Josi AniolSchwestern im Schatten

 

Schwestern im Schatten

Ich sehe in den Himmel. Er dehnt sich weit bis zum Horizont, bis er ins Meer fällt.

Sein Blau ist durch nichts geteilt. Ich schließe die Augen obwohl ich davor Angst habe. Die Angst die sich hinter der Dunkelheit meiner Lider wie der Inhalt eines umgekipptes Ölfass in meine Seele ergießt.

Sie überdeckt alles. Alles, nur nicht die Erinnerungen. Alles wird gelöscht. Alles außer diesen Erinnerungen die ich lieber mit Säure übergießen würde, um sie zu schmelzen wie Schneeflocken im Frühling. Bevor die Angst mein vegetatives Nervensystem total überfordert, öffne ich die Augen und konzentriere mich auf den Weg vor mir. Ich steige auf mein Fahrrad und trete so schnell in die Pedale, dass sich mein Puls selbst überholt. Ich flüchte. Ich rase nach Hause, wo ich mir die Schweißtropfen vom geröteten Gesicht wischen muss, bevor ich den Schlüssel finden kann. Meine Lungen brennen. Mein Mund ist ausgedorrt. Mit zitternden Fingern finde ich schließlich das Schlüsselloch und knalle die Tür hinter mir zu. Stille. Die Angst ist aber immer noch da, nur leise.

Mein Name ist Vera. Die Wahre. Was sich unsere Mutter dabei gedacht hat? Nun, die Wahrheit ist, ich habe wohl mehr gelogen in meinem Leben, mehr als auf eine nordfriesische Kuhhaut geht. Ich lebe hier in einem kleinen Haus direkt am Deich. Die Nordsee hört man trotz des Windes, der ständig um die paar Birken tobt, die vor der Tür des alten Kapitänshauses stehen. Durch die Sprossenfenster hat man den Blick auf ein paar verschlafene Schafe. Nicht zu vergessen das lästige Geschrei der Möwen. Urlauber würden es pittoresk nennen. Ich nenne es alt, reparaturbedürftig und einsam. Letzteres habe ich mir selbst zuzuschreiben.

Die Kontakte die ich pflege, sind nicht sehr zahlreich. Die Leute nennen mich seltsam. Neben dem Briefträger, der ab und an ein per Onlineshop bestelltes Paket vorbei bringt, gibt es noch meinen Nachbarn. Ein alter Seemann, der so gut wie nichts mehr hört und ebenfalls das Leben als Einsiedlerkrebs bevorzugt. Ich bevorzuge solche Nachbarn. Die Begegnung mit den anderen Leuten hier aus dem Dorf ist mir unangenehm. Beim Einkauf oder im Wartezimmer des Zahnarztes, den ich einmal im Jahr zwecks der Kontrolle aufsuche. Dann wäre da noch Nina. Ja, das ist der einzige Mensch, dem ich mehr als nur drei Worte schenke. Wir kennen uns nun schon etliche Jahre und treffen uns einmal pro Monat. Wenn es wieder besonders schlimm ist, auch öfter. Nina ist meine Psychiaterin.

Schon während meiner Kindheit ist meine Mutter nicht mit mir zurechtgekommen. Damals hat man noch nichts von Kinderpsychologie verstanden, geschweige denn gehalten. Alle hielten mich für ein verwöhntes Einzelkind. Dabei hatte ich eine Schwester. Sie hat sich immer von mir ferngehalten, es sei denn, es musste einen Sündenbock geben. Dann war sie da. Ihr hämisches Grinsen hinter Mutters Rücken, wenn ich vor dem Scherbenhaufen stand. Dem Schaden, den sie angerichtet hatte. Sie, die immer das gute Kind war. Die Brave. Die Fleißige. Lola. Lola, von Dolores. Schmerz.

Wir wurden älter und dann kam der Tag, als ich mich vom Rest meiner Familie trennte. Ich suchte mir einen Job. Weit weg von der Großstadt Hamburg, in der wir aufgewachsen sind. Ich wollte nur weg. Der Anwesenheit meiner Schwester entkommen. Mein desolates Selbstbewusstsein heilen. Verarbeiten, vergessen.

Ein kleiner Ort in Nordfriesland. Im Stadtarchiv fand ich genau die Stellung, die mir auf den Leib geschrieben scheint. Kaum Kollegen, der Kundenkontakt ist begrenzt, alles übers Internet. Schöne neue Zeit. Wer soll mich hier finden.

Ich fand Nina. Mit ihrer Hilfe wollte ich gesund werden, normal werden. Am Leben mit den Menschen teilnehmen.

Ich schaffe es mittlerweile mit dem Rad über den touristenüberschwemmten Deich zu fahren. Ich gehe in den Ort, nur um mir Schaufenster anzusehen. Vielleicht schaffe ich es demnächst bis nach Hamburg. In die große Kunstausstellung. Ich liebe Kunst. Menschen auf Bildern, die mich nicht ansehen und ansprechen. Aber die Kunst spricht mich an. Mit ihr kommuniziere ich.

Nina sagt, dass ich Fortschritte mache. Sie meint meine Resozialisierung, die ich mir selbst verschrieben habe. In der Tat, ich fühle mich in letzter Zeit mutiger. Wage mich etwas. Wie zum Beispiel mit dem Bus ins Büro fahren, statt mit dem Fahrrad. Außer an solchen Tagen wie heute. Wenn dieser kalte Hauch in meinem Nacken so realistisch ist, als würde der Tod persönlich seine eisige Hand an mich legen. So wie früher, als Lola mich erschreckt hat. Plötzlich stand sie hinter mir. Ich habe sie nicht kommen hören. Lola war dafür bekannt, einfach da zu sein. Wie aus dem Nichts. Und sie sah mir in die Augen. Kalt und provozierend. Dann legte sie den Arm um mich und es wurde kalt.

Es ist wie eine böse Vorahnung. Sie kennen das vielleicht. Man hat es im Gefühl. Am Morgen schlägt man die Augen auf und man weiß es einfach. Man weiß, dass der Tag etwas Ungutes bringt. Einfach so. Es ist ein Instinkt.

Ich habe sehr sensible Instinkte. Gestern Abend fühlte ich mich schon nicht gut. Ausgelaugt, todmüde, so als hätte ich zwei Tage nicht geschlafen. In der Nacht aber bekam ich kein Auge zu. Ich wanderte durchs Haus. Barfuß, mit eiskalten Füßen. Mit Vorahnungen, die sich nicht zu erkennen gaben.

Nun komme ich nach Hause. Nachdem ich mich einen halben Tag krank gemeldet habe. Vielleicht bekomme ich eine Grippe. Mein Vorgesetzter schaute mich mitleidig an. Mittags entließ er mich wohlwollend in den Feierabend. Ich beeile mich. Ich habe einen Termin bei Nina.

Ich gehe zum Kühlschrank um mir ein Wasser zu nehmen. Gierig schlucke ich bis es weh tut. Außer Atem setzte ich mich ins Wohnzimmer. Langsam wird es draußen dunkel. Der letzte Sonnenstrahl trifft durch das Fenster und wirft einen Schatten von mir auf den Boden. Ich verfolge mit den Augen seine Konturen über den abgewetzten Teppich. Ich bin froh, Nina wegen eines kurzfristigen Termins angerufen zu haben. Sie ist immer für mich da. Wenn ich jemanden brauche. Zum Sprechen. Wenn die Einsamkeit mir auf den Leib rückt. Einsamkeit. Dieser Begriff ist plötzlich falsch. Er fühlt sich nicht richtig an. Denn ich bin nicht allein.

Mein Herz macht einen Aussetzer. Ich bekomme keine Luft mehr. Meine Augen weiten sich. Die Gänsehaut die sich auf meinen Armen bildet steht im Gegensatz zum Ausbruch des Angstschweißes, dessen Rinnsale nun über meine Stirn und den Rücken herunterlaufen.

Zu dem Schatten auf dem Boden, der nun zittert wie ein aufgescheuchtes Vögelchen, gesellt sich ein zweiter. Ich kann es kaum glauben. Diesen Schatten würde ich immer und überall erkennen. Was tut sie hier. Wie konnte sie mich finden. Ich drehe mich langsam um und starre zum Fenster. Sie Sonne ist nun fast untergegangen. Daher sehe ich nur noch Konturen. Die Gestalt würde ich selbst in völliger Finsternis erkennen. Lola. Sie steht vor dem Haus und starrt mich an. Und dann sehe ich es. Obwohl ich nur die Umrisse ausmache. Ich kann ihr diabolisches Grinsen erkennen. Dann ist sie plötzlich weg. Ein kleiner Moment, in dem sich meine Lungen wieder mit Sauerstoff füllen. Bis es an der Tür klopft. Ich will nicht aufmachen. Sie soll weggehen. Ich will sie nicht bei mir haben. Ich renne in die Küche zurück und schließe die Tür. Zu spät. Die Haustür öffnet sich. Ein Fehler sie nicht abzuschließen, was hier so gut wie keiner tut. Hier gibt es keine Eindringlinge.

In meinen Ohren rauscht es. Ich lasse mich an der Wand auf den Boden gleiten. Verberge mein Gesicht in den Armen, die auf meinen Knien liegen. Die Küchentür quietscht in den Angeln. Die Dielen knarren unter ihrem Gewicht als sie in die Küche tritt. Fast hat die Umarmung einen tröstlichen Charakter. Sanft und liebevoll fährt ihre kalte Hand über mein Haar. Streicht mir die feuchten Strähnen aus dem Gesicht und sieht mir tief in die Augen, bis in die Seele. Die Worte die sie spricht, hören sich ehrlich an. Vergebend.

„Da bist du ja. Schwesterchen. Ich habe dich ja so vermisst. Alles wird gut. Nun haben wir uns ja wiedergefunden. Freust du dich den gar nicht?“

Aus meinem Mund kommt nur ein Krächzen. Meine Zunge klebt mir am Gaumen. Mein Blick flattert zwischen ihren Augen hin und her.

„Lola! Lass mich in Ruhe! Geh weg, ich will dich nie mehr wiedersehen. Warum kommst du zurück?“

Lola verdreht mit einer resignierten Geste die Augen. Schaut mich dann mitleidig an und zieht mich vom Boden hoch.

„Na, weil wir uns brauchen. Wir sind eine Einheit. So war das doch immer. Wir haben uns immer geholfen. Schon als du als Erste das Licht der Welt sahst, und mir ein Zeichen gabst, dass ich keine Angst haben brauche. Es ist eine gute Welt. Eine schöne Welt. Ich solle auch geboren werden. Schon vor der Geburt waren wir Eins.“

Meine Knie zittern und ich drohe wieder auf den Boden zu rutschen.

„Nun setzen wir uns erst mal. Du bist ja ganz konfus. Aber ich bin auch ganz aufgeregt. So lange. Eine Ewigkeit, die wir getrennt waren. Du bist ja einfach abgehauen. Ich war sehr, sehr traurig, Vera.“

Als sie meinen Namen ausspricht schüttele ich ihren Arm ab. Angewidert entferne ich mich zwei Schritte.

„Was willst du von mir? Wie hast du mich hier gefunden?“

Mit einem Seufzer dreht sie sich um und geht aus der Küche. Ich höre dass sie sich auf das Sofa setzt und ihre Beine auf den Tisch legt. Das hat sie schon früher so gemacht. Ein respektloses Verhalten, wenn man zu Besuch ist. So was macht man nicht.

„Vera, Liebes! Du bist meine Zwillingsschwester. Ich würde dich auf der ganzen verdammten Welt finden. Du wolltest dich verstecken? Scheiße, Vera! Du weißt dass du das vergessen kannst. Ich finde dich überall! Und, was ich von dir will? Die Frage ist doch wohl, was willst du von mir!“

Es hatte einen Auslöser, damals als ich aus Hamburg weg gegangen bin. Ich war abhängig von meiner Mutter. Sie hat es hervorragend verstanden mich so zu konditionieren, dass ich nicht ohne sie lebensfähig gewesen wäre. Sie war eine Meisterin mir Schuldgefühle einzureden. Sie war eine Meisterin im Liebesentzug, wenn ich nicht so spurte wie sie es wollte. Dann war da noch Lola. Ihr bestes Mädchen. Für Lola musste alles perfekt sein. Ich war Aschenputtel.

Aber Lolas Pläne mir ständig eins auszuwischen, hatten auch ihre Schwächen. Der Tag, als sie an ihrem eigenen Ast sägte, war auch der Tag meiner Befreiung. An diesem Tag zerbrach sie kein Porzellan. An diesem Tag war es unsere Mutter.

Der Notarzt stellte nur noch den Tod fest. Es war die steile Treppe mit dem losen Teppich, der schon lange hätte erneuert werden sollen. Allerdings wusste Mutter um die losen Falten, die immer wieder Stolperfallen bildeten. Ihr Geiz war ihr Henker. Das dachten alle anderen. Ihr Charakter war in der ganzen Nachbarschaft berüchtigt.

Nun konnte Lola nur noch auf ihr missglücktes Theater schauen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Das keiner mich verdächtigte, ich hätte Mutter die Treppe heruntergestoßen. Zu offensichtlich war der Unfall. Tja, es war zu perfekt. Der perfekte Mord. Nur die beschuldigte Schwester, die war nicht gleich mit aus dem Weg geräumt. Im Knast, wo sie verschimmeln sollte. Der Notarzt diagnostizierte einen Schock.

„Das Mädchen fantasiert, ich kann keine Fremdeinwirkung feststellen.“

Auch die Polizei, die den Ort des Geschehens genau untersuchte, bestätigte den Unfall. „Die Frau ist mit dem Fuß an der Teppichkante hängengeblieben und hinuntergefallen. Leider Gottes hat sie sich das Genick gebrochen.“

„Es ging so schnell. Sie hat nicht leiden müssen. Machen sie sich keine Vorwürfe.“

Nach der Beerdigung packte ich meine sieben Sachen. Lola stand am Fenster und schaute mir hinterher.

„Wir werden uns wiedersehen, Schwesterchen! Du kannst nicht weglaufen.“

„Zehn Jahre! Es ist zehn Jahre her. Wieso bist du jetzt wieder hier? Was willst du nach so langer Zeit von mir. Ist dir langweilig? Willst du mich wieder quälen?“

Ich trete ihre Beine von meinem Tisch. Langsam merke ich, wie die Wut meine Angst verdrängt. Es kann nicht sein, das fast zehn Jahre Therapie für die Katz gewesen sein sollen. Ich sollte sie einfach auffordern mein Haus zu verlassen und zu verschwinden. Stattdessen fängt es in mir zu kochen an. Dieses Gefühl unter Dampf zu stehen. Damals hat es sich in autodestruktivem Verhalten ausgedrückt. Die Narben, die meine Arme und Beine bis heute zieren, sind ein Andenken daran. Ich konnte sie nie verletzten. Warum ich ihr nicht einfach eine reingehauen habe? Nein, das ging nicht. Ich konnte es einfach nicht. Hätte ich es gekonnt, wäre ich auch gewalttätig gegenüber meiner Mutter geworden. Glaube ich. Nein, ich suchte mir ein anderes Ventil. Nina hat mir geholfen damit aufzuhören. Mit dem Ritzen. Mit dem Selbstverletzen. Es hat lange gedauert. Auch bis die Träume aufhörten. Immer wieder die Bilder, Lola und Mutter. Lolas eiskalter Blick. Wie sie hinter unserer Mutter steht.

„Vorsicht! Pass auf wo du hintrittst. Du könntest stolpern.“

Und sie fiel. Sie fiel und Lola lachte ihr hinterher.

„Sieh, was du angerichtet hast. Na, offenbar ist sie sogar tot! Na, wenn schon, denn schon!“

Wollte sie Mutter gar nicht töten, war es nur ein Zufall, der ganz gut in den Kram passte?

Der Moment, der mich nur noch Schreien ließ. Ungläubigkeit. Ich habe doch gar nichts gemacht.

Ich doch nicht! Es war Lola. Es war immer Lola. Diese Hexe. Dieses Miststück.

Jetzt sitzt sie in meinem Wohnzimmer. Schaut mich abschätzig an. Dann knallt sie ihre Füße wieder auf den Tisch.

„Na komm doch. Schlag mich! Ach, du traust dich ja doch nicht.“

Nervös fange ich an an meinem Daumennagel zu kauen. Ich bemerke es und schlage keuchend gegen den Türrahmen. Der Schmerz, der sich in meinem Handballen aufbaut, fühlt sich betäubend an. Nein, nicht wieder damit anfangen. Die Therapie war nun schon so weit fortgeschritten, dass sich meine Hände schon fast ansehnlich nennen konnten. Wo noch damals die blutroten Hautfetzen hingen, der Nagel zur Gänze abgekaut war, ist heute mit Hilfe von Nagellack, ein zwar kurzer aber intakter Nagel nachgewachsen. Die Kratzer auf den Handrücken, die ich später in Ermangelung des eigenen Fingernagels, mit Gabeln und Messern zugefügt habe, schimmern noch als helle dünne Striche. Sie werden mich mein Leben lang an die Zeit erinnern, in der Das die einzige Möglichkeit war, mich zu fühlen. Ich war quasi nicht existent. Das Schattendasein hat mich zu Luft werden lassen. Kleine Kinder die man nicht liebt, sterben. Ich habe mich mit Schmerzen am Leben gehalten.

Als das Klopfen in meiner Hand langsam verebbt, trete ich wieder ins Zimmer. Lola hat mittlerweile eine Schachtel mit Zigaretten aus ihrem Parker geholt. Sie steckt sich eine an. Nachdem sie den Rauch absichtlich in meine Richtung geblasen und sich gemütlich auf dem Sofa positioniert hat, schaut sie mich fragend an.

„Was bist du für eine schlechte Gastgeberin! Wir haben uns so lange nicht gesehen und du bietest mir noch nicht mal was zu Trinken an.“

Wieder weht mir der Nikotindunst ins Gesicht.

„Hast du was da? Ich hoffe doch etwas womit man gebührend unser Wiedersehen feiern kann.“

Ich muss husten. Erst jetzt fällt mir auf, das sie dabei ist, Zigarettenasche in die kleine Schale zu schnippen, in der ich normalerweise Bonbons aufbewahre. Wieder fängt es in mir zu summen an. Heiß kommt es durch meinen Hals nach oben.

„Lola, verdammt noch mal! Mach sofort die Zigarette aus. Nimm dein stinkendes Zeug und hau ab! Ich will dich nicht hier haben, ich will das du abhaust. Sofort!“

Schon habe ich die Schale in der Hand und werfe sie mit aller Kraft nach ihr. Geschickt dreht sie den Kopf zu Seite, so dass die Schale hinter ihr in den Bücherschrank knallt. Einige Bücher und Papiere fallen krachend samt den Scherben auf den Dielenboden.

„Na toll, jetzt machst du schon wieder alles kaputt!“

Ein vom Rauchen pfeifendes, heiseres Lachen dringt aus ihrer Kehle. Sie rührt sich nicht von der Stelle. Ich weiß nicht mehr weiter.

„Ach Vera. Na dann eben nicht. Du warst schon immer so abweisend. Spaßig warst du nie. Aber, Hey! Vergeben und vergessen. Sie mal, ich hab dir was mitgebracht!“

Sie kramt in der Außentasche ihrer grünen Bundeswehrjacke. Zum Vorschein kommt ein

Lederetui. Es poltert, als es unsanft auf dem Tisch landet. Es hat die Ausmaße eines Buches, nur dünner. Irgendwas schaltet in meinem Kopf. Ich habe das Ding schon mal gesehen.

„Ja, genau. Ist für dich. Du wirst mir noch dankbar sein. Na, guck doch mal nach. Erinnerst du dich?“

Mit zitternden Händen nehme ich das Etui. Es fällt mir beinahe aus den zitternden Händen, denn es ist schwerer als ich vermutet habe. In dem Moment weiß ich woher ich es kenne und lasse es fallen als wäre es hundert Grad heiß.

„Woher hast du das?“

Meine Stimme überschlägt sich förmlich. Ich schlage die Hände vor mein Gesicht, als ob ich die Situation dadurch ausschalten könnte. Ich wünschte ich würde ohnmächtig.

„Ich wusste doch dass du dich freust. Hab ich doch gerne gemacht!“

Vorsichtig, ängstlich greife ich erneut nach dem Objekt. Die letzte Hoffnung, es wäre doch etwas anderes, verflüchtigt sich in dem Moment als ich das Etui mit dem Tablet öffne. Das Tablet, dass ich schon oft gesehen habe, da ich die Besitzerin sehr gut kenne. Die Besitzerin, die auf diesem Tablet Notizen gemacht hat, wenn ich bei ihr war.

Nina.

Meine Knie sind schwammig, als ich mich bücke, um das Tablet vom Boden aufzuheben. Durch den Aufprall ist der Bildschirm angesprungen. Es war vermutlich im Schlafmodus, um genau in diesem Moment, an dieser Stelle, aufgeweckt zu werden. Das bläuliche Licht erhellt nun den Raum. Die Sonne ist untergegangen, nur noch Restlicht scheint durch die Fenster. Blaue Stunde. Für viele hat das was romantisches, ich hingegen durchlebe gerade ein Horrorszenario. Auf dem Bildschirm erscheint eine Videodatei. Das Programm ist genau an der Stelle angehalten, auf der ein Konterfei in Bewegungsunschärfe eingefroren ist. Ich muss trocken Schlucken um gleich darauf eine saure Übelkeit in mir aufsteigen zu spüren. Eine Frau auf dem Video, mit wütender Fratze. Eine Wahnsinnige mit weit aufgerissenen Augen. Mit Raubtierzähnen, in angespannten Kiefern. Mit erhobenen Armen und zu Fäusten geballten Händen. Doch statt Krallen, wie bei einer Raubkatze ist dort ein Messer. Ein Messer, das kein Licht mehr reflektiert, da es blutverschmiert ist.

„Na? Wie gefällt dir dein Portrait? Ist doch gut getroffen, für ein Zufallsfoto. Hat doch was, diese Dynamik.“

Lola lacht wieder ihr heiseres Lachen. Sie sieht mich fragend an. Als ob sie nun Beifall erwarten würde.

„Mein Gott! Was ist das? Woher hast du das? Du hast doch nicht etwa…?“

Ich kann nicht mehr an mich halten. Ich lasse das Tablet auf den Tisch knallen und renne ins Badezimmer, um dort über der Toilette mein Inneres nach außen zu kehren. Ich kann aber meinen Magen nur ausleeren, nicht beruhigen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Kalte Schauer jagen über meinen Rücken. Ich werfe mir kaltes Wasser ins Gesicht, was mich nur noch mehr frieren lässt.

Ich spüre, dass sie hinter mir steht. Sie schüttelt mit dem Kopf, als wäre meine Reaktion völlig unverständlich. Ich solle mich doch freuen. Da sieht man sich nach so langer Zeit wieder und ich habe nicht besseres zu tun, als vor ihren Augen zu kotzen.

„Na, super! Vera, du solltest dich mal entspannen. Du bist ja ganz aus dem Häuschen. Dabei hast du doch gar nichts zu befürchten. Ich habe doch alles für dich erledigt. Ich habe das Tablet, mit dem die blöde Kuh dich gefilmt hat. Ich habe alles wieder aufgeräumt, während du nichts besseres zu tun hattest als abzuhauen. Hast alles stehen und liegen gelassen. Mensch, die wären schon längst hier, wenn sie die Spuren gefunden hätten.“

Ich starre sie an. Ich bin auf der Badematte festgefroren. Ich bin unfähig einen Schritt zu machen. In meinem Kopf hat sich ein Vakuum aufgebaut. Es dauert gefühlte Minuten, bis ich einen krächzenden Laut von mir geben kann. Einen Laut den ich mit hoher Stimme in einen Satz forme.

„WAS HAST DU GETAN?“

„Ich? Nein, Vera. Nicht ich! Sieh her!“

Sie hält mir das Tablet unter die Nase und drückt auf PLAY.

„Heute ist der 15. Mai. Es ist 15.00 Uhr. Patientin ist Vera Schmitt. Heute eine Videoaufzeichnung mit Einverständnis der Patientin. Das unterschriebene Protokoll liegt in der Patientenakte.

Vera, schön das Sie wieder da sind. Ich habe schon beim letzten Mal mit Ihnen abgesprochen, dass wir ab heute die Gesprächstherapie fortführen können. Sie sagten mir, dass Sie sich in letzter Zeit besser fühlen. Die Angstattacken und die Alpträume haben nachgelassen. Ist das so, oder hat es sich wieder verschlechtert?“

Die Kamera des Tablets, das in einer Halterung auf dem Beistelltisch steht, ist auf mich gerichtet. Wir habe schon öfter solche Sitzungen abgehalten. Nina, meint so könne sie die einzelnen Therapiesitzungen noch besser auswerten. Nach etlichen Stunden, die ich schon hier auf dem gemütlichen Sessel verbracht habe, ist das kein neuer Aspekt mehr für mich.

„In letzter Zeit hatte ich keine Alpträume mehr. Glaub ich. Schlafen kann ich nach wie vor nicht gut. Angstattacken würde ich das auch nicht nennen, aber ich fühle mich nicht wohl, unter Menschen. Unter vielen Menschen. Aber ich komme mit den Techniken ganz gut klar. Die Ablenkungsmanöver, wenn ich wieder zu starke Probleme bekomme…, ich komme klar.“

Nina lächelt mich aufmunternd an.

„Das ist schön. Wie fühlen Sie sich heute, Vera? Meinen Sie wir können einen Schritt weiter machen? Sie wissen, dass wir noch weiter den Ursachen auf den Grund gehen müssen.“

Ich muss einen nicht vorhandenen Kloß herunterschlucken. Ich greife nach dem Wasserglas und trinke es halb aus.

„Wenn Sie sich noch nicht in der Lage oder überfordert fühlen, dann ist das kein Problem. Sie sagen in welchem Tempo wir arbeiten.“

„Nein, nein! Alles gut. Ich bin nur etwas nervös.“

„Ja natürlich. Das verstehe ich ja. Aber Sie wissen auch, dass Sie jederzeit abbrechen können, sollte es Ihnen nicht gut gehen. Sie sind ja auch nicht allein, Vera. Ich begleite Sie.“

Nina steht auf und zieht die Übergardine ein Stück weiter vor das Fenster. Es ist nicht dunkel im Raum. Gerade so, als würde man einen Mittagsschlaf machen wollen, um dann gleich mit der übrigen Arbeit weiter zu machen.

„Zunächst möchte ich von Ihnen wissen, ob Sie sich in letzter Zeit wieder Gedanken um Ihre Schwester gemacht haben. Es gibt da Dinge, die Sie, jetzt nach vielen Jahren Abstand, aus einem anderen Blickwinkel sehen könnten. Es gibt da noch eine Lücke, kurz vor dem Tod ihrer Mutter, die wir hier auch noch nicht bearbeitet haben.“

Als das Gespräch auf meine Schwester schwenkt, zucke ich kurz zusammen.

„Ich glaube nicht, dass ich über meine Schwester reden möchte, ich bin froh sie so weit aus meinem Leben verbannt zu haben. Das ist gut so. Ich will sie nie mehr in meiner Nähe haben.“

Meine Stimme wurde von Wort zu Wort lauter. Bei dem letzten war sie fast schrill.

„OK, OK! Ist schon gut. Trinken Sie noch einen Schluck. Nehmen Sie regelmäßig die Medikamente? Gibt es damit Probleme? Sind die Nebenwirkungen erträglich?“

Nina versucht abzulenken. Das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Ja, alles gut. Ich habe in letzter Zeit öfter Kopfschmerzen. Und wie gesagt, ich schlafe nicht gut.“

Die Tabletten. Die Tabletten, die wir vor einiger Zeit gegen andere getauscht haben. Oder die Dosis wurde erhöht, ich weiß nicht mehr. Diese ekelhaften Dinger. Ich hasse Tabletten.

„Wir werden das beobachten. Ich möchte nicht, dass Sie wieder in die Klinik müssen.“

Die Klinik. Nein, bitte nicht. Sechs Wochen in dem Irrenhaus. Wo mir keiner geglaubt hat. Wo ich nur eine weitere Irre gewesen bin. Ich bin der festen Überzeugung, das Lola da ihre Finger mit im Spiel hatte. Sie ist mich in Hamburg nicht losgeworden, so musste sie dafür sorgen, dass ich in diese Klinik kam. Wo sie mich mit Pillen und Spritzen vollgepumpt haben. Bis ich letztlich nicht mehr wusste wo oben und unten war. Sie hat denen bestimmt Lügen erzählt. Sie, die einzige nahe Verwandte, die ich noch habe. Bestimmt wollte sie denen erzählen, dass ich versucht habe Mutter zu töten. Ich! Nein, sie wollte mich schon immer aus dem Weg räumen. Nun versucht sie es mit dieser verdammten Klinik.

Nina bemerkt, dass etwas in mir vorgeht. Sie schaut mich besorgt an.

„Vera? Ist alles in Ordnung? Sie sind ganz blass geworden. Oder ist doch was mit den Medis?“

Sie holt mich aus meinen Gedanken zurück. Ich schaue sie von der Seite an.

„Alles gut!“

Nina betrachtet mich noch einige Sekunden. Dann lehnt sie sich in ihrem Sessel nach hinten. Das Zeichen, dass es nun los geht.

„Bitte erzählen Sie mir doch heute, etwas über das Zusammenleben in ihrem Elternhaus. Beginnen Sie wo Sie wollen. Was kommt ihnen als Erstes in den Sinn?“

PAUSE.

Ich starre auf den Bildschirm. Das Tablet zittert mit meinen Händen. Das kann nicht sein. Wie hat sie das gemacht. Und vor allem, ist es das erste Mal? Wie oft hat sie schon hinter mir her geschnüffelt.

„Was ist? Werbepause? Das Beste kommt doch noch!“

Ihr Lachen kracht mir entgegen. Sie fühlt sich haushoch überlegen und momentan sieht es so aus als würde ich verlieren.

„Was soll das? Das ist meine letzte Sitzung. Das war vor drei Stunden. Hast du das schon öfter gemacht? Du bist mir gefolgt und hast dir Zugang zu meinen Daten verschafft!“

Mir kommt das Bild am Ende der Aufzeichnung in den Sinn. Das Blut. Von wem stammt es? Was ist mit Nina?

„Was hast du ihr angetan? Du hast mich hier gefunden und hast herausgefunden, dass ich in Therapie bin. Du hast gesehen, dass es mir langsam besser geht. Es war ein langer Weg und nun willst du mir wieder alles kaputt machen. So wie früher. Sobald ich vorne lag, hast du alles wieder kaputt gemacht!“

Meine Stimme kreischt. Ich verschlucke mich und muss husten bis mir Tränen über die Wagen laufen. Aber es sind auch Tränen von Wut. Wut, Demütigung und Verlust. Ich sacke auf den Fußboden. Ich kauere mich zusammen wie ein Rehkitz, dass im hohen Gras Deckung sucht. Ich will mich verstecken, vor Lola, vor der Welt. Schluchzend nehme ich das Tablet auf, dass neben mir liegt. Lola hat sich wieder auf das Sofa gesetzt. Sie hat plötzlich eine Flasche Bier in der Hand. Wo hat sie die her? Ich trinke grundsätzlich keinen Alkohol. Hat sie die mitgebracht? Ich sehe kein Gepäck. Oder eine Handtasche, einen Rucksack. Die Flasche ist beschlagen. Sie muss sie aus dem Kühlschrank geholt haben. Noch bevor ich sie fragen kann, beugt sie sich zu mir nach vorne.

„So, die Pause ist vorbei! Sieh hin! Sieh dir das Video weiter an. Mach schon!“

Sie klingt auf einmal streng. Sie befiehlt mir ich solle es weiter ansehen. Sie hört sich an, als ob sie keine andere Möglichkeit gelten lassen würde. Ich bekomme immer Angst, wenn sie so mit mir spricht. Die Bedrohlichkeit, die sie in ihre Stimme legt, trifft mich wie eine Ohrfeige. Sie muss nicht handgreiflich werden. Allein der Ton ihrer Stimme löst Angst und körperlichen Schmerz in mir aus. Dann mache ich, was sie will. Ich tippe auf Wiedergabe.

„Was mir als Erstes einfällt? Na ja, unser Haus. Es war alt. Reparaturstau überall. Mutter hat nicht viel machen lassen. Vielleicht weil kein Geld da war. Vielleicht weil sie es nicht sah, nicht sehen wollte. Alles war nachlässig. Alles war alt, gebraucht. Wir haben nie etwas an dem Haus gemacht. Auch nicht im Garten. Der war verwildert. Überall Brombeerbüsche, Brennnesseln, hohes Gras in dem Wespen lauerten. Der Garten hat einem nur Schmerzen zugefügt. Daher war ich nicht besonders oft darin. Meist war ich in meinem Zimmer. Mit meinen Büchern.“

„Wo waren Ihre Mutter und Ihre Schwester?“

Ich fühle mich unwohl. Ich rutsche auf dem Sessel hin und her. Ich will nicht über sie sprechen. Ich kann nicht über sie sprechen. Warum soll ich nun über sie sprechen?

Mein Atem wird hörbar. Eine Schweißperle rinnt mir am Haaransatz herunter. Nina bemerkt meine Unruhe.

„Vera, Sie müssen jetzt nicht unbe….“

„Nein, ich muss und ich will jetzt nicht über sie sprechen!“

Ich falle ihr lautstark ins Wort. Ich höre Rauschen in meinen Ohren. Halte meine Hände über sie. Das Rauschen wird dadurch nur noch lauter. Zitternd suche ich das Wasserglas. Ich schlucke gierig die kalte Flüssigkeit. Das beruhigt meinen hüpfenden Puls. Ich stehe auf und gehe um den Sessel herum. Ich muss mich bewegen. Ich muss das Adrenalin abbauen. Ich muss mich beruhigen. Ich muss mich wieder setzen. Im Zimmer wird es heiß und stickig. Ich möchte das Fenster öffnen. Nina bemerkt mein Vorhaben und kommt mir entgegen.

„Setzen Sie sich Vera. Atmen Sie.“

Während sie mir beruhigend zuspricht, öffnet sie das Fenster. Von draußen kommt zwar keine kühle Luft, dafür werden Geräusche ins Zimmer gespült.

„Was regt Sie gerade so auf. An was oder wen denken Sie?“

Ich setze mich wieder.

„Tut mir leid. Ich wollte nicht aufbrausend werden.“

„Ich spüre, dass wir heute nicht über Ihre Familie sprechen können. Vielleicht sollten wir das auf ein anderes Mal verschieben.“

Sie geht auf ein Schränkchen zu, in dem ein Kühlschrank versteckt ist. Darin befindet sich eine Flasche mit Wasser. Sie schenkt mir ein.

„Was ist mit Freundinnen? Oder Freunden? Hatten Sie einen Freund? Eine Beziehung? Sie sind mit dreiundzwanzig ausgezogen. Waren da Menschen, zu denen Sie eine engere Beziehung hatten?“

Mir kommt Jens in den Sinn. Jens. Wir haben uns in der Berufsschule kennengelernt. Der coole Jens. Er passte so gar nicht zu mir. Aber irgendwas hat ihn an mir fasziniert. Manchmal dachte ich, dass er sich lustig macht. Jens und eine graue Maus wie ich? Er hat mich auf dem Motorrad mitgenommen. Wir waren tanzen. Ich habe mich verändert. Das Leben war schön. Er hat mich geküsst. Eines Tages brachte er mich nach Hause. Wir standen vor der Tür. Er sagt er mag mich sehr. Und wenn ich wolle, dann könne ich doch auch mit zu ihm kommen. Wie aus dem Nichts steht Lola in der Tür. Sie sagt nichts. Sie schaut mich nur an. Mit ihren kalten Augen. Mit Blicken, die schmerzhafter stechen, als die Wespen im Garten. Sie schaut auf Jens. Jens sieht aber nur mich. Ich verabschiede mich unter dem Vorwand noch etwas für einen wichtigen Test lernen zu müssen und lasse ihn einfach an der Tür stehen. Lola schaut ihm hinterher. Wie Messer treffen ihre Blicke auf seinen Rücken um dann gleich mich zu attackieren. Was ich denn mit diesem Hallodri zu tun hätte. Wo ich denn die ganze Zeit gewesen wäre. Warum ich sie mit Mutter allein gelassen hätte. Was mir den einfallen würde.

Ich habe Jens nicht mehr oft gesehen. Ein paar Wochen später, nachdem er noch ein paar Mal versucht hatte Kontakt zu mir zu bekommen, ist es passiert. Er hatte einen tödlichen Motorradunfall. Die Jungs hatten einmal zu viel an den Bikes geschraubt. Bremsflüssigkeit war ausgelaufen. Den Rest kann man sich denken.

„Das ist ja schrecklich. Das hat Sie sicher schwer getroffen. Haben Sie denn mit jemandem darüber sprechen können?“

Nina rutscht auf dem Sessel weiter nach vorne. Sie glaubt hier eine Schlüsselszene in meinem Leben gefunden zu haben. Ich schüttele einfach nur den Kopf. So als ob es sich um etwas handeln würde, was jeden Tag hundert mal passiert. Es ist halt unabänderlich. Tote kann man nicht wiedererwecken und außerdem belästigt er mich nicht mehr weiter.

„Vera, ich glaube Sie verdrängen hier etwas. Ich möchte gerne, dass Sie mir mehr über diese Zeit erzählen. Wie haben sie sich gefühlt. Was haben Ihre Freunde dazu gesagt?“

Ich weiß es nicht mehr. Gesprochen hat sowieso keiner mit mir. Da war etwas wie Mitleid, vielleicht? Ich kann es nicht ausdrücken. Die Einzige, die sich darüber geäußert hatte, war Lola.

„Sie sagte, es wäre besser so. Nun könnte ich mich wieder auf meine Aufgaben konzentrieren.“ Nina schüttet sich auch ein Wasser ein. Eine Weile ist es still.

„Hat sich Lola über den Tod von Jens gefreut?“

Ich schaue sie entgeistert an.

„Es ist bestimmt nicht ihre Absicht gewesen, erleichtert zu klingen. Ich denke dass sie auch nur mein Bestes wollte. Sie ist meine Schwester!“

„Wie meinen Sie das? Sie wollte nur Ihr Bestes?“

Der Raum wird enger. Ich stehe auf, um ans geöffnete Fenster zu gehen. Sauge die lauwarme Luft in meine Lungen. Habe das Gefühl sie verbrennt mich von innen. Ich schließe die Augen und spüre, wie Schwindel mich umfängt.

„Bitte Vera, setzen Sie sich wieder. Ich glaube wir sollten hier heute Schluss machen. Es wird doch zu viel.“

Ich öffne die Augen obwohl ich nichts sehen will. Ich will nicht sehen, wie Nina mich mitleidig ansieht. Besorgnis heuchelt. So wie sie mich damals ansahen, der Sanitäter, der Notarzt, der den Tod meiner Mutter festgestellt hatte. Die Nachbarn, die plötzlich vor dem Haus standen um

Betroffenheit zu spielen. Alles nur Heuchler. Die Mitschüler und Lehrer, die, als die Nachricht von Jens Tod kam, auf mich herabschauten. Ganz so, als hätten sie die Person gefunden, die allein die Verantwortung für die schlimme Situation trug. Die Einzige die ehrlich mit mir war, war und ist meine Schwester. Die Einzige, die immer bei mir war. Die Einzige, der ich wirklich etwas bedeutete. Die Einzige, die mich beschützen wollte, so stark, dass sie mich lieber im Gefängnis oder in der Irrenanstalt gesehen hätte, als in dieser verfickten Welt. Die einzige die gehandelt hatte, um mir zu helfen!

Erschrocken blicke ich mich um. Nina steht fassungslos im Raum.

Die Worte, die ich nur in meinem Kopf gehört zu haben glaube, habe ich tatsächlich herausgeschrien.

Ich sehe, wie Nina langsam auf mich zukommt. Ihre Wangen sind gerötet vor Aufregung. Sie schiebt mit dem Finger ihre Brille auf der Nase nach oben.

„Ist ja gut. Alles ist gut. Bitte beruhigen Sie sich doch. Ich kann verstehen, dass diese Erinnerungen sie überwältigen. Aber das ist gut. Sie spüren Wut. Wut wo vorher nichts war. Bitte kommen Sie zu mir und setzen Sie sich wieder.“

Sie hält mir ihre Hand entgegen.

„Ich werde Ihnen was geben, damit es Ihnen wieder besser geht.“

Tabletten! Schon wieder Tabletten. Ich will dieses Zeug nicht mehr. Ich will nicht mehr dass mir die Tabletten meine Identität nehmen. Ich habe ihr wohl weislich verschwiegen, dass ich das Teufelszeug seit einigen Tagen nicht mehr nehme. Die Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Trägheit. Wie in Watte gepackt habe ich die Tage verbracht. Aufstehen, Essen, Arbeiten, nach Hause fahren, Essen, ins Bett gehen, auf den Schlaf warten und dann wieder von vorne. Jeden Tag von Neuem. Und mit den Tabletten verschwand auch Lola. Ich war ganz allein.

„Es geht schon! Ich muss mich beruhigen.“

Endlich kann ich mich aus meiner Starre befreien. Ich mache ein paar Schritte auf sie zu. Ich spüre, wie sie mir ihre Hand leicht auf die Schulter legt.

„Setzen Sie sich, Vera.“

Sie verschwindet in den Nebenraum. Dort befindet sich eine Art Labor, wo offenbar auch der Medikamentenschrank steht. Ich höre, wie sie mit den Schlüsseln klappert um die Tür zu öffnen.

Einer Eingebung folgend gehe ich ihr hinterher.

„Nein! Bitte ich möchte keine Medizin. Ich schaffe es auch so. Bitte Nina. Behalten Sie ihre Pillen!“

Erschrocken dreht sie sich zu mir um.

„Es ist zu Ihrem Besten. Das wird Ihnen helfen, Vera.“

Sie ist dabei eine Ampulle aufzubrechen um den Inhalt gleich in eine Spritze aufzuziehen. Die Nadel blitzt im künstlichen, kalten Licht der Neonröhren.

Sie kommt auf mich zu und nimmt noch das Desinfektionsspray mit. Ich stolpere rückwärts aus dem Laborraum und pralle gegen ihren Schreibtisch. Dabei fällt ein Becher mit Stiften und Bürobedarf um. Meine Augen wandern wieder zu der Spritze, mit der sie auf mich zukommt.

„Bitte, Nina. Das dürfen Sie nicht tun. Ich will wieder Ich sein. Bitte nehmen Sie sie mir nicht wieder weg!“

Nina schüttelt den Kopf.

„Vera, jetzt seien sie vernünftig. Setzen Sie sich und beruhigen Sie sich.“

Ich hyperventiliere fast. Wie in der Falle. Was soll ich tun. Sie wird mir das Zeug einfach so in den Arm jagen. Mich ausschalten.

Um mich abzustützen, fassen meine Hände die Oberfläche des Schreibtisches. Ich fasse in die umgekippten Stifte. Ich fasse einen Brieföffner. Wunderschön glitzert das Silber in meiner Hand. Mein Weg aus der Falle. Ich wollte das gar nicht. Ich wollte doch nur raus hier. Wollte zurück zu mir. Sie ist selber Schuld. Mutter war selber Schuld. Warum hat sie sich nicht um mich gekümmert. Hat sich immer nur um Lola gekümmert. Wollte immer nur sie glücklich sehen. Ich war so gut wie nicht vorhanden. Jens war selber Schuld. Warum hat er mich nicht in Ruhe gelassen. Warum war er so hartnäckig. Ich mochte ihn ja, aber Lola hat ihn gehasst. Sie wären nie miteinander ausgekommen. All diese Gedanken stürzen auf mich ein. Und dann ist es klar wie der Himmel im Frühling. Ich nehme die Hand mit dem Brieföffner runter. Ich gebe mich geschlagen.

„OK! Ich ergebe mich! Bitte, wenn Sie mir die Spritze geben wollen.“

Ich strecke Nina den anderen Arm hin. Sie kommt erleichtert auf mich zu. Vertrauensvoll. Nichtsahnend.

„Gott sei Dank, Vera. Ich bin froh, dass Sie sich richtig entschieden haben.“

Die letzten Worte kann sie schon nicht mehr beenden. Der Brieföffner hat ihre Kehle durchstoßen. Lola wäre stolz auf mich.

STOPP

„Tatatata! Was für ein fulminantes Ende.“

Lola lacht hustend während sie sich auf dem Sofa rekelt.

Ich stehe wie versteinert in der Mitte des Wohnzimmers. Es ist nahezu dunkel. Nur das Licht der Laterne, die auf dem Weg vor dem Deich steht, erhellt das Zimmer. Und das strahlende Licht des Tablets. Die letzte Sequenz ist eingefroren. Nina mit weit aufgerissenen Augen, ich daneben mit dem Ausdruck den ich schon am Anfang des Videos sah. Die Situation ist eindeutig. Ich habe Nina umgebracht. Habe im Affekt, Wut und mit verlorenem Kopf Nina umgebracht. Mein Mund formt lautlose Worte. Lautlose Worte des Entsetzens. Was habe ich getan? Warum? Ich schwimme in einem Meer aus Unverständnis. Ich ertrinke darin. Ich strecke hilfesuchend die Hand nach Lola. Die noch immer lachend dort sitzt und sich auf die Schenkel schlägt. Ihr Lachen überschlägt sich. Atemlos nimmt sie die Bierflasche wieder auf, die mittlerweile umgekippt auf dem Teppich liegt. Eine kleine Pfütze hat sich ausgebreitet. Sie trinkt den letzten Rest aus. Die Flasche lässt sie einfach wieder auf den Boden fallen. Sie steckt sich eine Zigarette an und legt die Füße, wie schon zu Anfang, auf den kleinen Tisch. Befriedigt bläst sie den Rauch zur Decke. Sie sieht mich immer noch belustigt an.

„Schade das es damals noch nicht solche Technik gab. Das hätte eine nette Serie werden können. Du, wie du Mutter die Treppe herunter stößt. Du, wie du am Motorrad die Schraube am Bremssystem löst. Tja, der liebe Jens hat dir einmal zu viel die Motorradtechnik erklärt. Und du warst ja immer sehr gelehrsam. Und jetzt? Gut, ich muss zugeben, das toppt alles. Vor allem diese Dramatik. Obwohl der Zufall da gehörig mitgespielt hat. Was hättest du gemacht ohne den Brieföffner? Hättest du sie mit bloßen Händen erwürgt? Hättest du ihr die Wasserflasche über den Kopf geschlagen? Zweifelslos hast du das wirksamste Mittel gewählt.“

Wieder lacht sie mir ins Gesicht, als wäre sie stolz auf mich.

„Das bist du in Schuld! Du hast mich dazu getrieben. Du hast das mit Absicht getan!“

Ich lasse das Tablet fallen und kann mich endlich wieder bewegen. Mit einem Satz bin ich bei Ihr. Will das sie schweigt. Aufhört dieses gehässige Lachen zu lachen. Sie ist schneller als ich. Behände springt sie vom Sofa, ich stolpere über die leere Bierflasche. Ich nehme sie auf und schlage, den Flaschenhals in der Hand, auf den Tischrand. Die Flasche zerschellt und ist nun eine Waffe. Eine tödliche, schneidende Waffe. Lola tänzelt wie ein Boxer vor mir hin und her.

„Na komm doch! Du willst mich auch noch um die Ecke bringen? Tu es doch! Dann stirbt ein Teil von dir mit. Wir sind Schwestern, Vera! Ich lasse dich nicht allein!“

Ihre Worte hallen in mir nach. „Dann stirbt ein Teil von dir mit!“ Diese Worte lassen mich eine Entscheidung treffen.

Ich setze den zu einer langen Scherbe geborstenen, messerscharfen Teil der Flasche an meinen Hals.

Lolas Lachen erstirbt.

„Hey! Was tust du da! Ach komm, Vera. Das ist jetzt nicht dein Ernst! Setz dich doch erst mal. Wir trinken was, das entspannt dich.“

Sie kommt mir mit erhobenen Händen entgegen. Als sie mich fast erreicht hat, stoße ich zu.

Das gebrochene Glas fällt dumpf auf den Boden. Meine Ohren hören es noch, wie es aufschlägt. Dann ist es still. Das Letzte was meine Augen sehen ist Lola, mit hysterischem Blick. Sie kommt noch auf mich zugerannt. Sie rennt und rennt. Kommt nicht mehr bei mir an. Dann ist es dunkel.

Forensische Klinik.

„Das ist die Patientin, die vor einer Woche eingeliefert wurde. Ihr Zustand ist stabil. Weitere Blutkonserven werden nicht nötig sein. Die Wunde sieht gut aus.“

Der Professor lässt sich das Datenblatt von der Krankenschwester aushändigen.

„Schwere psychotische Störungen, Drogen- und Alkoholmissbrauch. Die verschriebenen Psychopharmaka wurden abrupt abgesetzt, wodurch es zu einem erneuten Schub kam. Gibt es Angehörige, lebte sie allein?“

Der Oberarzt stellt sich neben das Krankenbett.

„Nein, keine Angehörige. Die Schwester, von der auf dem Beweisvideo die Rede ist, ist nur eine Fantasie. Eine Halluzination. Wir lassen gerade die Akten aus Hamburg kommen. Hier wurde sie schon vor Jahren wegen der Schizophrenie behandelt. Die Mutter ist tot. Auf Grund der Aufzeichnung wird hier nun auch wegen Mordes ermittelt. Ebenfalls wegen des Jugendfreundes. Wer weiß, was noch ans Tageslicht kommt.“

Der Professor schüttelt mit dem Kopf. Nachdenklich schaut er auf die schlafende Vera.

„Gut, wenn die Unterlagen da sind, bitte sofort in mein Büro.“

Die kleine Gruppe steht noch eine Weile am Nachbarbett, berät sich leise und verlässt den Raum. Vera schlägt die Augen auf. Schon seit einigen Tagen bietet sich hier immer das selbe Bild. Eine weiße Decke, an die sie starrt, ein weißes Laken, mit dem sie zugedeckt ist. Eine weiße Wand, die den Raum begrenzt. Vor dem Fenster bewegen sich leise die Äste eines Laubbaumes. Etwas Grünes in einem ansonsten weißen Umfeld. Es raschelt neben ihr. Vera dreht den Kopf soweit es der Verband um ihren Hals es zulässt.

„Hallo.“

Ihr stimme klingt kratzig. Es schmerzt sehr, daher kann sie nicht mehr sagen.

Die junge Frau im Nebenbett liegt auf der Seite und schaut sie an.

„Na? Wieder unter den Lebenden?“

Vera hebt nur ihre Schultern.

„Klar, ich sehe schon. Reden ist nicht so gut.“

Vera kann sich noch kein zustimmendes Lächeln abringen.

„Wie heißt Du? Vera? Ist das richtig? Du muss nur mit dem Kopf nicken.“

Ja.

Die junge Frau lächelt ihr zu. Ein warmes, freundliches Lächeln. Ein aufmunterndes Lächeln in Mitten dieses kalten, weißen Raumes. Sie schaut die Frau fragend an.

„Oh! Wie unhöflich von mir. Hey, ich bin Lola.“

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