacht, bevor er die Nadel ansetzt.

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