DominikSeele im Kreuzfeuer

»Nimm die Finger da weg oder ich töte dich!«
Christophs Gesicht erblasste, als er die Worte seiner Freundin hörte. »Schon gut, beruhige dich.«
»Ich habe dir schon zig Mal gesagt, dass ich es hasse, wenn du mein Essen anfassen willst.«
Christoph grinste breit. Er liebte es, sie zu necken. Er fand es niedlich, wie sie sich gespielt aufregte. Beim Essen allerdings verstand sie wirklich keinen Spaß. Besonders nicht, wenn es sich um ihren Lieblingskuchen handelte.
Genussvoll schob Sarah die Reste auf die Gabel und verspeiste sie mit akustischer Untermalung durch zahlreiche Stöhnlaute.
»Sarah, ich finde es toll, dass du ein solches Vorbild für uns alle bist.«
Das blonde Mädchen schaute verwirrt. Christoph hörte beinahe die Zahnräder in ihrem Kopf knirschen, als sie sich fragte, was er meinte. Ein »Hä?« war alles, was sie mit vollem Mund herausbrachte.
»Na, man kann sich auf keinen Fall beschweren, dass du Essen verschwendest. Du findest immer einen Platz in deinem Magen dafür.«
Der Blick der schlanken Blondine verfinsterte sich. »Sehr lustig, du Komiker. Dir auch ein schönes Zweijähriges.«
Tief im Inneren wusste Sarah, wie ihr Freund die Sätze meinte, die er herausbrachte. Böse konnte sie ihn ohnehin nicht lange bleiben.
»Das war köstlich«, sagte sie und lehnte sich zurück, um ihren vollen Bauch zu präsentieren.
»Schön, dass ich dir eine Freude mit dem Date machen konnte. Ich zahle dann mal.«
Nach ihrer ausgiebigen Schlemmerei begaben sich die beiden auf den Weg zum Auto. Sie waren Studenten und stolz auf ihren ersten fahrbaren Untersatz.
Christoph schloss die Fahrertür auf und warf seine Tasche auf die Rückbank.
»Sag mal, hast du eigentlich–«
Sarah verstummte, als sie einen Mann vor sich erblickte, der ein Messer in seiner Hand hielt und damit auf das Mädchen zeigte. Seine Kleidung war zerrissen und roch nach Alkohol und Urin.
»Na, Liebchen. Eine schöne Tasche hast du da. Aber, meinst du nicht, sie würde mir noch viel besser stehen?«, fragte der heruntergekommene Eremit und bleckte seine gelben Zähne.
Er humpelte einen Schritt nach vorne und Sarah sah das nähernde Messer vor sich.
Christoph versuchte, um das Auto herum zu schleichen und den Angreifer von hinten zu überwältigen, doch dieser kam ihm zuvor: »Schön da bleiben, wo ich dich sehen kann, mein Kleiner.«
Mit einem Ruck preschte die bärtige Gestalt nach vorne und riss am Riemen der Tasche, die Sarah über die Schulter geworfen hatte. Sie versuchte, sich zu wehren, indem sie Fingernägel und Fäuste einsetzte, zog jedoch im direkten Kampf den Kürzeren.
Wie eine Katze, der ein tollwütiger Hund hinterher hetzte, bog der Fremde in einen Waldweg ein. Das Pärchen nahm augenblicklich die Verfolgung auf. Sie schauten in alle Richtungen, konnten allerdings nicht ausmachen, wohin der Dieb verschwunden war.
»Scheiße«, fluchte Christoph und trat gegen einen Ast, der im Weg lag.
Er schaute zu Sarah und bemerkte, wie der Schock sie fest in seinem Griff hielt. »Geht es dir gut, Schatz?«
Sie zwang sich zu einem Nicken, doch hatte sie keine Kraft, zu sprechen. Christoph legte seinen Arm um ihre Schulter und führte sie zurück zum Wagen.
»Zum Glück war es nur die Tasche. Ich hatte echt Angst, dass er dir etwas antut.«
Wieder beim Wagen angekommen, öffneten beide Teenager die Türen. Sarah saß bereits im Auto und schaute auf den Fahrersitz, als Christoph sich darauf niederlassen wollte.
»Warte«, brach es aus ihr heraus.
»Wieso warte? Was meinst–«
Christoph sah etwas auf seinem Sitz. Ein blaues Smartphone lag auf dem Polster.
»Hast du das da hingelegt?«, fragte er.
»Nein, wieso sollte ich? Hast du denn eben nicht abgeschlossen, bevor wir losgelaufen sind?«
Christophs Gesicht lief rot an vor Wut. »Denkst du wirklich, dass ich in so einem Moment daran denke?« Es gelang ihm jedoch, sich zu beruhigen.
»Denken wir erst einmal rational. Es muss einen Grund geben, warum es jemand dort hingelegt hat. Wir sollten schauen, ob wir eine Person aus der Kontaktliste erreicht bekommen. Vielleicht kann uns jemand verraten, von wem das Handy ist.«
Der Student griff nach dem Smartphone und setzte sich auf den Fahrersitz. »Dann wollen wir mal.«
Nachdem Christoph das Gerät zu seiner Verwunderung ohne PIN entsperrt hatte, wurden die Gesichter des Pärchens grau wie Stein. Direkt nach dem Aktivieren öffnete sich ein Bild von Sarah. Sie war mit einem roten Kreuz durchgestrichen. Die Farbe und die groben Linien ließen es beinahe so aussehen, als hätte jemand mit Blut auf dem Handy geschmiert.
»Was soll das? Ist das ein schlechter Scherz?« Panik kam in Sarah auf. Ihr war, als würde sie eine unsichtbare Hand würgen und ihr die Luft abschnüren.
»Das kann doch unmöglich wahr sein. Wieso bist du durchgestrichen? Und wer ist das da?«
Auf dem Bild war ein weiteres Mädchen zu sehen. Braune Locken fielen ihr ins Gesicht und sie strahlte in die Kamera.
»Das ist … Clara.«, krächzte Sarah mit trockener Stimme.
»Wer zum Teufel ist Clara und was hat sie mit der ganzen Sache zu tun?«
Für einen Augenblick schwieg Sarah, fand jedoch die Worte, um die sie gerungen hatte: »Clara war meine Freundin.«
»Und was ist daran jetzt das Problem?«, fragte Christoph.
»Sie war meine Freundin. Nun, im Sinne von … meine Geliebte. Ein Teil meiner Vergangenheit, den ich eigentlich begraben wollte.«
Christoph konnte nicht glauben, was sie ihm offenbarte. Zwar wusste er, dass sie vor ihm andere Beziehungen hatte, allerdings hatten die beiden nie über das Geschlecht der Ex-Partner gesprochen. Wieso auch? Schließlich war sie nun mit ihm zusammen und er war sich ziemlich sicher, ein Mann zu sein.
»Das heißt, du warst … bist … lesbisch?« Zweifel an ihre Beziehung kämpften sich wie Eindringlinge in Christophs Kopf. Ihm fehlten die passenden Worte. »Egal, erst mal sollten wir uns um das derzeitige Problem kümmern.«
Sarah stimmte zu. Beide fragten sich, wer das Smartphone auf dem Fahrersitz platziert hatte. Sie stiegen aus dem Wagen, um sich nach eventuellen Zeugen umzuschauen. Weit und breit war niemand zu sehen. Kein Wunder, schließlich war das Personal des Restaurants dabei, den Laden zu schließen.
»Lass uns erst mal nach Hause fahren. Vielleicht sollten wir mit der Polizei sprechen. Die wissen bestimmt mehr darüber, wie wir uns jetzt verhalten sollten«, schlug Christoph vor.
»Stimmt.« Sarah sah besorgt aus. »Soll ich lieber fahren, bis es dir besser geht?«
»Nein, es … ich muss nur erst einmal die Situation verstehen.«
»Zu Hause reden wir über alles und überlegen uns, wie es weiter geht.«
Nach einer halben Stunde erreichte das Pärchen seine Wohnung. Ohne einen Wortwechsel spurteten sie die Treppe des Mehrfamilienhauses hinauf.
»Endlich zu Hause«, seufzte Sarah, als sie die Haustür hinter sich schloss und sich mit dem Rücken daran anlehnte.
»Dann erzähl mir mal«, Christoph löste den Kronkorken einer Bierflasche, »was es mit dem Mädchen auf sich hat. Clarissa, oder?«
»Clara.«
»Genau. Erklär mir das mit dir und Clara.«
Die beiden setzten sich gemeinsam aufs Sofa. Sarah begann zu erzählen: »Ich bin mit Clara zusammen gekommen, als ich in einer schweren Phase war. Ich habe noch bei meiner Mutter gewohnt und war ständig am Rebellieren. Clara gab mir den Halt, den ich zu der Zeit brauchte. Irgendwann bin ich ausgezogen und erwachsen geworden. Kurz darauf habe ich dich kennengelernt.«
Christoph ahnte, was Sarah als Nächstes sagen wollte. »Und wie viel Zeit lag zwischen den Beziehungen? Ich ahne Schlimmes.«
Sarah sank in sich zusammen. »Gar keine«, flüsterte sie. »Ich habe sie mit dir betrogen. Und die ganze Aktion scheint nun ihre Rache dafür zu sein.«
Christoph vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Er atmete tief durch und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Ihm fielen keine Worte ein, die angemessen waren.
»Ich gehe eine rauchen. Das ist mir gerade zu viel«, sagte Sarah und zog sich ihre Strickjacke an.
Vor dem Gebäude schossen ihr Dutzende Gedanken wie Pistolenkugeln durch den Kopf. Was will Clara auf einmal von mir? und was wird aus Christoph und mir? waren nur zwei davon.
Sarah drückte ihre Zigarette im Aschenbecher neben der Haustür aus und kramte nach ihren Schlüsseln.
Kurz darauf spürte das Mädchen einen dumpfen und entsetzlichen Schmerz an ihrem Hinterkopf. Es war, als wäre ein Felsen auf sie gestürzt. Sie brach zusammen und ihre Augen schlossen sich. Alles war schwarz.

Sarah kam wieder zu Bewusstsein. Weiterhin war es dunkel um sie herum. Sie merkte, dass sie mit Händen und Füßen an einen Stuhl gefesselt war. Irgendjemand hatte sie niedergeschlagen und ihr einen Sack über den Kopf gezogen.
»Hallo, hört mich jemand?«, rief sie panisch. »Bitte, irgendjemand, Hilfe!«
Erneut schlug eine Person nach Sarah, dieses Mal in die Magengrube. Ächzend kippte sie nach vorne und schrie schrill auf.
»Was zum Teufel hast du mit mir vor, Clara? Geht es immer noch um die Trennung? Wieso kommst du jetzt erst damit an und versuchst, meine Beziehung zu sabotieren? Wenn mein Freund mich findet, bist du dran, du Schlampe!«
»Dein Freund? Ach, stimmt ja. Du hast ja das Boot zurück auf die andere Seite genommen.«
Sarah lief es eiskalt den Rücken herunter, als hätte sie einen Geist gesehen. Anstatt der Stimme von Clara vernahm sie die eines Mannes.
Der Fremde drückte Sarah etwas auf die Schläfe. Sie meinte, den Lauf einer Pistole auszumachen. Ihre Glieder zitterten und der Atem stockte ihr.
»Hat es sich also doch gelohnt, diesen Penner anzuheuern. Wenn du wüsstest, was man für ein bisschen Geld alles bekommt.«
Der Mann entfernte den Beutel von Sarahs Kopf und grelles Licht blendete das Mädchen. Nur langsam gewöhnte sie sich an die Beleuchtung. Sie saß in einer Lagerhalle. Der gesamte Raum war stickig und es roch nach Schießpulver.
»Sie«, Sarah schluckte, »sind doch der Kerl, den ich auf den Fotos in Claras Wohnung gesehen habe. Sie sind ihr Vater.«
»Schlaues Ding. Nicht schlecht. Zu schade, dass wir uns damals nicht mal persönlich kennengelernt haben.«
Das Mädchen gab ein verächtliches Lachen von sich. »Wie denn auch? Der Krieg war für Sie ja immer wichtiger als Ihr eigenes Kind.«
Damit hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Der Mann hob seinen Arm und schlug Sarah mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Schall des Aufpralls füllte die gesamte Lagerhalle aus.
»Sie ekelhaftes Schwein!« Sarah spuckte auf den Boden. »Haben Sie im Krieg nicht genug Leute gequält, sodass Sie jetzt auf wehrlose Mädchen zurückgreifen müssen?«
»Willst du mir etwas von Schmerz erzählen? Nach all dem Leid, das du meiner Tochter und mir angetan hast?«
Gedanken an die letzten Momente mit Clara schossen der Gefesselten durch den Kopf. Sie sah ihre Ex-Freundin vor sich. Wie sie weinend zusammenbrach, als Sarah ihr offenbarte, was sie getan hatte. Eine Welt war für das Mädchen zusammengebrochen.
»Sie sagen mir, wie schrecklich es war, die Beziehung beendet zu haben und waren selbst nie für Clara da. Ja, ich habe sie damals mit Christoph betrogen, aber Sie haben noch viel mehr Dreck am Stecken als ich. Was hat das Ganze überhaupt mit Ihnen zu tun?«, schrie Sarah ihren Entführer an.
»Du weißt es nicht.«
»Was weiß ich nicht?«
Der Soldat nahm die Pistole von Sarahs Schläfe und sackte auf einem rostigen Stuhl hinter sich zusammen.
»Du weißt es nicht«, brüllte Claras Vater. »Wie solltest du auch? Nach der Trennung hast du dich ja nicht im geringsten um Clara gekümmert.«
Sarah sah perplex auf die Gestalt des Soldaten. Etwas an ihm war anders. Seine Psyche schien zusammenzufallen wie ein Kartenhaus.
»Kein Wunder, dass du damals nicht auf ihrer Beerdigung warst, du egoistisches Miststück«, schrie der Mann in einer ohrenbetäubenden Lautstärke.
»Beerdigung?« Sarahs Blick erstarrte und alle Glieder versteiften sich. Ein schwarzer See voller Leere tat sich vor der Gefangenen auf. Ihre Gedanken schienen sie zu verschlingen.
»Das kann doch nicht … Ich wusste nicht …«
»Ja, du bist der Grund, warum sich mein Engel damals umgebracht hat! Aber, wie solltest du das auch wissen? Wie zum Teufel solltest du wissen, wie es um Clara stand? Alles, was dir im Kopf herumschwirrte, war dein eigenes Wohl. Du wusstest ja nicht einmal, wer du wirklich warst und welches Geschlecht dir gerade recht war. Es ging dir nur darum, dich für den Moment besser zu fühlen und nach dem erstbesten Strohhalm zu greifen, den du finden konntest. Eine Ausrede dafür finden, dass du eigentlich wusstest, wie wertlos dein jämmerliches Dasein war.«
Die Worte trafen Sarah stärker als der Schlag zuvor. Sie dachte darüber nach, was Clara zu diesem Schritt getrieben hatte. Sie wusste, dass ihre Ex-Freundin seelisch instabil war, doch mit so etwas hatte sie nicht gerechnet gehabt. Sie hatte das Leben eines Menschen auf dem Gewissen. Es zerstört. Es aus einer Laune heraus vernichtet.
Das Mädchen schrie, als hätte ihr jemand ein Messer ins Herz gestoßen und sie ausbluten lassen wie ein Schwein. Wie ein Schwein, für das sie sich nun hielt. Was dachte sie da? Ein Schwein hatte wenigstens einen Nutzen. Sie war weniger. Sie war ein Monster.
»Schrei, so viel du willst. Es wird weder meine kleine Prinzessin zurückbringen, noch wird es dich vor dem retten, was ich mit dir anstellen werde.«
Der Soldat erhob sich aus seinem Stuhl und wankte auf das Mädchen zu. Erneut richtete er seine Waffe auf sie. Dieses Mal zielte er auf ihren Brustkorb.
»Lass uns mal sehen, ob dein Herz noch mehr brechen kann.«
Sarah strömte das Blut in den Kopf und Schweißperlen rannen wie ein Wasserfall an ihrer Stirn herunter.
Ein ohrenbetäubender Knall schallte durch die Lagerhalle.

Sarah öffnete ihre Augen und sah durch einen Tränenschleier, wie zahlreiche uniformierte Männer den Raum stürmten und ihre Waffen auf Claras Vater richteten.
Er gab ein leises Lachen von sich. »Glück gehabt, Kindchen. Deine Retter sind da. Du bist zwar am Leben, aber du hast bekommen, was du verdienst. Ich bin froh, dass ich der Überbringer der Nachricht war, die deiner Seele den Todesstoß versetzt hat.«
Der Entführer wandte sich zum Einsatztrupp um. Seine Lippen formten ein Lächeln und erhobenen Hauptes verließ er mit den Händen am Hinterkopf den Raum mit der Polizei.
»Sarah«, rief jemand. Es war Christoph. »Mein Gott, Sarah. Ich bin so froh, dass du am Leben bist. Was hat er dir angetan?« Er beugte sich zu seiner Freundin herunter.
Sarahs Gliedmaßen waren paralysiert. Ihr Blick schien wie eingefroren. Sie saß auf dem Stuhl in der eisigen Lagerhalle und versank in einem Strudel aus Reue und Selbsthass.

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