flipstrohhutSchwarz, ohne Zucker

Schwarz, ohne Zucker

Eine Kurzgeschichte von Philipp Langheinrich

 

Mit einem Hauch von Mandel und Zitrone sei der Boden des Käsekuchens, sagte das junge Mädchen hinter der Theke im Café. Das unterstreiche den frischen Geschmack der Creme besonders gut. Mit einem freundlichen Nicken hatte er den Kuchenteller und seinen einfachen Filterkaffee entgegen genommen und sich an die gegenüberliegende Fensterbank gesetzt. Für ihn war es nicht begreiflich, warum die Menschen heutzutage so ein Taram um einen einfachen Käsekuchen machen mussten. Ein zeitloser Klassiker brauche keine moderne Interpretation, oder wie sie das nennen. Er wollte nur simplen Käsekuchen essen und jeden Bissen mit einem Schluck schwarzen Kaffee hinunterspülen. Schwarz ohne Zucker. So wie ihn die meisten Psychopathen laut einer amerikanischen Studie tranken. Wobei nicht jeder, der seinen Kaffee schwarz trank, ein Psychopath war. Der Zusammenhang ist eher andersherum zu betrachten. Obwohl für ihn eher die Leute nicht ganz dicht waren, die drei oder gar mehr Löffel Zucker in das Heißgetränk mischten. Oder noch schlimmer irgendeinen Sirup.

Obwohl er zugeben musste, dass er bislang keine solcher Diabetes-Orgien bei einem seiner Patienten beobachten konnte. Als Pfleger in der geschlossenen Anstalt der Odebrecht Stiftung Greifswald traf er jeden Tag auf Menschen, die gravierende psychologische Probleme hatten. Dabei war die Reichweite aber auch sehr groß. Von depressiven und selbstmordgefährdeten Menschen bis hin zu solchen, deren Geist einfach nur gebrochen war. Als er seine Ausbildung zum Fachkrankenpfleger im Bereich Psychiatrie anfing, hatte er zwar gewusst, dass das Leben manchen Menschen nicht gut mitspielte. Aber erst im Laufe der Zeit hatte er gelernt, wie unterschiedlich sich das äußern kann. Im wahrsten Sinne des Wortes war der Fantasie dabei keine Grenzen gesetzt.

Einige Patienten litten unter solch irrwitzigen Wahnvorstellungen, dass er teils sehr lange gebraucht hatte, um das zu verarbeiten und zu verstehen. In manchen Fällen verstand er es bis heute nicht. Was aber auch gar nicht seine Aufgabe war. Dafür waren die Ärzte und Therapeuten zuständig. Er kümmerte sich um die Pflege und das Alltägliche. Und währenddessen konnte er auch mal einen Kaffee in der kleinen Cafeteria auf dem 1902 erbauten Gelände genießen. Ab und an sogar mit einem der vernünftigen Patienten.

Wobei vernünftig auch wieder etwas urteilend wirkte. Aber manche Menschen waren nur an diesem Ort, weil sie eine schlechte Zeit durchmachten. Nicht jeder, der sich selbst das Leben nehmen wollte, ist automatisch verrückt und gehört weggesperrt. Aber diese Menschen benötigen eben medizinische Hilfe. Und da ist ein ganz normaler Alltag mit Küchendienst und Kaffeepause ein probates Mittel. Das schlimmste, was man solchen Menschen dann antun konnte, war, sie plötzlich nicht mehr als normale Menschen zu behandeln. Immer wieder den Finger in die Wunde zu legen, dass sie ja anders sind. Auf eine gewisse Weise waren sie das zwar. Aber in erster Linie entstanden solche drastischen Handlungen durch negative Gefühle wie Einsamkeit, Trauer, Wut. Und die entstanden auch, wenn jemand alleine mit sich selbst und seinen Gedanken gelassen wurde.

Es war sein freier Tag und den wollte er dieses Mal nicht auch in der Cafeteria der Anstalt verbringen. Auch wenn er direkt am Gelände wohnte und eh nichts besseres zu tun hatte. Der Frühling schien aber endlich zu kommen und er nutzte das sonnige Wetter für einen Spaziergang zu dem historischen Kern der Hansestadt. Es war das erste Mal, seit er vor einigen Wochen in den hohen Nordosten der Bundesrepublik gezogen war, dass er sich mehr als hundert Meter von seiner Wohnung oder der Arbeit entfernt hatte. Obwohl er Greifswald auch aufgrund des guten Rufs und des schönen Stadtbilds ausgesucht hatte. Eine Universitätsstadt mit einer der modernsten Kliniken Europas, einem Landesmuseum, Hafen, Strandbad und nicht zuletzt einen Burger King Lieferdienst seit Anfang der 2000er. Über zehn Jahre bevor der erste “offizielle” Lieferdienst in Osnabrück 2016 getestet wurde. Er mochte solch kleine kuriose Geschichten an Städten. Daher entschied er sich nach seiner Ausbildung für die knapp 60.000 Einwohner Stadt zwischen den Ostseeinseln Rügen und Usedom.

Er blickte hinaus auf den Fischmarkt in der Greifswalder Innenstadt. Junge Eltern nutzten ebenfalls das gute Wetter und waren mit ihren Kinderwagen samt Sprösslingen an das kleine, quadratische Brunnenbecken gekommen. Manche Kinder standen sogar barfuß im Wasser und tollten um die Statue eines Fischers, seinen Söhnen und der wartenden Frau herum. Gegenüber bei dem Italiener saßen auch einige Menschen in der Sonne, die auf der Seite aber schon bald weg sein dürfte. Dennoch sah es schick dort aus und er machte sich eine gedankliche Notiz, in dem Restaurant einmal Pizza essen zu gehen.

Zuvor war er bereits durch die alten, gepflasterten Handelsstraßen geschlendert, die sich in alle Himmelsrichtungen vom historischen Markt abstrecken. Hat sich die Kirchen angeschaut und auch den Museumshafen, der an dem Fluss Ryck liegt. Dort waren ebenfalls viele Menschen auf einer Art Entspannungspromenade gewesen und genossen die Sonnenstrahlen. Anschließend war er zu diesem Bäcker gegangen, den er auch bereits aus anderen Städten kannte. Normalerweise war der Käsekuchen bei dieser Kette immer so, wie er ihn mochte.

Nachdem er auch den letzten Bissen mit seinem schwarzen Kaffee heruntergespült hatte, stand er auf, stellte seinen Teller und seine Tasse auf ein Serviertablett im Geschirrwagen und verließ den Laden. Er hatte fürs Erste genug gesehen von seiner neuen Heimat. Über die Fleischerstraße, vorbei am Wall, der als letztes Überbleibsel der Stadtmauern die Innenstadt noch umschloss und vorbei am Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium, eine der ältesten Schulen Deutschlands. So viel Historie in solch einer kleinen, gemütlichen Stadt hatte er sich gar nicht ausgemalt. Aber er hatte sich immer wieder belesen in seiner Freizeit und wollte gut vorbereitet sein für seinen ersten Ausflug. Die alten Gemäuer wirkten auch aus einer ganz anderen Zeit. Fast schon paradox und ironisch wirkte dazu die kleine Dönerbude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Einige Schüler holten sich gerade noch ein spätes Mittag, wie es schien. Er hatte den Nachmittagsunterricht gehasst.

 

Die Gützkower Straße führte ihn durch die Fleischervorstadt über alte Bahnschienen wieder zurück zur Odebrecht Stiftung. Unterwegs blieb er mehrmals stehen und sah sich in der Umgebung um. Er hatte so ein komisches Gefühl, beobachtet zu werden, konnte aber niemanden ausmachen. Keinen Verfolger, aber auch keine Passanten, die ihn einfach nur musternd angeschaut hätten. Wie ein abwehrender Reflex zog er seine Jacke etwas enger um sich, als wäre ihm kalt. Obwohl die Sonne immer noch Stärke hatte und die Strahlen sein Gesicht wärmten. Etwas mehr als eine halbe Stunde hatte er für den Weg gebraucht. Nun war er geschlaucht und froh, wieder zurück in seiner kleinen Ein-Zimmer-Unterkunft zu sein. Die Stiftung bot ihm direkt bei der Einstellung an, vorübergehender Weise diese Unterkunft zu beziehen. Der Wohnungsmarkt wäre hart umkämpft und er sollte so früh wie möglich anfangen, dort zu arbeiten. Er warf seine Jacke auf den Stuhl, der an dem minimalistischen Küchentisch stand und legte sich auf sein gemachtes Bett. Schloss kurz die Augen. Wollte nur kurz entspannen.

Er wusste nicht, wie lange er auf seinem Bett gelegen hatte. Als er aufwachte, war ihm speiübel und er eilte zur Toilette. Nachdem nach mehreren Minuten nichts aus seinem Körper auf irgendeine Weise herauskam, gab er es auf und schleppte sich zurück zu seinem Stuhl am Küchentisch. Hatte er einen Sonnenstich bekommen? Er schnappte sich das Glas Wasser, was noch vom Vormittag dort stand und nahm einen Schluck. Als er das Glas zur Hälfte geleert hatte, hielt er inne. Im Augenwinkel sah er etwas aufblinken. Eine kleine Leuchte schimmerte unter dem Küchenhandtuch hindurch, dass am anderen Ende des Tisches über die Ecke lag. Dem Umriss nach zu urteilen musste es sich um ein Mobiltelefon handeln. Aber seins lag doch auf dem Nachttisch neben seinem Bett? Er drehte sich ruckartig um, merkte dabei stechende Kopfschmerzen und suchte mit seinem Blick nach seinem Handy. Aber es lag dort nicht, wo es seiner Meinung nach hätte liegen sollen. Er drehte sich wieder zurück und hob das Handtuch an. Zweifelsohne war dies sein Smartphone. Irritiert nahm er es auf und schaute auf die kleine Leuchte am oberen Rand. Normalerweise hatte er alle Benachrichtigungs-Feature ausgeschaltet. Also kein Klingeln, kein Vibrieren und auch kein Leuchten. Mit dem Daumen seiner rechten Hand entsperrte er das Display per Touch. Er sah, dass eine Social Media App für Fotos und Bilder geöffnet war. Er kannte die App, hatte sie aber nie selbst genutzt und wüsste auch nicht, dass er sie überhaupt installiert hatte. Noch mehr verwunderte ihn das Bild, was ihm angezeigt wurde. Es zeigte ihn vor einem alten Segelschiff am Museumshafen, den er vorhin besucht hatte. Darüber der Name, unter dem das Bild gepostet wurde: Ed_Dakota_†. Das war nicht sein Name.

Schockiert starrte er das Foto noch einige Sekunden an. Ein leichtes Zittern breitete sich in seiner Unterlippe aus. Und es wurde stärker, als er in der oberen linken Ecke ein weiteres kleines Bild von sich in einem Kreis sah. Deine Story stand darunter geschrieben. Er klickte auf den farbigen Kreis und es öffnete sich eine Reihe von Bildern. Alle von ihm. Alle von seinem Tag, den er in der Innenstadt verbrachte hatte. Aber er konnte sich weder daran erinnern, einen Döner gegessen zu haben, noch über den Wall und zwischen Bäumen entlang gegangen zu sein. Und immer scheint es, als hätte jemand anderes die Fotos von ihm geschossen. Er ließ das Handy ganz plötzlich fallen. Als wären seine Hände auf einmal zu schwach, um das kleine Gerät zu halten. Das kleine Symbol am Ende des Namens war nur die Kirsche auf dem Eisbecher namens Grauen. Das Zeichen für verstorben. Was hatte das zu bedeuten? War er unterwegs etwa in einen Unfall oder etwas ähnlichem verwickelt und lag nun im Koma? Träumte er das gerade nur? Oder war gar direkt gestorben und so sah das Leben nach dem Tod aus? Aber er war nicht Ed Dakota. Und er hatte den Namen nie zuvor gehört. Er klang ja noch nicht einmal deutsch. Er verstand die Welt nicht mehr. Wimmernd schlug er die Arme über seinen Kopf zusammen und sackte auf dem Stuhl nach unten. Das Blinken der Benachrichtigung war erloschen.

 

Martin Unge saß im Aufenthaltsraum für die Pfleger der Odebrecht Stiftung und aß gerade seine Käsestulle, die er sich als Abendessen von zu Hause mitgebracht hatte. Obwohl seine Schicht gerade erst begonnen hatte, konnte er sich ein wenig zurücklehnen. Alle aktuellen Patienten waren bereits von der Mittelschicht versorgt worden. Die Übergabe war also ganz in Ruhe erfolgt. Das war nicht immer so. Manchmal hatten sie regelrechte Notfälle, wenn Patienten starke Anfälle bekamen und auf Pfleger oder Aushilfen losgingen. Er war dankbar, dass es heute bisher nicht so war. Sein neuester Patient war nämlich ein Extremfall und verlangte fast rund um die Uhr persönliche Betreuung. Zum Glück hatten sie gerade einige Schülerinnen der Schwesternschule zum Pflichtpraktikum da, die ihnen dabei behilflich sein konnten. Es musste lediglich jemand ein Auge auf den Patienten haben. Martin Unge nahm den letzten Bissen seiner kleinen Mahlzeit und stand auf. Er war gefühlt sein ganzes Leben Pfleger in der Psychiatrie gewesen und wusste, dass man solch ruhigen Minuten sehr gut nutzen sollte. Gerade in seinem hohen Alter. Aber er wusste auch, dass das nächste Unheil nur einen Bruchteil einer Sekunde entfernt sein konnte. Daher durfte er den Fokus nicht verlieren, was besonders in der Spät- und in der Nachtschicht teils schwierig war. Er ging hinüber zu der großen Kaffeekanne, nahm sich einen der nebenstehenden Becher und ließ die schwarze Flüssigkeit aus dem Behälter bis zu dreiviertel in die Tasse fließen. Den Rest füllte er mit Milch und drei Stück Zucker auf. Auch wenn er es besser wusste, aber er bildete sich ein, dass das Koffein so schneller ins Blut geriet. In seiner Zeit in der Medizin war er ein regelrechter Fan von Placebo-Effekten geworden. Gerade im Einsatz bei Patienten war dies teils Gold wert. In ihrer Verwirrtheit konnte er den armen Seelen vorgaukeln, ein einfacher Schluck Wasser wäre ein Abführmittel. Und es wirkte tatsächlich. Manchmal fragte er sich, zu was der Mensch noch alles im Stande wäre, wenn wir unsere Blockaden, Ängste und Hemmungen im Gehirn einfach täuschen konnten. Was wir bewerkstelligen könnten, wenn wir nur daran glaubten oder jemanden hätten, der uns daran glauben ließ.

Ganz in Gedanken versunken stand Martin Unge noch immer vor der Kaffeemaschine, als eine der jungen Schülerinnen in den Pausenraum hinein stürmte. “Herr Unge, Herr Ung…,” sie war so außer Puste, dass sie keinen vollständigen Satz herausbringen konnte. Sie musste ziemlich in Eile gewesen sein, dachte sich der Pfleger. Und es musste etwas passiert sein, soviel stand fest. Er legte seine Hände auf ihre Schultern, um ihr zu signalisieren, dass alles gut wird. Es war noch immer alles gut gegangen. “Ganz ruhig, Irene. Atme erst einmal tief durch und dann sagst du mir kurz und knapp, was los ist.” Nach all den Jahren als Pfleger konnte ihn so schnell nichts mehr aus der Ruhe bringen. Und dies strahlte er immer zu aus, was sich auch auf seine Kollegen abfärbte. Die junge Frau vor ihm holte tief Luft und schloss für einige Sekunden die Augen. Anschließend versuchte sie es noch einmal:” Herr Unge, kommen Sie bitte sofort mit zu Herrn Brandenburg. Ich brauche Ihre Hilfe!” Die Miene von Martin Unge verdunkelte sich. Das war dieser Sekundenbruchteil vor dem nächsten Unheil. “Was ist denn passiert, wenn ich erstmal fragen darf?” Er versuchte, weiterhin mit Ruhe und Gelassenheit die Situation anzugehen. Aber der Gesichtsausdruck von Irene Schmidt verriet, dass doch eher Eile geboten war: “Er hat versucht, sich das Leben zu nehmen!”

 

Im nächsten Moment fand sich Martin Unge bereits im Zimmer des Patienten wieder. Etienne Brandenburg war erst seit kurzem in der Odebrecht und entpuppte sich als gruselige Motte eines Bedürftigen. In der Regel war er ein ganz normaler, junger Mann, mit dem sich die Pfleger sogar über alles mögliche in der Cafeteria der Stiftung unterhalten konnten. Aber es gab auch dunkle Momente, die dazu führten, dass ein völlig anderer Mensch vor einem stand. Sogar die Gesichtszüge änderten sich im Wahn soweit, dass Martin Unge anfangs dachte, er hätte zwei neue Patienten bekommen und niemand hätte ihm Bescheid gesagt. Einmal war er drauf und dran, die Polizei zu rufen, als er die dunkle, zu dem Zeitpunkt noch unbekannte Seite an Etienne Brandenburg in dessen Zimmer vorfand. Er dachte schlicht, jemand wäre in das Gebäude eingebrochen. Obwohl bei der Anamnese bereits von einer ausgeprägten Schizophrenie die Sprache war, hatte er in all den Jahren so etwas noch nicht in diesem Ausmaße erlebt.

Als der Pfleger sich umsah, fand er seinen Patienten vor dessen Bett knien, das Gesicht auf die Matratze gedrückt. Die Arme lagen schlaff neben seinem Kopf, die Handflächen leicht gegeneinander gedrückt. Es sah aus, als hätte der Junge eben noch gebetet. Aber wenn hatte er sich wohl eher an Satan gewendet, schoss es Martin Unge durch den Kopf. Das Laken war in Blut getränkt und am linken Unterarm klaffte eine bestialische Wunde. Eine Bisswunde.

Er richtete sich an den Patienten vor sich und überprüfte dessen Bewusstsein: “Hörst du  mich? Kannst du mich hören?” Er schüttelte den Mann leicht. Als er keine wirkliche Reaktion außer eines ausdruckslosen Blickes bekam, zog er ihn vom Bett weg. Legte ihn sanft auf den Boden und zog den Stuhl neben dem Bett heran, worauf er dessen Beine erhöht ablegte. Den verwundeten Arm hielt Martin Unge ausgestreckt nach oben, um den Blutfluss zu verringern. Drückte provisorisch ein Stück blutgetränktes Laken auf die Wunde.

“Ich wollte nur kurz frisches Trinkwasser holen. Da hatte er noch ruhig geschlafen.” An der Stimme erkannte der Alte, dass die Schülerin sichtlich aufgewühlt und geschockt war. “Aber als ich wiederkam, kauerte er so vor seinem Bett, flehte um Vergebung und im nächsten Moment biss er sich selbst die Pulsader auf.” Sie schluchzte. Martin Unge wusste genau, was in dem jungen Mädel gerade vor sich geht. Seine erste Begegnung mit einem Suizidversuch war ebenso einschneidend gewesen. Deswegen wusste er, dass sie sofort handeln mussten. “Hast du schon den Alarm für den Notarzt gegeben?” Irene nickte nur mit nassen Augen. “Gut, das ist schonmal die halbe Miete. Das viele Blut sieht meist schlimmer aus, als man denkt. Das Laken hat sich vollgesogen und dadurch sieht die Sauerei nach mehr aus, als es vielleicht ist. Trotzdem müssen wir die Blutung stoppen. Hol mir sofort den Verbandskasten!” Als die Schülerin in wenigen Sekunden zurückkehrt, befahl er ihr sofort, ihm ein steriles Tuch aus dem Verbandskasten zu geben. Er drückte die Wunde weiterhin so gut es ging ab und ließ sie einen Druckverband darum wickeln. Als sich dieser nach und nach ebenfalls rot gefärbt hatte, wiederholten die beiden die Maßnahme und redeten immer wieder auf den Patienten ein, um ihn halbwegs bei Bewusstsein zu halten. Zumindest dessen Augen reagierten auf die Stimmen seiner Retter. Aber er selbst blieb die ganze Zeit stumm.

 

Er saß gerade wieder einmal in der Cafeteria der Stiftung und hatte wie immer ein Stück Käsekuchen vor sich, dass er bereits zur Hälfte vertilgt hat. Ganz in Gedanken versunken piekste er mit der Gabel in der cremigen Masse herum, wie ein Angler auf der Suche nach Würmern in schlammiger Erde. Einige Tage sind vergangen, seitdem der junge Pfleger die Bilder von sich auf dem fremden Account gesehen hatte. Aber er hatte nicht herausgefunden, wem dieser Account gehörte und warum dieser überhaupt auf seinem Mobiltelefon geöffnet war. Zu seinen neuen Kollegen hatte er bisher keinen wirklichen Draht gefunden, hatte noch keinen Verbündeten für sich gewonnen, wie er das in der Ausbildung gerne bezeichnet hatte. Man bräuchte immer eine Vertrauensperson, war seine Meinung. Nur hatte er diese eben noch nicht gefunden. Lediglich mit einer der Schülerinnen, die hier gerade ihr Pflichtpraktikum machte, unterhielt er sich ab und an. Mit ihr verstand er sich relativ gut und sie besuchte ihn sogar hin und wieder in seinem kleinen Apartment. Aber da ihre Zeit hier begrenzt war, vermied er es, zu viel Nähe zwischen sich aufzubauen.

Zusätzlich waren die Tage durch den versuchten Selbstmord eines Patienten, den er nur am Rande über die Gespräche der anderen mitbekommen hatte, sehr wild gewesen. Da wollte er sich nicht irgendwie aufspielen. Er kam sogar zu der Idee, dass der Account und die Bilder vielleicht einfach nur eine Art verspäteter Willkommens-Scherz sein konnte. Immerhin war vor kurzem der 1. April gewesen und es wäre ja möglich, dass durch die Aufruhr der letzten Tage jemand einfach nur vergessen hatte, ihn aus seinem alptraumhaften Scherz mit April, April zu erlösen. Sollte es tatsächlich so gewesen sein, hatte der- oder diejenige das Ziel damit auf eindrucksvolle Weise erreicht. Er konnte sich auch gar nicht so recht daran erinnern, was er eigentlich nach dem Schock gemacht hat. Allgemein waren seine Gedanken seitdem etwas rastlos und er konnte sie gar nicht richtig greifen, wodurch die Zeit einfach nur so dahin zu scheiden schien.

Er entschloss sich gerade, die Gabel wieder als Schaufel zu verwenden und den Kuchen auf zu essen, als ihn die Stimme der jungen Frau hinter ihm aus den Gedanken riss. “Wie geht es dir heute?” Er drehte sich halb herum und beobachtete, wie die Schülerin den Stuhl neben ihm unter den Tisch hervor zog und sich neben ihn setzte. Er fand ihren Namen schön, aber gleichzeitig auch irgendwie altbacken. Mal klang er wie eine sanfte Melodie in seinen Ohren, aber zeitweise löste der Name auch die Vorstellung einer älteren Frau mit kratzbürstiger Attitüde hervor. “Hallo Irene, mir geht es gut. Und selbst so?” Er steckte sich eine Gabel voll Käsekuchen in den Mund ohne seinen Blick von der jungen Frau abzuwenden. “Mir geht es auch gut,” antwortete sie kurz und knapp und schob sich mitsamt des Stuhls dichter an den Tisch. “Du hast sicher mitbekommen, was die Tage hier passiert war oder?” Er richtete seinen Blick wieder nach vorne und nickte etwas hastig. Sein Mund war voller Creme und ein wenig Kuchenboden, weswegen er nicht unfreundlich sein wollte und schnell einen Schluck Kaffee nahm, der ebenfalls vor ihm stand. “Ja, habe ich. Schlimme Sache. Wie geht es dem Jungen?” Er schaute Irene wieder an und sah in ihren Augen eine Art Sorge. “Er scheint sich ganz gut erholt zu haben. Die Verletzung war am Ende dann doch nicht so schlimm, wie sie anfangs aussah.” Er bemerkte ihre Unruhe in der Stimme. Kein Wunder, sie hatte den Burschen ja versorgt, als der sich das Leben nehmen wollte. “Stimmt es, dass der Patient sich selbst die Pulsadern aufbeißen wollte? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das wirklich geht. Obwohl mich als Pfleger mittlerweile nur noch wenig überraschen kann.” Die Vorstellung, wie sich jemand selbst in den Unterarm beißt und blutüberströmt dann einfach nur da liegt, durchkreuzt seine Gedanken. Wenig beeindruckt davon setzte er seine Gabel wieder zur Baggerfahrt an und hievte sich das letzte Stück des Kuchens fast bis in den Rachen.

“Ja, das hat er wirklich getan.” Er hörte, wie die Stimme von Irene leicht zittrig wurde. Der Vorfall schien nicht einfach so an ihr vorüberzugehen. Aber daran musste sie sich gewöhnen, dachte er sich. “Aber den Anblick werde ich wohl nie wieder vergessen, ganz im Gegenteil zu dem Patienten.” Er sah sie aus dem Augenwinkel an. Sie hatte noch viel zu lernen, sollte sie wirklich eine Karriere als Pflegerin der Psychiatrie anstreben. “Das ist ein ganz normaler Reflex, den viele Patienten haben, wenn sie etwas Traumatisches verarbeiten. Besonders bei denen mit einer ausgeprägten Schizophrenie, wie dieser Junge. Und wenn er, wie ich gehört habe, tatsächlich eine Stimme gehört hat, die ihm das befohlen hatte, dann ist seine Krankheit sehr weit ausgebreitet.” Nachdem er auch seinen Kaffee aus hatte, drehte er sich leicht zu der jungen Schülerin herum. Wie alt mochte sie sein? 18 oder vielleicht 19? “Ich habe mitbekommen, dass Doktor Hildebrandt die Vermutung aufgestellt hat, dass es sich nicht nur um eine Schizophrenie handelt, wie sie bei der Anamnese eingetragen wurde. Das Verhalten könnte auf weitere psychische Erkrankungen hindeuten, wie eine gespaltene Persönlichkeit.”

Nachdenklich nickte er nur und starrte an der jungen Frau vorbei ins Leere. Das wäre eine Möglichkeit, die es durchaus gilt in Betracht zu ziehen. Aber dieser Etienne Brandenburg, den Namen hatte er von Irene gehört, war nicht sein Patient und er war auch nicht der Arzt, der die Diagnose am Ende stellen sollte. Eigentlich hatte er es auch nicht darauf abgesehen gehabt, irgendwelche Gespräche über diesen Vorfall mit jemanden zu führen. Er hatte schließlich sein eigenes Rätsel zu lösen. Aber Irene war eben die einzige, mit der er ab und an ein Wort wechselte. Und er wollte eben nicht unhöflich sein und sie gleich wieder wegschicken. Aber jetzt bemerkte er, wie müde ihn das ganze Nachdenken gemacht hatte und er beschloss, sich für ein kleines Nickerchen in seine Wohnung zurückzuziehen. “Das wäre schon ziemlich schlimm für den Burschen. Aber ich kenne ihn ja gar nicht. Und wenn du mich entschuldigst, ich würde mich gerne ein wenig hinlegen, bevor ich später die Nachtschicht antrete.” Ohne eine Antwort der Schülerin abzuwarten, stand er auf, räumte sein Geschirr weg und ging. Er spürte ihre besorgten Blicke auf seinem Rücken, aber was sollte er machen? Der beste Pfleger oder Arzt der Welt konnte solch einer Seele in der Regel nur noch schwer helfen.

 

Obwohl vor wenigen Wochen erst die Uhr wieder umgestellt wurde und es abends nun länger hell war, zeichneten sich lange, dunkle Schatten durch die Gänge der Odebrecht Stiftung. Irene Schmidt hatte gerade ihren letzten Patienten für heute versorgt und an die Sitzwache übergeben. Das sind einfache Studenten oder gar Schüler, die sich ein paar Euros dazu verdienen wollten. Sie passten meistens nachts auf die Patienten auf, indem sie einfach nur neben deren Betten saßen und Bescheid gaben, wenn diese schwere Anfälle bekamen. Auf diese Weise mussten die wenigen Pfleger der Nachtschicht nicht jeden Ernstfall einzeln beobachten, was auch gar nicht möglich gewesen wäre. Stattdessen werden die Patienten ruhig gestellt. Aber es kann eben mal vorkommen, dass die Maßnahmen nicht die gewünschten Ergebnisse zeigen. Dafür ist die Sitzwache dann vor Ort und schlägt Alarm. Ganz extreme Härtefälle wurden über Nacht gar fixiert und bedurften daher keine zusätzliche Bewachung.

Abends und erst recht nachts konnte es auf den Fluren richtig unheimlich werden. Nicht wenige der Patienten neigten dazu, seltsame Geräusche von sich zu geben. Und die Ruhe der Nacht schien dies noch zu verstärken. Als würde die Dunkelheit eine Art Wand bilden und das Echo umso stärker zurückwerfen. Da halfen auch die schummrigen Lichter der Station nicht. Eigentlich machten die das Ganze nur noch schlimmer, dachte sie.

Irene hatte so eine Art knisterndes Gefühl vernommen, obwohl nirgends ein Feuer oder ähnliches aufgebaut war. Aber irgendwas lag in der Luft. Sie wurde richtig ängstlich, als sie in die Umkleide der Schwestern ging, um sich für den Feierabend fertig zu machen. Vor dem Fenster des Raumes stand ein hochgewachsener Baum, der noch nicht so schön frühlingshaft blühte wie einige seiner Artgenossen. Der raue Wind und der Regen des typischen Aprilwetters ließen die Äste immer wieder wie lange Krallen gegen das Glas peitschen. Ihre Angst wuchs und drückte ihr richtig auf die Kehle. Die junge Schülerin wollte nur noch nach Hause, ein warmes Bad nehmen und sich in ihr Bett kuscheln. Ganz fest unter der dicken Decke, wo sie kein Monster dieser Welt würde erreichen können.

Sie zog gerade ihren dicken Pullover über ihren Kopf, als die Tür zu dem Zimmer leicht aufging. Das sonst so verräterische Knarren der alten Massivholztür konnte sie daher nicht hören. Mit einem Ruck am unteren Rand des Pullovers ragte ihr Kopf oben aus dem Kragen heraus und steckte in der Kapuze, wodurch ihr Sichtfeld eingeschränkt war. Sie war gerade dabei gewesen, sich umzudrehen, um nach ihrer Jacke an der Garderobe zu greifen, als sie die Gestalt vor ihr erblickte und lauthals schrie.

“Psst, psst…! Ganz ruhig, ganz ruhig, Irene. Ich wollte dich nicht erschrecken, entschuldige.” Martin Unge sah in das blasse Gesicht des Mädchen, was ihn für eine Sekunde an ein berühmtes Bild von Edvard Munch erinnerte. “Bist du verrückt, mich so zu erschrecken? Und was machst du überhaupt hier, das ist die Frauenumkleide.” Irene war sichtlich verärgert und ihr Gesicht wechselte von kreidebleich in ein angestrengtes Rot, was dies zusätzlich verdeutlichte. “Ich weiß, ich weiß. Aber ich habe geklopft und deinen Namen gerufen, aber keine Antwort bekommen. Da dachte ich, dass vielleicht etwas passiert sei und hab deswegen die Tür geöffnet.” Er hob entschuldigend die Hände und Schultern nach oben und legte seinen besten Hundeblick auf, den er zur Verfügung hatte. Die Schülerin blieb eine Weile stumm und starrte ihn nur an, bis sie doch nachgab und seufzte. “Mach das nie wieder, ich warne dich. Ich nehme keine Rücksicht auf dein Alter dann und kann für nichts garantieren.” Martin Unge lächelte verlegen und lehnte sich nun an den Türrahmen. Er schaute der jungen Frau zu, wie sie ihre Jacke vom Haken nahm und die Arbeitsklamotten in ein kleines Fach stopfte, das ihr zugewiesen sein musste. “Also, du bist sicher nicht ohne Grund hergekommen. Was willst du, Martin?” Sein Lächeln erlosch wieder und er stieß sich mit der Schulter vom Rahmen der Tür ab und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er zögerte kurz, ehe er dann doch zur Sprache kam: “Du hast dich doch heute mit.. mit.. Stefan? Stefan war sein Name oder? Mit Stefan unterhalten. Sicherlich auch über… du weißt schon, über Etienne Brandenburg oder? Was hat er dazu gesagt?”

Er streckte seinen Kopf aus der Umkleide und schaute nach links und rechts auf den Gang hinaus, als ob er gerade dabei war, für jemanden Schmiere zu stehen. Dann sah er Irene mit großen Augen an und wartete auf eine Antwort. “Naja, ja, ich habe kurz mit ihm gesprochen. Er scheint davon absolut nichts mitbekommen zu haben. Nur das Etienne sich das Leben nehmen wollte. Aber ihn scheint das komplett kalt zu lassen und nicht zu kümmern.” Martin nickte langsam, während er die Arme verschränkt am Körper hielt. “Das ist echt krass, wenn ich das so neudeutsch ausdrücken soll. Wie kann das sein, dass ihn das so überhaupt nicht berührt? Dass er das gar komplett zu verdrängen scheint?” Sein Nicken ging über in ein unverständliches Kopfschütteln. In all seiner Zeit als Pfleger hatte er immer versucht, den nötigen Abstand zu Patienten zu wahren, um sich nicht zu sehr emotional mit jemanden zu verbinden. Aber immer war das nicht möglich. Und selbst der abscheulichste Mensch als Patient erregte meistens doch zumindest ein wenig Mitleid in ihm aufgrund der geschundenen Seele, die ihm inne wohnte. So auch Etienne Brandenburg.

“Ich kann dir das leider auch nicht beantworten, Martin.” Irene war gerade dabei, ihre bequemen Arbeitslatschen gegen ihre modischen Sportschuhe zu tauschen. Ihm war klar, dass sie nur noch nach Hause wollte. Aber die ganze Angelegenheit beschäftigte ihn dann doch mehr, als er zunächst geglaubt hatte. “Du bist die einzige, mit der er normal redet. Hast du sonst irgendetwas Auffälliges an ihm oder seinem Verhalten gemerkt?” Martin Unge sah, wie die junge Frau sich den Reißverschluss der Jacke zu zog und eine Geste machte, dass sie nun gerne die Umkleide verlassen und nach Hause gehen möchte. “Ich habe nichts weiter gemerkt. Er aß seinen Käsekuchen und trank wie immer seinen schwarzen Kaffee ohne Zucker. Er war eben.. Stefan. So wie er hier die ganze Zeit Stefan ist. Und ich muss jetzt wirklich los, sonst verpasse ich den letzten Bus, Martin. Machs gut und bis morgen.” Mit den Worten verabschiedete sich die Schülerin von ihm, winkte verlegen, während sie Richtung Treppenhaus marschierte und verschwand mit knarrenden und polternden Schritten. Die Geräusche der Treppe erinnerten ihn immer daran, dass er mit seinen Anfang Sechzig nicht das älteste Einrichtungsstück in dieser Anstalt war.

 

Ein lautes Klopfen ließ ihn aus seinem Schlaf erwachen. Er öffnete vorsichtig die Augen, als hätte ihn irgendetwas blenden können. Aber er sah nichts anderes als mit geschlossenen. Völlige Dunkelheit umhüllte ihn und hatte den Raum erfasst, wie eine Welle ein kleines Segelboot im Sturm. Und er fühlte sich, als wäre er auf diesem Boot gewesen und nach stundenlangem Kampf an Land gespült worden. Wie lange hatte er geschlafen? Und wer klopfte da ständig? Das Geräusch wurde lauter und die Frequenz höher. Immer penetranter. Normalerweise würde er von solch einem Geräusch nicht geweckt werden, da er fest wie ein Stein schlief. Manchmal hatte er sogar das Gefühl, mehrere Tage am Stück geschlafen zu haben, so sehr fiel er teilweise in die nächtliche Tiefe. Als er sich mit den Armen aufrichten und zur Tür gehen wollte, fuhr ihm ein grausamer Schmerz durch den ganzen Körper. Er schrie leise auf und biss sich krampfhaft auf die Zähne. Schaffte es dennoch, sich aufrecht hinzusetzen. Er versuchte, in der Schwärze des Zimmers irgendetwas aus zu machen. Aber das einzige, was er vernahm, war weiterhin das laute Klopfen. Nur war er sich nicht mehr sicher, ob es wirklich von der Tür zu seinem kleinen Apartment kam. Aber von wo hätte es sonst herkommen können? Er hatte keinen großen Kleiderschrank, indem sich jemand aus Versehen eingesperrt haben könnte. Ungläubig schaute er sich um, ohne dass er etwas hätte sehen können. Er fasste den Entschluss, aufzustehen und den Vorhang am Fenster aufzuziehen, um etwas Licht von den Straßenlaternen hereinzulassen. Eine kleine Nachttischlampe oder ähnliches besaß er nicht und die Deckenbeleuchtung würde seinen Kopfschmerzen nur noch mehr Kraft geben. Er ertastete vorsichtig das große Stück Stoff, von dem er glaubte, es wäre der Vorhang und riss es zur Seite. Wieder durchfuhr ihn ein unbeschreiblicher Schmerz und er hatte Mühe, nicht auf die Knie zu sinken. Vor dem Fenster wütete ein Unwetter. Aber das Geräusch des prasselnden Regens war es nicht, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Der Sturm hatte lediglich zur Folge, dass nicht ganz so viel Licht in seinen Wohnraum hinein gelang wie sonst.

Er sah sich im Zimmer um. Es war nichts zu sehen. Dennoch hörte er weiter dieses Klopfen. Nur hatte es sich von einem Klopfen eher in ein anderes Geräusch verwandelt. Sein Kopf pochte im Inneren aber so heftig, dass er es nicht richtig zuordnen oder definieren konnte. Er drückte seine Handflächen auf seine Schläfen, als hätte er den Schmerz wie einen Pickel ausdrücken können. Augen und Kiefer zusammengedrückt, als machte er sich bereit, dass der große Knall jeden Moment passieren hätte können. Als dies aber nicht geschah, lockerte er seinen Griff und löste die Spannung in seinem Gesicht. Im äußersten Blickwinkel nahm er plötzlich eine Bewegung war. Auf seinem Küchentisch kroch etwas entlang. Er richtete sich wieder, so gut es die Schmerzen zuließen, auf und ging die zwei Schritte hinüber. Eine kleine schwarze Box war dabei, sich selbst in den Abgrund zu stürzen. Und nun konnte er auch endlich das Geräusch zuordnen. Es kam aus dem Inneren der Schachtel und wurde durch ein Vibrieren des Gegenstands darin erzeugt. Ganz behutsam nahm er die in der Dunkelheit fast unsichtbare Box hoch und öffnete sie. Unter dem Deckel lag ein Mobiltelefon. Aber nicht irgendeins, sondern sein eigenes, persönliches Handy. Nur konnte er sich nicht daran erinnern, es jemals in eine solche Box gelegt zu haben. Wieder leuchtete die kleine Lampe am oberen Rand und signalisierte, dass neue Benachrichtigungen eingegangen sind.

Nur zögerlich entsperrte er den Bildschirm via Fingerabdruck. Kniff seine Augen dabei zusammen, so dass er alles nur durch einen vernebelten Schleier sah. Er erkannte das Design der App wieder, die dort geöffnet war. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Die Angst, wieder Bilder zu sehen, die ihn noch weiter ins Ungewisse rissen, wuchs in diesem Augenblick ins Unendliche. Von seiner gelassenen Art, die er zuvor in der Cafeteria gegenüber der Praktikantin gezeigt hatte, war nichts mehr zu spüren. Pure Panik breitete sich in ihm aus. Er öffnete die Augen ganz langsam und erkannte immer mehr, was er da auf dem Bild sah. Sein Atem stockte.

Im gleichen Moment, noch bevor seine Synapsen auch nur irgendeinen logischen Zusammenhang hätten herstellen können, ließ ihn eine Stimme hinter ihm erstarren. “Sieh es dir genau an. Sieh hin. Das warst du. Niemand anderes. Nur du.” Die Stimme klang wie Kratzen von Fingernägeln auf einer Tafel. Kälte ergriff seinen Körper und seine Gänsehaut verstreute wieder den unsäglichen Schmerz in ihm. Nur schwerfällig war er in der Lage, sich umzudrehen. Was vielleicht wenige Sekunden gedauert hatte, kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Ein Teil von ihm wollte sich nicht umdrehen. Einfach so stehen bleiben, die Augen schließen und tief durchatmen, bis wieder alles in Ordnung war. Aber der neugierige Teil in ihm hatte die Oberhand. So starrte er nun in die schwarzen Augen einer Gestalt, die er dachte, nie wieder sehen zu müssen. Es war, als würde er direkt in die Hölle hinab schauen.

 

“Wo bist du denn nur? Wer hat euch eigentlich zuletzt sortiert?” Martin Unge sprach mit den Ordnern vor sich, als er gerade die Patientenakten durchwühlte. Eine kleine Angewohnheit, die er sich in den Jahren angeeignet hatte. In den kalten Gemäuern der Anstalt brauchte es einfach etwas, damit man sich nicht allzu alleine fühlte während einer Nachtschicht. Auch wenn er wusste, dass einige Sitzwachen hier sind und irgendwo auch noch andere Pfleger umher geisterten, sprach er eben ab und an mit Gegenständen. Es half ihm auch dabei, auf die abstrusen Geschichten und geistigen Ergüsse einiger Patienten eingehen zu können. Das wichtigste war eben, dass sich diese Leute nicht missverstanden oder gar einsam fühlten, weil niemand auf sie einging.

Triumphierend hielt er nach einigen Sekunden einen Ordner wie eine Trophäe in die Luft. “Hab ich dich. Jetzt wollen wir doch nochmal nachsehen.” Er schlug die beige-graue Akte aus recyceltem Altpapier auf und las ganz oben den Namen. Etienne Brandenburg. Er blätterte durch die Anamnese und einige Medikamentenzettel, bis er das Blatt gefunden hatte, nachdem er suchte. “Krankengeschichte,” murmelte der Alte vor sich hin. “aufgewachsen in normalen Familienverhältnissen. Bla bla bla. Scheidung der Eltern. Depressive Verstimmung mit 16. Aufnahme in Tagesklinik. Bla bla. Zeigt Anzeichen von Schizophrenie. Asozial. Einzige Bezugsperson ist die Mutter. Bla. Mutter verstarb bei Autounfall.” Martins Blick löste sich von der Akte und ging zu dem Kalender an der gegenüberliegenden Wand. “Der Unfall ist jetzt knapp ein halbes Jahr her. Wenig später wurde er hier eingeliefert. Das muss ihn komplett aus der Bahn gerissen haben, den armen Kerl. Anfangs hatten wir ihn ja komplett dicht gemacht. Er war mehr ein Komapatient als alles andere. Dann ging es langsam aufwärts und er schien auf einem guten Weg. Bis letzte Woche. War da irgendetwas passiert?” Ganz sinnbildlich kratzte er sich am Kinn, als würde ihm das wirklich beim Nachdenken helfen. Er schaute genauer auf den Kalender, um vielleicht eine Art Eingebung aus den einzelnen Daten zu erhalten. Bevor er eine erhielt, riss ihn das Telefon, das vor seiner Nase stand, aus den Gedanken. Ohne große Umschweife nahm er den Hörer in die Hand und meldete sich: “Odebrecht Stiftung Greifswald, Unge. Was kann ich für sie tun?”

“Guten Abend Herr Unge, ich hoffe, ich störe Sie zu solch später Stunde nicht mehr, aber sie hatten um einen Rückruf gebeten.” Mit seiner freien Hand strich Martin sich immer wieder mit Daumen und Zeigefinger über seine Nasenflügel. “Ah, Doktor Hildebrandt. Danke, dass sie anrufen. Sie stören keineswegs. Haben Sie über meine Schilderungen nachgedacht, die ich Ihnen ausgeführt hatte?” Bereits vor einigen Tagen hatte er mit dem Chefarzt der Psychiatrie des Uniklinikums telefoniert und ihm die neuen Entwicklungen im Fall Etienne Brandenburg geschildert. Hildebrandt war es, der den Patienten an der Odebrecht untergebracht hatte, nachdem er ihn an der Uniklinik nach einem gescheiterten Suizidversuch versorgt hatte. Schon bei dem Aufnahmegespräch hatte er angemerkt, dass sich das Krankheitsbild noch drastisch verschlimmern könnte und dem Patienten oberste Priorität gegeben werden sollte. Aber auch der Arzt hatte mit solch einer radikalen Wendung nicht zwingend gerechnet. “Bis letzte Woche war der Patient auf einem guten Wege, sagten Sie. Und dann kam aus heiterem Himmel der zweite Suizidversuch binnen sechs Monaten, ohne dass der Patient zuvor irgendwelche Anzeichen gemacht hätte? Gab es denn einen Auslöser für diesen Versuch? Das hatte ich aus Ihrer kurzen Schilderung letztens nicht ganz vernommen, Herr Unge.” Der Alte blickte wieder in die aufgeschlagene Akte von Etienne Brandenburg vor ihm, als würde dort geschrieben stehen, was er dem Doktor sagen wollte, und er müsste es nur noch ablesen. “Nicht, dass ich wüsste. Der Patient hatte seinen ersten Freigang unter Aufsicht bekommen. Aber der verlief ohne Zwischenfälle.” Der Psychiater unterbrach ihn direkt mit einer weiteren Frage: “Und direkt danach? Ist da irgendetwas vorgefallen, was den Vorfall ausgelöst haben könnte?”

Wieder sah Martin Unge auf das vergilbte Papier vor sich, aber vernahm die geschriebenen Buchstaben eher als unlesbare Hieroglyphen denn als Worte. “Der Patient war sehr erschöpft und ist direkt zu Bett gebracht worden. Er schlief laut der wachhabenden Schülerin der Schwesternschule tief und fest, als sie nur kurz frisches Wasser für ihn holen wollte. Aber als sie wiederkam, flehte er irgendein Gespenst nach Vergebung an. Dabei saß er auf den Knien vor seinem Bett und biss sich anschließend in die Pulsader seines linken Arms. Daraufhin rief sie den Notarzt, gab mir Bescheid und wir versorgten den Patienten so gut es ging.” Die Ausführungen strengten ihn mehr an, als Martin Unge gedacht hätte und er war leicht außer Puste. Irgendwie ergriff ihn das Schicksal dieses Burschen doch etwas mehr, als er zugegeben hätte. “War der Patient zu dem Zeitpunkt ansprechbar?” Die Frage des Arztes abwartend, holte er tief Luft und fuhr dann weiter aus: “Ansprechbar ja, aber er sagte nichts. Nickte oder blinzelte mit dem Augen als Reaktion auf Fragen. Und stammelte immer wieder die Silben A und Mon vor sich hin. Amon. Das ist doch ein verdammt alter Name, aber wer könnte das sein?”

 

Eine Redewendung besagt, Ein Bild sagt mehr als Tausend Worte. Ihm war die Bedeutung dieses Spruchs durchaus bewusst gewesen. Dennoch hatte er sie nie so sinnbildlich verdeutlicht bekommen wie in diesem Moment. Ach was. Tausend Wörter hätten gar nicht ausgereicht, um zu beschreiben, was er da vor sich sah. Die Gestalt war übersät mit offenen Wunden am ganzen Körper. Überall klebte vertrocknetes Blut, gemischt mit dunkler Erde und Ruß. Die Augen sahen aus, als wären sie mit Tinte gefüllt und genauso dunkel war auch ihr Ausdruck. Hasserfüllt starrten sie ihn an. Er konnte seinen Blick nicht von dieser Dunkelheit abwenden. So sehr er es auch wollte. Schreien, weglaufen, um Hilfe rufen. All das, was er wollte, war ihm in diesem Moment einfach nicht möglich. Diese Schwärze der Augen der Gestalt sog all seine Kraft wie ein verheerender Strudel in sich auf.

“Schau es dir genau an. Du hast sie umgebracht. Du bist schuld.” Die Gestalt spieh die Wörter in seine Richtung. Krampfhaft versuchte er, dem Bann zu entkommen. Schüttelte den Kopf, hielt sich die Hände vor den Ohren, um die grausame Stimme nicht mehr zu hören. Er schrie: “Nein, nein! Das war ich nicht! Du lügst!” – “Schweig!” Als könnte er sich nicht weiter wehren, gehorchte er auf den Befehl der Gestalt und kauerte sich in die Hocke. Ein Wimmern ging von ihm aus und er konnte weiterhin nicht den Blick von dem personifizierten Bösen abwenden. Auch die Gestalt war in die Hocke gegangen und durchbohrte ihn weiterhin mit den tiefen Abgründen, die sie an der Stelle der Augen hatte. Dann sprach sie wieder zu ihm: “Schau dich doch nur an. Wie jämmerlich du geworden bist. Hast sie einfach verdrängt. Hast sie abgeworfen wie einen überflüssigen Ballast. Dabei hast du sie auf dem Gewissen. Du allein. Du hast sie umgebracht. Und statt dafür zu büßen, versteckst du dich hier, gibst vor, ein normales Leben zu führen, machst schöne Fotos und nennst dich jetzt Stefan?! Wie einfallslos und erbärmlich.” Er sah die Gestalt mit großen, von Tränen überfluteten Augen an und stammelte: “St… Stefan, wer ist Stefan?”

 

“Amon, sagen Sie?!” Doktor Hildebrandt rief die Worte fast schon in den Hörer, als hätte er ihnen durch die Leitung folgen können, je lauter er sie aussprach. Martin Unge wusste nicht so recht, was die Bedeutung dahinter sein könnte. Aber er wollte sie unbedingt erfahren und antwortete daher hastig: “Genau. Hat er mit ihnen darüber bereits einmal geredet gehabt?” Er bemerkte, dass die Stimme des Arztes nun ein wenig aufgewühlter war: “Sicherlich. Amon war der Name seines Großvaters. Während des Zweiten Weltkriegs war er Offizier bei den Nazis, konnte aber nie verurteilt werden. Er hat seine eigene Tochter, die Mutter von Etienne Brandenburg, misshandelt. Dazu ist es die Bezeichnung eines Dämon, der über Vergangenheit und Zukunft richtet. Daher hatte er diesen Namen für die Stimme in seinem Kopf gewählt, die ihn zu dem Suizidversuch im vergangenen Jahr getrieben hatte. Auf diese Weise war es etwas greifbarer, darüber zu reden. Bei meinem letzten Besuch war noch davon die Rede, dass Amon verschwunden sei. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass es ihn gab.” Martin Unge hatte einen Kloß im Hals. Was musste dieser arme Kerl alles durchleben? Kein Wunder, dass seine Seele so geschunden war und er sich nach einem Auswege sehnte. Der Alte holte erneut tief Luft und sprach dann wieder zu dem Doktor: “Herr Dr. Hildebrandt, kann das auch Einfluss auf sein anderes Ich haben?” Er sah unbewusst zur Uhr über dem Kalender. Dabei kam ihm der Gedanke, dass die Menschen ihre Kalender immer in der Nähe von Uhren aufhingen. Als könnten das eine nur mit dem anderen koexistieren. Wie Schmerz und Bewältigung.

“Aber selbstverständlich. Sollte Amon tatsächlich wieder in Etienne Brandenburgs Kopf erschienen sein, wäre das fatal für seine Entwicklung. Egal unter welcher Persönlichkeit er diese gerade vorantreibt. Sicherlich ist sein anderes Ich nur eine Schutzhülle, um vor den Ereignissen vor einem halben Jahr fliehen zu können. Aber der Fortschritt seiner Genesung würde dazu führen, dass sich dieses Ich automatisch zurückzieht und dem wahren Etienne wieder die Bühne überlässt, sobald dieser mit den Ereignissen abgeschlossen hat.” Martin Unge lauschte den Ausführungen des Doktors aufmerksam. Sie hatten zwar schon mehrfach über die Personalie gesprochen und wie der Weg der Genesung voranschreiten sollte, aber Theorie und Praxis waren eben zwei völlig verschiedene Abzweigungen. Noch immer hatte er seinen Blick auf die Uhr gerichtet. Viertel nach Zehn. Aus irgendeinem Grund stieg in ihm eine Unruhe auf, aber er konnte nicht die Ursache dafür ausmachen.

“Herr Unge, können Sie sich denn wirklich nicht daran erinnern, ob es noch weitere Änderungen in der Betreuung des Patienten gegeben hat?” Martin kratzte sich am Kopf. Als hätte er damit eine Art Schalter betätigt, fällt ihm plötzlich doch eine Sache ein, die anders gewesen war: “Doch, da gab es etwas. Der Bursche durfte nach Absprache mit unserem Stationsarzt seit langer Zeit mal wieder an sein Mobiltelefon ran. Die Schülerin, die mit ihm auf dem Freigang war, hatte erzählt, wie gut es ihm dabei ging. Sie sollte überall Fotos von ihm machen und er hätte diese auch sofort im Internet hochgeladen.” Er schaute auf das alte Telefon vor sich und den Hörer mit Kabel in seiner Hand. Er fühlte sich richtig alt in diesem Moment, konnte aber nicht sagen, ob es an der Nostalgie oder der Erschöpfung lag. In seinem Magen machte sich ein komisches Gefühl bemerkbar. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. In dem Moment ging die Tür zum Büro auf und einer der andere Pfleger stand im Rahmen: “Martin, hast du einen Moment?” Der Alte schüttelte den Kopf, zeigte auf den Hörer in seiner Hand und gab seinem Kollegen mit seinem Zeigefinger das Zeichen, dass er noch einen Moment bräuchte.

“Ich verstehe. Ist es denn möglich, dass nach dem Freigang an dem Punkt, als der Patient wieder zu seinem anderen Ich gewechselt war, dieses Zugang zu dem Mobiltelefon hatte? Sollte diese andere Persönlichkeit… Welchen Namen hatte sie sich noch gleich gegeben?” Schweißperlen bildeten sich mittlerweile auf der Stirn von Martin Unge. Er hatte so eine Eingebung, dass die Situation irgendwie aus dem Ruder lief. “Stefan, der Pfleger. Oder zumindest glaubt er, hier Pfleger zu sein. Er liebt Käsekuchen und seinen Kaffee schwarz ohne Zucker. Stefan ist die deutsche Form seines eigentlichen Namens Etienne.” Wieder der Blick zur Uhr. Dann hinüber zu dem anderen Pfleger, der immer noch im Türrahmen stand und wartete. “Richtig, Stefan. Sollte Stefan die Bilder von Etienne auf dem Mobiltelefon gesehen haben, kann es sein, dass es eine Art Flashback in ihm ausgelöst hat. Und durch diese entstandene Unruhe in seinem Inneren könnte Amon wieder neue Kraft geschöpft und die Situation genutzt haben, wieder in die Gedanken von Etienne hineinzukommen. Diese Schutzhülle durch die Persönlichkeit des Stefans wäre ausgehebelt. So oder so werde ich direkt morgen früh zur Stiftung kommen und mir den Patienten genauer anschauen. Eventuell müssen wir mit der Therapie von vorne beginnen, sei es drum.” Der andere Pfleger tippte mit seinem Finger mehrmals auf sein Handgelenk und verzog sein Gesicht, um Martin zu bedeuten, dass es dringend und wichtig ist, was er ihm zu sagen hatte. Sein Blick wanderte wieder zur Uhr und er verabschiedete sich hastig vom Doktor: “Vielen Dank Doktor Hildebrandt für den Rückruf und die Ausführung. Ich werde morgen früh da sein, um sie zu empfangen. Bis dann.” Er hämmerte den Hörer auf die Telefonanlage und wandte sich wieder zu seinem Kollegen: “Was gibt es denn so dringendes?”

Der großgewachsene Kollege drehte sich bereits halb um, als er ihm das mitteilte, weswegen er nun mehrere Minuten gewartet hatte: “Der eine Student für deine Sitzwache hatte angerufen. Sebastian heißt er, glaube ich. Sein Fahrrad hat einen Platten und wegen des Unwetters draußen hat er sich fix irgendwo untergestellt und ein Taxi gerufen. Er kommt daher etwas später.” Mit den letzten Worten war die schlaksige Gestalt auch schon wieder um die Ecke verschwunden. Rasch schaute Martin auf den Einteilungsplan für die Sitzwachen, der unter dem Kalender hing. Ihm war klar, dass er dann so lange auf den zugehörigen Patienten Acht geben musste. Nur wusste er aus dem Kopf gerade nicht, wer für wen eingeteilt war. Als seine Augen den Namen Sebastian in dem ganzen Wirrwarr aus Namen gefunden hatten, wurde ihm speiübel. Er rannte, so schnell ihn seine müden Knochen trugen.

 

Die Gestalt, der er einst den Namen Amon verliehen hatte, ganz nach seinem grausamen Großvater, hatte ein abscheuliches Lächeln aufgesetzt. “Du weißt nicht einmal, wie du dich vor all den Leuten hier nennst? Wie abartig und erbärmlich von dir. Und mir hast du einfach den Namen deines Opas gegeben. Der, den Mutter so verabscheut und gehasst hat. Dessen Blut aber dennoch in deinen Adern fließt, Etienne. Begreifst du das endlich?!” Etienne kauerte weiterhin in der Hocke vor Amon und war nicht in der Lage, irgendwelche großen Bewegungen zu machen. Es war, als hätte ihn die Schwärze fest in einem Würgegriff, der sich immer weiter zuzieht und ihm langsam aber sicher die Lebenskraft heraus presst. Dennoch versuchte er, sich aus dem eisernen Griff der Wahrheit zu befreien und schüttelte mit dem Kopf: “Nein, das ist nicht wahr! Ich bin nicht wie Großvater! Ich bin nicht wie du!” Sein Körper schmerzte überall. Aber am stärksten brannte sein linker Arm. Er zog den Ärmel seines Schlafanzugs hoch und sah den dicken Verband um seinen Unterarm. Riss sich den weißen Stoff runter und erstarrte beim Anblick auf die klaffende Bisswunde, die direkt an seiner Pulsader wie ein Krater in der Wüste lag. Hatte er sich dies selbst zugefügt? Nein, er selbst war das nicht. Das war Amon gewesen. Es musste Amon gewesen sein.

“Du. Du hast mir das angetan! Du wolltest mich wieder umbringen! Wie vor einiger Zeit schon einmal!” Sein Blick lag wieder auf der Gestalt vor ihm. “Weil du es nicht anders verdient hast! Du hast Mutter getötet bei diesem Unfall! Du hast die Kontrolle über das Auto verloren und bist mit der Beifahrerseite gegen den Baum geprallt! Du hättest sie sogar noch retten können, bevor das Feuer ausbrach. Aber nein, du hast dich nur um dich selbst gekümmert. Du verdienst es nicht weiterzuleben!” Wieder spieh Amon die Worte mit größter Verachtung aus dem verbrannten Rachen in seine Richtung. Sein dunkles Ich hatte die Gestalt von ihm selbst, als er aus dem brennenden Wrack nach dem Unfall gerettet wurde. Etienne erkannte nun in den Augen von Amon, dass es nicht direkt Hass war, der diese so schwarz wie das Wasser bei Nacht wirken ließ. Vielmehr war es ein Meer aus Trauer um die verstorbene Mutter, das unendlich tief war und keinen Boden besaß.

Etienne heulte krampfhaft, versuchte gegen sein dämonisches Ich anzukämpfen: “Es war ein Unfall!” Er schrie die Worte hinaus, auch wenn er sie nur gedanklich schrie. In Wahrheit war es in dem dunklen Zimmer so still wie in einer Bibliothek. Er war allein in seinem Kopf gefangen in einem Kampf gegen seine eigene, dunkle Seite. In seiner Verzweiflung sah er, wie Amon sich ihm näherte. Ihm gefror das Blut in seinen Adern. Er wollte nicht sterben. Aber hatte er wirklich eine Wahl? Er sah in die Augen des Dämons und erkannte dort ein Funkeln über dem Meer. Waren das Sterne? War es vielleicht doch nicht so dunkel, wie er immer dachte? Wenn Schatten das Fehlen von Licht voraussetzte, war die Dunkelheit dann wirklich vor dem Licht da? Oder gab es immer beides in permanenter Koexistenz? Das würde bedeuten, dass es dort, wo immer er auch jetzt hingehen würde, trotzdem auch Licht gab. Dieser Gedanke beruhigte ihn etwas.

Im nächsten Moment donnerte Amon seinen Kopf gegen den von Etienne. Das Zerbrechen von Glas war zu hören. Splitter verteilten sich überall auf dem Boden um den jungen Patienten. Blut floss aus dem klaffenden Loch auf seiner Stirn. Rundherum waren Schnittwunden. Amon hatte sich vervielfältigt, wenn auch deutlich verkleinert. Dennoch hämmerte er wieder seinen Kopf gegen sein anderes Ich. Immer und immer wieder. Bis dieser leblos zu Boden sackte.

 

Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so schnell gerannt war. Schon nach wenigen Metern war er völlig aus der Puste, aber er wusste, dass er jetzt nicht einfach stehen bleiben und durchatmen konnte. Er musste zu Etienne Brandenburgs Zimmer. In der Eile schossen Martin Unge tausend Gedanken durch den Kopf. Hatte Irene an dem Tag vergessen, das Mobiltelefon wieder in die Box zulegen und dann weg zu schließen? Und wieso musste ausgerechnet heute in seiner letzten Nachtschicht so ein Sturm sein, dass die Sitzwache sich verspäten würde? Er betete für mehr Lungenvolumen und dafür, dass sein Gefühl ihn dieses eine Mal im Stich lassen würde und alles in Ordnung mit Etienne Brandenburg war. Eine Erinnerung mogelte sich an den anderen Gedanken vorbei. Irene hatte ihm erzählt, wie sehr sich Etienne über die Fotos, die sie von ihm gemacht hatte, freute. Sie hatte dem Burschen von dieser App für Bilder erzählt und er hatte sich gleich einen Account angelegt. Als sein Alias gab er Ed_Dakota_† an. Seine Mutter hätte ihn immer Ed genannt und es war der Name der Figur von John Cusack in dem Film Identität. Er dachte wohl, dass Dakota passend wäre, da es wie Brandenburg ein Bundesstaat bzw. Bundesland war. Der Alte kannte den Film nicht und es war ihm in diesem Moment auch völlig egal. Er hatte alle Mühe, zu dem Zimmer von dieser armen Seele zu kommen.

Als er die Tür öffnete und in das fast komplett dunkle Zimmer hinein schaute, sah er das blanke Grauen vor sich. Auf dem Boden lag der leblose Körper des Jungen. Von Blut überströmt inmitten von tausenden von Glasscherben. Was aussah wie eine zerplatzte Weinflasche war in Wirklichkeit ein kleiner Spiegel mit einem massiven Rahmen aus Silber, der unter dem Kopf des Körpers lag. Der Bursche musste seinen Kopf immer und immer wieder gegen den Spiegel und auf den Boden gehauen haben, bis das Blut nur noch heraus floss und nicht mehr sein Gehirn versorgte. Martin Unge sah sich im Raum um. Er vermochte nicht, dass Licht anzumachen und begnügte sich mit dem kargen, orangen Strahlen der Straßenlaternen. Neben der Tür war der kleine Schrank aufgebrochen, in dem sie normalerweise die Medikamente und die Wertsachen weg schlossen. Auf dem Tisch daneben lag die schwarze Aufbewahrungsbox für das Handy. War jemand wirklich in der Lage, so viel Kraft und Wille aufzubringen nur durch seine seelischen Schmerzen, um auch gegen die Medikamente anzukommen?

Der Alte kniete neben dem Jungen nieder und strich ihm sanft über die Haare. Der Bursche kam nicht darüber hinweg, den Unfall, bei dem seine Mutter starb, verursacht zu haben. Und diese Bürde hatte ihn nun irgendwie eingeholt, dachte sich Martin. An der Seite des Körpers flackerte ein kleines Licht immer wieder auf. Er zog das Mobiltelefon von Etienne Brandenburg unter der Leiche hervor und sah auf den Bildschirm. Dort waren eine Menge hasserfüllter Kommentare angezeigt: “Wie kann man so etwas nur posten? – Ekelhaft! – Sowas gehört hier nicht her!” Er überflog die Ausdrücke nur kurz und klickte dann auf den Pfeil zurück, der oben links in der Ecke des Displays prangerte. Was er dort sah, war das schockierendste, was er in seiner gesamten Laufbahn als Pfleger je erlebt hatte. Auf dem kleinen Gerät war ein Foto aus dem Inneren des Unfallwagens zu sehen. Etienne Brandenburg hatte sich und seine tote Mutter in dem Wrack damals fotografiert. Oder hatte er zu der Zeit schon eine gespaltene Persönlichkeit? Unter dem Bild las er die kleine Beschreibung mit den Worten: Du bist schuld, Etienne. Die Wahrheit ist nicht immer süß. Sie ist schwarz und ohne Zucker. Gez. Amon.

 

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