aliceweiss171Seitensprung

 

Seitensprung

 

1.

Als Eve das Blumengeschäft betrat, sprach Manolo mit einer grauhaarigen Dame in einem gelben Kostüm. Auf dem Verkaufstresen zwischen ihnen stand ein Zimmerbonsai. Keiner der beiden beantwortete ihren Gruß. Eve war ein wenig indigniert. Sonst wechselten Manolo und sie einige Worte, wenn sie herkam. Sie wählte einen Strauß pinkfarbener Tulpen, legte einen Fünf- Euro Schein auf den Tresen und ging.

In ihrer Küche wehte der Duft von frisch gebackenem Brot durch das angekippte Fenster herein. Wahrscheinlich kam der aus der Wohnung über ihr. Das Pärchen, das dort wohnte, schien permanent zu kochen oder zu backen. Eve spürte Appetit in sich aufsteigen und überlegte, eine Pizza zu bestellen.

Sie füllte eine Vase mit Wasser. Als sie die Blumen darin arrangierte, begann ihr Handgelenk zu pochen. Der Schmerz war schon den ganzen Tag über gekommen und gegangen.

Sie stellte die Vase auf den Küchentisch und nahm ihr Smartphone aus der Handtasche. Keine Nachrichten. Ungewöhnlich. Eves Freundeskreis war groß, normalerweise hatte sie die Qual der Wahl, was sie mit wem unternehmen sollte.

In dem Moment bemerkte sie, dass der Brotduft verschwunden war. Stattdessen hing ein fauliger Geruch in ihrer Küche, wie von verdorbenen Kartoffeln.

Sie schaute in den Kühlschrank und in den Backofen, öffnete alle Schränke und Schubladen. Aber selbst als sie in ihren Mülleimer schnupperte, blieb die Quelle des Geruchs unklar.

Dafür fühlte sich ihr Handgelenk an, als hätte ein Hund seine Zähne hineingeschlagen. Sie ließ kaltes Wasser aus dem Hahn über der Spüle darüberlaufen.

Nach einigen Augenblicken klang der Schmerz ab.

Wenn sich das am Wochenende nicht besserte, würde sie zum Arzt gehen. Sie zog den Beutel aus ihrem Abfalleimer, obwohl der erst halbvoll war. Auch wenn dieser nicht die Quelle des Gestanks war, hatte sie das Gefühl, die Luft zu verbessern, wenn sie den Müll runterbrachte.

2.

Die Mülltonnen befanden sich in einem kleinen Innenhof hinter dem Haus. Rechts daneben führte eine Treppe hinab zum Fahrradkeller. Dieser war mit einer Kette abgesperrt. Ein Schild hing daran mit der Aufschrift „Betreten Verboten!“. Vor einigen Wochen hatte es einen Wasserschaden gegeben. Der Keller war noch nicht saniert worden. Von einer Nachbarin hatte Eve gehört, dass sich die Bauaufsichtsbehörde eingeschaltet hatte, weil etwas mit dem Fußboden nicht stimmte.

Sie warf den Beutel in die vorderste der drei Restmülltonnen. Als sie den Deckel zuschlagen wollte, ertönte ein langgezogenes Muhen aus der Tonne. Eve hielt inne. Das war der Klingelton ihres Smartphones. Sie schaute in die Tonne. Zwischen Keramikscherben und einer durchsichtigen Plastiktüte voller gebrauchter Windeln lugte die Ecke eines schwarzen Rahmens und der obere Teil eines Displays hervor. Mit gerümpfter Nase griff sie in die Tonne. Sekunden später hielt sie ein schwarzes Samsung Galaxy S20 Plus in der Hand. Sie besaß so eins. Im ersten Moment hielt sie es auch für ihres. Dann bemerkte sie den diagonalen Riss im Display. Eindeutig nicht ihr Smartphone. Sie wischte über das Display. Ein Bild wurde sichtbar: Vor einem dunklen Hintergrund sah sie Kopf und Schultern einer Frau. Blut hatte das blonde Haar zu einem schmutzigen Rostrot verdunkelt. Die verklebten Strähnen hingen wie ein Vorhang vor dem Gesicht. Die Frau trug eine blaue Bluse mit einem Muster aus Gänseblümchen. Eve trug die gleiche Bluse. Und ihre Haare hatten dieselbe Länge und den gleichen Blondton wie die der Frau.

Entsetzen kroch in ihr hoch. Sie starrte auf das Bild, hoffte, einen Blick auf das Gesicht der Frau zu erhaschen. Vergebens. Sie suchte nach weiteren Bildern. Und fand keine. Ebensowenig wie Kontakte, Nachrichten oder Hinweise auf den Eigentümer des Smartphones. Außer diesem einen Bild – und dem Klingelton- war nichts auf dem Gerät gespeichert.

Eves Bestürzung wandelte sich in Ärger. Niemand in ihrem Bekanntenkreis hatte einen Hang so solch üblen Späßen. Abgesehen davon hatte keiner wissen können, wann sie den Müll runterbrachte.

Sie war nicht die einzige blonde Frau auf der Welt, und die Bluse stammte von H&M. Trotzdem fühlte sie sich mit dem Smartphone in der Hand unwohl. Kurz entschlossen warf sie das Gerät zurück in den Abfall.

Ein gefüllter Müllbeutel flog so dicht neben ihrem Kopf vorbei in die Tonne, dass sie den Luftzug im Gesicht spürte. Heh!“, rief Eve und drehte sich um. Der schlaksige Teenager mit T-Shirt und Jogginghosen gönnte ihr keinen einzigen Blick. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Smartphone in seinen Händen. Eve kannte ihn vom Sehen, er war mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester vor ein paar Wochen im Erdgeschoss eingezogen.

Sag mal, hackt´s bei dir?“, fuhr sie ihn an.

Der Junge steckte das Smartphone ein. „Trottelkuh!“, zischte er.

Du bist wohl im Stall groß geworden?“ Eve ging einen Schritt auf den Jungen zu. Der wischte sich über die Augen und schniefte.

Jetzt mach mal halblang“, meinte Eve. „Erst die Leute beschimpfen und dann heulen, wenn es Kontra gibt.“

Blöde Trottelkuh“, schrie der Junge, drehte sich um und ging. Die Tür warf er ins Schloss, dass es krachte.

Einen Moment lang war Eve kurz davor, hinterherzulaufen und ihn zur Rede zu stellen. Dann sagte sie sich, dass sie nicht retten konnte, was seine Eltern jahrelang verpatzt hatten.

3.

Als Eve in ihre Küche zurückkam, war der schlechte Geruch verschwunden. Dafür erinnerte der Anblick ihres eigenen Smartphones auf dem Tisch sie so unangenehm an das andere Gerät, dass sich für einen Augenblick ihr Magen zusammenkrampfte.

Sie nahm das Smartphone zur Hand. Keine Nachrichten.

Sie fühlte sich verlassen, überlegte, ob sie jemanden anrufen sollte und entschied sich dagegen. Ihr Handgelenk, das zwischenzeitlich Ruhe gegeben hatte, pochte wie ein kranker Zahn. Und sie war erschöpft. Diesen Tag würde sie auf dem Sofa beschließen, mit Rotwein und Netflix.

Als sie die Flasche entkorkte, flammte der Schmerz in ihrem Handgelenk so stark auf, dass sie mit der linken Hand weitermachte.

Mit dem halbvollen Glas ging sie ins Wohnzimmer. Sie schaltete das Licht an und nahm die Fernsehzeitschrift vom Sofa. Ein Heimatfilm? Zu kitschig. Ein Thriller? Das Bild der Frau mit dem blutigen Kopf erschien vor ihrem inneren Auge. Sie spülte es mit einem Schluck Wein aus ihren Gedanken. In diesem Moment erklang ein Muhen aus ihrer Hosentasche. Sie hatte das Smartphone bereits hervorgeholt, als ihr einfiel, dass ihres in der Küche lag. Ungläubig starrte sie auf das schwarze Samsung in ihrer Hand. Der diagonale Riss im Display schien sie anzugrinsen. Kälte überzog ihren Körper. Das Weinglas ruschte ihr aus der Hand. Rotwein ergoss sich in den cremefarbenen Teppich. Sie hatte dieses Smartphone in die Mülltonne zurückgeworfen, und es war zurückgekehrt wie ein böser Geist. Mit zitternden Fingern wischte sie über das Display.

Ein neues Bild.

Der gleiche dunkle Hintergrund. Dieselbe Frau in der blauen Bluse mit dem Blumenmuster. Aber dieses Mal waren die blutigen Haare aus ihrem Gesicht gestrichen. Eve blickte in ihr eigenes Antlitz. Das konnte nicht sie sein. Auf dem Bild glich ihr Gesicht mit der aufgeplatzten, geschwollenen Lippe und der gebrochenen Nase einem Trümmerfeld. Die Wange wies eine blutige Schramme auf. Ihre Stirn sah aus wie ein blutiger Acker. Ein Hautlappen hing herunter und verdeckte teilweise das linke Auge wie eine verrutschte Augenklappe.

Eve ließ das Smartphone fallen. Es landete im Rotweinfleck auf dem Teppich. Sie wich davor zurück, als sei es eine Schlange, die jeden Moment vorschnellen konnte.

Auf einer Kommode stand die Metallskulptur eines auf den Hinterbeinen hockenden Hasen. Eve packte die Figur bei den Ohren und holte aus. Der erste Schlag zerschmetterte das Display. Sie drosch auf das Gerät ein, bis nichts als ein zersplitterter Trümmerhaufen übrig blieb. Dann ließ sie den Metallhasen fallen, holte Kehrschaufel und Handfeger aus der Küche. Die kleineren Splitter musste sie mühsam aus dem Teppich klauben. Sie sollte etwas gegen Fleck unternehmen, aber dazu fehlte ihr die Energie. Mit dem Kehrset in der Hand ging sie zurück in die Küche und kippte die Überreste des Smartphones in den Mülleimer. Danach trank sie einen Schluck Wein direkt aus der Flasche. Langsam fühlte sie sich ruhiger. Ihr rationaler Verstand übernahm wieder das Ruder. Statt das Smartphone wegzuwerfen, hatte sie es eingesteckt. Weil der fliegende Müllbeutel sie abgelenkt hatte. Allerdings erklärte das nicht die Bilder.

Der Junge, dachte sie.

Der musste das Smartphone in der Tonne versteckt haben. Den Rest hatte eine Bildbearbeitungs- App erledigt. Wenn man sich damit Katzenohren aufsetzen oder sich fünfzig Jahre älter machen konnte, gab es bestimmt auch eine App, womit man aussah wie in einen Häcksler gefallen.

Wahrscheinlich hatte der kleine Widerling sich halbtot amüsiert, während er hinter ihr gestanden hatte. Sollte sie doch mit seinen Eltern reden? Aber nicht mehr heute. Sie war mit einem Mal so müde wie nach einem durchgefeierten Wochenende. Und ihr Handgelenk brannte, als hätte sie es in siedendes Pech getaucht.

Sie ging ins Bad und putzte sich die Zähne, wobei sie die Zahnbürste in die linke Hand nahm. Nach kurzer Überlegung holte sie eine Ibuprofen aus dem Badezimmerschrank. Sie spülte die Tablette mit Wasser aus dem Hahn hinunter.

Sobald sie im Bett lag, war die Müdigkeit verflogen. Eve starrte an die Decke, lauschte ihrem Atem und spürte, wie das Ibuprofen die Schmerzen schmolz. Sie wünschte, dass jemand sie in den Arm nähme.

Ihre letzte Eroberung fiel ihr ein. Jannes. Sie hatte ihn vor einigen Wochen bei einem Streifzug durch die Clubs kennengelernt. Der Sex war guter Durchschnitt gewesen. Jannes hatte sie wiedersehen wollen, aber sie hatte seine Versuche, sie zu kontaktieren, abgeblockt. Guter Durchschnitt reichte nicht. Außerdem waren ihr Jannes Klagen über seine empfindsame Freundin Imme und seine Unentschlossenheit, ob und wie er diese Beziehung beenden sollte, auf die Nerven gegangen. Eve interessierte sich nicht für das Beziehungsleben ihrer Eroberungen. Sie sah sich auch weder als Therapeutin noch als Kummerkasten.

Jetzt fände sie es schön, ihn bei sich zu haben. Das Bett schien ihr zu groß und das Zimmer zu dunkel. Schatten drängten sich wie hockende Gestalten in den Ecken.

Ein Knarren.

Schritte?

Eve fuhr hoch, schaltete die Nachttischlampe an. Außer ihr war niemand im Raum, aber die Schlafzimmertür stand einen Spalt breit offen. Sie war sicher, sie geschlossen zu haben. Barfuß schlich sie zur Tür, riss sie auf und schlug auf den Lichtschalter an der Wand. Das Licht flammte auf. Der Flur war leer. Eve lächelte gequält. Ein einziges Knarren, und sie verwandelte sich in einen Angsthasen. Sie sah in allen Räumen nach. Die Tulpen in der Küche ließen bereits die Köpfe hängen. Sonst hatten Manolos Blumen mindestens eine Woche gehalten.

Zurück im Flur nahm Eve ihren Schlüsselbund von der Kommode. Sie schloss die Wohnungstür von innen ab und ließ den Schlüssel stecken. Das war paranoid, aber sie fühlte sich besser. Dieses Mal vergewisserte sie sich, dass die Schlafzimmertür fest eingeklinkt war, ehe sie sich wieder ins Bett legte. Die Nachttischlampe ließ sie angeschaltet, aber sie drehte den Schirm zur Wand. Albern, fand sie, doch das Licht hielt die Schatten fern.

4.

Als sie die Augen öffnete, war das Zimmer finster. Sie musste doch eingeschlafen sein. Hatte sie die Lampe ausgemacht? Oder war die Birne durchgebrannt?

Hinter ihr seufzte jemand. Die Matratze bewegte sich, als sich ein Körper verlagerte. Schrecken ließ Eves Glieder bleischwer werden. Jemand lag in ihrem Bett. Ich habe abgeschlossen!, schoss es durch ihren Verstand. Von innen! Und der Schlüssel steckte im Schloss. Aber sie fühlte das Ungleichgewicht der mit zwei Körpern belasteten Matratze, hörte ein Prusten hinter sich und gleich darauf ruhige Atemzüge. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Hatte derjenige in ihrem Bett bemerkt, dass sie wach war? Sie zweifelte nicht daran, dass es ein Mann war. Keine Frau legte sich zu einer anderen ins Bett, um sich herumzuwälzen und zu schnaufen.

Der Eindringling befand sich zwischen ihr und der Tür. Sie könnte mit der Nachttischlampe zuschlagen. Doch ihre Arme fühlten sich wie erstarrt an. Ein Muhen in ihrem Rücken jagte ihr einen solchen Schreck in die Glieder, dass sie aufsprang wie von einer Tarantel gestochen und die Nachttischlampe anknipste. Der Lichtschein war gedämpft, weil der Schirm immer noch zur Wand gedreht war. Eves Kopf ruckte nach links.

Sie war allein in ihrem Bett. Abgesehen von dem schwarzen Samsung Galaxy, dessen Display einen diagonalen Riss aufwies. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Eve das Smartphone an, am ganzen Körper bebend.

Es ist ein Traum, dachte sie und griff danach. Kaum hatte sie es in der Hand, begann das Smartphone erneut zu muhen.

Eine Sprachnachricht.

Hallo?“ Das war Jannes Stimme. „Schatz, bitte. Tu das …“ Ein platzendes Geräusch, als schlüge eine Melone auf Beton auf. Die Sprachnachricht war zu Ende.

Eves Augen irrten durch ihr Schlafzimmer, aber nichts, was sie in dem vertrauten Raum erblickte, half ihr weiter.

Neuerliches Muhen.

Eves Finger zitterten. Dieses Mal handelte es sich um eine Filmaufnahme. Ein düsterer Raum mit bloßen Steinwänden und einem rechteckigen vergitterten Fenster. Die Kamera schwenkte abwärts. Jannes lag reglos und mit geschlossenen Augen auf dem kahlen Betonboden. Eine Blutpfütze umgab seinen Kopf. Hände erschienen im Bild, feingliedrig und mit dunkelrot lackierten Nägeln. Sie zogen eine Plastiktüte über Jannes Kopf und wickelten Klebeband um seinen Hals.

Das Display wurde schwarz.

Eve betrachtete ihre eigenen dunkelrot lackierten Nägel. Das Herz flatterte in ihrer Brust. Die Gitter am Fenster waren ihr bekannt vorgekommen, aber es dauerte einige Sekunden, bis ihr einfiel, wo sie diese gesehen hatte.

Im Fahrradkeller!

Sie sprang aus dem Bett, hastete aus der Wohnung. Während sie die Treppen hinunterrante, hämmerte eine Frage in ihrem Kopf: Wie lange dauerte es, bis ein Mensch erstickt war?

5.

Vor der Tür zum Fahrradkeller fiel Eve ein, dass sie ihren Schlüsselbund in der Wohnung hatte liegen lassen. Ohne große Hoffnung drückte sie auf die Klinke. Die Tür schwang auf und gab den Weg frei in eine nach Schimmel und feuchten Wänden riechende Finsternis.

Jannes?“ Sie lauschte.

Stille.

Durch die offene Tür fiel ein Lichtspalt in den Raum und zeichnete ein helles Dreieck auf den rissigen Betonboden. Auf der linken Seite sah Eve das Gitterfenster und stellte erstaunt fest, dass die Nacht draußen heller war als dieser Raum. Sie tastete an den Wänden herum, fand einen Lichtschalter, aber das Licht ging nicht an. Wieso hatte sie nicht an eine Taschenlampe gedacht? Oder daran, ein Messer aus der Küche mitzunehmen?

Jannes?“

Keine Antwort.

Sie trat einige Schritte in die muffige Dunkelheit.

Jannes?“

Ihr Fuß stieß einen Eimer um, der scheppernd davonrollte. Hinter ihr fiel die Tür mit einem dumpfen Knall ins Schloss. Eve fuhr herum, drückte die Klinke, aber die Tür ließ sich nicht öffnen, egal, ob sie daran zog oder sich dagegenwarf. Schließlich hielt sie inne, drehte sich mit dem Rücken zur Tür und lehnte sich dagegen. Ihre Handflächen waren schweißfeucht. Sie wischte sie an ihrer Pyjamahose ab, während sie versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Aber der schwache Schein, der durch das Gitterfenster hereinfiel, genügte nur, das Fenster selbst erkennbar zu machen.

Scheiße“, fasste Eve ihre Lage zusammen.

Vor ihr auf dem Boden erschien ein helles Rechteck, zugleich ertönte ein Muhen. Eve eilte auf den Lichtschein zu, aber der verschwand, ehe sie ihn erreicht hatte, und sie stand wieder im Dunkeln. Auf allen Vieren tastete sie den Boden ab, bis sie ins Leere fasste. Bevor sie ihre Hand zurückziehen konnte, umklammerten Finger ihr Handgelenk mit einem Griff, der unerbittlich war und kalt wie der Tod. Obwohl sie sich wehrte, wurde sie vorwärts gezogen. Sie rutschte erst über den Betonboden, dann stürzte sie kopfüber in die Tiefe.

6.

Eve erwachte vom notorischen Summen einer Fliege. Sie schlug die Augen auf. Unter sich spürte sie Wollstoff. Etwa drei Handbreit über sich erblickte sie eine Decke aus gemauerten Ziegelsteinen. Sie wollte die Beine ausstrecken und stieß gegen Stein.

Lebendig begraben!, röhrte ihr Verstand.

Sie stellte sich vor, wie sich ihre Muskeln immer mehr verkrampften, wie die Schmerzen in ihren Gelenken stärker wurden, während sie vergeblich versuchte, sich auszustrecken. Panik überrollte sie wie eine Sturmwelle den Strand. Sie wollte gegen die Decke schlagen und an die Wände treten, die Steine mit den Fingern herausreißen, bis sie einen Ausweg aus der Enge gefunden hatte.

Stattdessen schloss sie die Augen, zwang sich, ruhig und konzentriert zu atmen. Nach und nach beruhigte sich ihr Herzschlag. Langsam öffnete sie die Augen wieder. Beim Anblick der Steine dicht über ihrem Kopf flammte die Angst wieder auf. Sie biss die Zähne zusammen. Um Ordnung in ihren Geist zu bringen, begann sie, zu zählen.

Eins.

Ihr Körper fühlte sich steif an. Ihre Stirn brannte, die Zunge klebte an ihrem Gaumen. Sie musste durch den Mund atmen, weil es jedes Mal im Kopf stach, wenn sie versuchte durch die Nase Luft zu holen. Außerdem hing etwas vor ihrem rechten Auge. Als sie dorthin fasste, schoss eine Schmerzwelle durch ihre Stirn. Hastig nahm sie die Hand weg.

Zwei.

Die Fliege setzte sich auf ihren Mund. Ihre dünnen Füße tasteten sich zwischen ihre Lippen. Eve stieß ein prustendes Husten aus und schüttelte den Kopf. Das Ding vor ihrem Auge schlackerte. Die Fliege surrte davon.

Drei.

Sie war am Leben. Und würde dafür sorgen, dass es so blieb. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der Sturz im Fahrradkeller. Jemand hatte sie am Handgelenk gepackt und nach unten gezogen. War derjenige jetzt bei ihr? Ihr Herzschlag, der sich zu einem schnellen Trab beruhigt hatte, beschleunigte wieder auf Galopp. Sie winkelte die Arme an, um sich aufzustützen. Ihr rechtes Handgelenk ließ sich nur ein Stück bewegen, dann wurde es festgehalten. Eve schaute nach rechts und fuhr zusammen: Von einer durchsichtigen Plastiktüte umhüllt, starrten sie Jannes weit aufgerissene Augen an. Blutiger Schaum war um seinen Mund und vor seiner Nase getrocknet. Eve stieß einen heulenden Schrei aus. Sie wollte von der Leiche wegrobben. Ein reißender Schmerz in ihrem rechten Handgelenk stoppte sie. Eine Handschelle kettete sie an Jannes Hand. Ihr Handgelenk war aufgeschürft und dunkel verfärbt.

Die Schmerzen, die sie während der letzten Zeit dort verspürt hatte…

Und sie trug auch nicht den Pyjama, mit dem sie zu Bett gegangen war, sondern ihre blaue Bluse mit dem Gänseblümchenmuster und Jeans.

Die Fliege war zurück, summte um Jannes Kopf und setzte sich auf die Tüte, direkt vor seinen Mund. Eve scheuchte sie mit einer Handbewegung fort. Jannes Augen schienen ihr zu folgen. Sie drehte den Kopf nach links. Dort stand eine Laterne, daneben eine Flasche Mineralwasser. Beim Anblick des Wassers verspürte sie heftigen Durst. Sie streckte den Arm aus, aber sosehr sie sich anstrengte, zwischen ihren Fingerspitzen und der Flasche blieb ein knapper Abstand. Tränen der Frustration stiegen in Eves Augen. Sie winkelte ihren rechten Arm an und versuchte, die Leiche mit sich zu ziehen. Erfolglos. Der Tote war schwer wie ein Felsblock. Auf einen abgewinkelten Arm gestützt, betrachtete sie die Leiche genauer. Jannes Beine waren von den Knien abwärts mit Beton bedeckt. Er war am Boden festgelebt. Und sie würde, an die Leiche gefesselt, verdursten, eine volle Wasserflasche vor Augen.

Entmutigt ließ sie sich zu Boden sinken.

Sie erinnerte sich, Tulpen gekauft zu haben. Und an einen Rotweinfleck auf ihrem Boden. Oder hatte sie beides geträumt? Die Fliege summte an ihrem Ohr, und…

7.

sie betritt Manolos Blumenladen. Er ist in ein Verkaufsgespräch mit einer grauhaarigen Dame in einem gelben Kostüm verwickelt. Zwischen ihnen steht ein Zimmerbonsai. Bei Eves Gruß sieht Manolo auf, lächelt und zwinkert ihr zu. Eve wählt einen Strauß pinkfarbener Tulpen, legte einen Fünf Euro Schein auf den Tresen und geht.

In ihrer Küche hat sie die Tulpen gerade in einer Vase arrangiert, als es klingelt. Die junge Frau vor der Tür trägt einen schienbeinlangen karierten Rock und ein blaues T-Shirt. Ihre Finger umklameren eine gelbe Handtasche. Eve sieht, dass die Nägel der Frau dunkelrot lackiert sind wie ihre eigenen.

Hi“, sagt Eve. Sie wirft einen Blick in das blasse Gesicht der Frau, die ihr mausbraunes Haar zu einem Zopf gebunden hat und denkt: Hoffentlich nicht die Zeugen Jehovas.

Ich bin Imme.“ Die Frau reckt herausfordernd das Kinn. „Ich muss mit dir reden. Du weißt, worüber.“
Eves erster Impuls ist, die Tür zuzuschlagen. Aber dann erinnert sie sich an Jannes Worte über die sensible Imme, die zu zart für das Leben ist. Mitleid regt sich in ihr, gepaart mit einem schlechten Gewissen.

Komm rein“, sagt sie.

Imme folgt ihr in die Küche, wo sie am Fenster stehenbleibt. Immer noch hält sie ihre Handtasche umklammert.

Schöne Blumen“, sagt sie.

Danke. Woher weißt du, wo ich wohne?“ Eve verspürt ein dringendes Bedürfnis nach einem Glas Rotwein.

Dein Facebook-Account.“

Okay.“ Schon einige ihrer Freunde hatten sie gewarnt, dass sie in den sozialen Medien zu viel offenlegte. Sobald sie diese Frau losgeworden war, würde sie sich darum kümmern. „Willst du auch ein Glas Wein?“, fragt Eve, während sie eine Flasche aus dem Regal holt.

Ich trinke keinen Alkohol.“

Hör mal, das war eine einmalige Sache zwischen Jannes und mir.“ Eve entkorkt die Flasche und holt ein Glas aus dem Schrank.

Für dich vielleicht. Ich finde, dass Sex immer eine Bedeutung hat.“

Himmel, denkt Eve und gießt sich Wein ein.

Aus dem Flur ertönt ein Muhen. Sie stellt das Weinglas auf den Küchentisch. „Warte mal.“ Ihr Smartphone hat sie beim Heimkommen zusammen mit ihrem Schlüsselbund auf der Kommode neben der Wohnungstür abgelegt. Sie holt es und wischt über das Display. Eine Nachricht von ihrer Freundin Chrissie. Cocktails und dann durch die Clubs?

Bei dieser Aussicht fühlt sich Eve gleich besser.

In der Küche steht Imme immer noch am Fenster. Eve legt das Smartphone auf den Tisch und nimmt ihr Glas zur Hand.

Du hast viele Freunde, oder?“ Immes Blick ist der eines gequälten Hundes. „Ich hatte nur Jannes.“

Ich kann es nicht rückgängig machen. Aber ich verspreche dir, dass es nicht wieder vorkommt.“
Immes Lächeln gefällt Eve nicht. Es wirkt wehmütig, aber gleichzeitig hart. Sie fragt sich, ob es richtig gewesen ist, Imme hereingelassen zu haben. „Ich habe mich von ihm getrennt.“
„Hast du dir das gut überlegt?“ Eve trinkt einen großen Schluck Wein.

Imme nickt. „Ich hatte immer das Gefühl, dass ich ihm nicht genüge. Dass er sich eine andere Frau an seine Seite wünscht. Eine, die mehr ist wie du.“

Das bildest du dir ein.“

Imme schüttelt so heftig den Kopf, dass ihr der mausbraune Zopf um die Ohren fliegt. „Es gibt so viele schöne, elegante Frauen. Ich bin keins von beidem. Siehst du das?“ Sie wackelt mit ihren rot lackierten Nägeln. „Das passt nicht zu mir. So bin ich nicht.“

Eve trinkt einen weiteren Schluck Wein, bevor sie sagt: „Hast du schon mal an ein Umstyling gedacht? Ich finde, die Farbe steht dir. Und wenn du dir eine Blondierung machen lässt, und einen Lippenstift nimmst, der zum Nagellack passt…“

Nein!“

Bei Immes heftigem Ausruf zuckt Eve zusammen.

Ich will das nicht! Ich habe es ausprobiert, weil ich wissen wollte, wie es sich anfühlt, aber das bin nicht ich!“

Dann lass es. Ist sowieso nicht gut, sich für einen Typ zu verbiegen. Mache ich auch nicht.“ Eve hebt das Weinglas. Sie fühlt sich wacklig auf den Beinen und stellt das Glas wieder ab, ohne getrunken zu haben.

Ich habe nachgedacht“, sagt Imme leise. „Du kannst ihn behalten.“
Eve will sagen, dass sie Jannes gar nicht haben möchte, aber ein Schwindelgefühl erfasst sie. Mit der linken Hand stützt sie sich an der Tischkante ab. Das Weinglas fällt um, eine rote Pfütze ergießt sich auf den Boden. Verschwommen sieht Eve Imme auf sich zukommen.

Du…“ Ihre Beine tragen sie nicht mehr. Sie fällt mit dem Kopf in die Weinpfütze. Ihre Haare werden nass, Rotweingeruch dringt in ihre Nase. Als Immes Gesicht über ihr auftaucht, will sie sie wegstoßen, aber statt Immes Körper trifft sie den Tisch. Ihr Smartphone knallt auf den Boden, ein diagonaler Riss zieht sich über das Display.

8.

Eve war zu sich gekommen, als Imme sie die Treppen hinunterschleifte. Sie hatte auf einer Decke gelegen und sich nicht bewegen können. Immer wieder war sie weggetreten, obwohl ihr Kopf, nur durch die Decke geschützt, gegen die Stufen knallte. Sie hatte sich gefragt, was Imme ihr in den Wein getan hatte. Und wieso sie allein im Treppenhaus waren. Wo blieben ihre Nachbarn, wenn man sie brauchte? Dann hatte sich neuerliche Schwärze über ihren Verstand gesenkt. Das nächste Mal war sie wachgeworden, als Imme, keuchend wie ein überanstrengtes Pferd, sie die Treppe zum Fahrradkeller hinuntergezerrt hatte. „Hat Jannes dir erzählt, dass ich bei der Bauaufsichtsbehörde arbeite?“, hatte Imme gefragt, während sie die Tür aufschloss.
Eve hatte sich gewünscht, dass Imme weiter redete, weil sie spürte, wie das Gefühl in ihren Körper zurückkehrte.

Die Abteilung, in der ich arbeite, kümmert sich um die statische Sicherheit von Bauwerken“, hatte Imme erklärt. „Bei der Sanierung deines Kellers sind Gänge aufgetaucht. Ich habe Fotos gesehen. Unter dem Fußboden ist ein richtiges Labyrinth.“

Eve hatte mit den Zehen wackeln können, und ihre Wadenmuseln gehorchten ebenfalls, als sie sie anspannte.

Das Haus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut. Wahrscheinlich haben sie eine neue Bodenplatte auf die Altfundamente gegossen.“ Immes Stimme hatte erstickt geklungen, weil sie sie beim Sprechen durch den Keller zerrte.

Eve hatte ihr einen Herzinfarkt gewünscht.

Als sie in der Mitte des Keller angekommen waren, hatte Imme angehalten und sich gestreckt.

Ich lege diesen Vorgang unten in einen Aktenstapel. Das dauert Wochen, bis jemand nachfragt. Und noch länger, ehe ein Arbeiter diesen Keller wieder betritt.“

Sie hatte sich zu Eve heruntergebeugt. Die hatte ihr einen Fußtritt verpasst. Imme war ins Straucheln geraten. Eve hatte an ihr vorbei zur Tür laufen wollen, aber ehe sie auf die Beine gekommen war, hatte Imme einen Ziegelstein aufgehoben. Der erste Schlag hatte Eve an der Stirn getroffen. Sie hatte gespürt, wie sich ein Stück Haut löste. Warmes Blut war ihr über das Gesicht gelaufen und hatte wie Salz in ihren Augen gebrannt. Der zweite Schlag hatte ihre Nase gebrochen und ihre Wange aufgerissen. Eve war rückwärts gekrochen, bis ihre Hände ins Nichts griffen und sie das Gleichgewicht verlor. Sie hatte mit den Armen gerudert, und Imme hatte ihr einen Stoß versetzt.

Eine bodenlose Finsternis hatte sie verschluckt. Für einen Augenblick hatte sich Eve schwerelos gefühlt und gedacht, dass sich auch Alice bei ihrem Sturz in das Kaninchenloch so gefühlt haben musste. Nur dass Alice nicht mit dem Hinterkopf auf einen Stein geknallt und ohnmächtig geworden war.

Und Eve war in keinem Wunderland aufgewacht, sondern in einem engen Gang, angekettet an einen Toten.

9.

In dem Maß, wie der Geruch nach verwesendem Fleisch stärker wurde, verblasste das Licht der Gaslampe. Aber noch spendete diese genügend Helligkeit, dass Eve sehen konnte, wie schwarz sich Jannes Gesicht verfärbt hatte. Das Licht ließ seine starren Augen lebendig wirken. Sie schienen sie zu beobachten.

Zu der Fliege hatten sich Artgenossen gesellt. Die Insekten surrten wie kleine Hubschrauber uzmher und suchten abwechselnd Jannes und ihre Nähe.

Eves Blase war bis zum Platzen gefüllt, aber den Urin zu halten, lenkte sie von ihrem leeren Magen ab. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so hungrig gewesen zu sein – und so durstig. Ihre Zunge fühlte sich geschwollen an. Wenn sie schluckte, hatte sie das Gefühl, dass die Innenseite ihres Halses aus Sandpapier bestand. Obwohl sie es zu vermeiden suchte, schwenkte ihr Blick immer wieder zu der Wasserflasche neben der Laterne.

Mehrmals hatte sie versucht, die Handschelle abzustreifen. Aber sie bekam sie nicht über das Handgelenk, selbst dann nicht, als sie die linke Hand zuhilfe nahm. Sie hatte gehört, dass Füchse, die in eine Falle geraten waren, sich die eigene Pfote abbissen, um zu entkommen.

Unschlüssig betrachtete sie ihre Hand. Allein bei der Vorstellung dieser Schmerzen streikte ihr Verstand.

Sie rückte näher zu Jannes. Zwang sich, dessen Hand mit der Fessel daran aufzuheben. Das Fleisch fühlte sich aufgedunsen an. Sie stellte sich vor, dass es in ihren Fingern zerfiel wie weiches Hähnchenfleisch. Ihr Magen begann zu knurren, gleichzeitig drohte ihr Ekel den Atem abzuschnüren. Langsam senkte sie den Kopf, tauchte ein in den Verwesungsgeruch. Mit einem Ruck entleerte sich ihre Blase, so dass sie in warmer Nässe saß.

Hähnchen, dachte Eve und öffnete den Mund.

ENDE.

2 thoughts on “Seitensprung

  1. Boh, das Ende war schon echt eklig! Aber ansonsten spannend. Ich wollte stets wissen, wie es weiter geht! Zwischendurch war ich allerdings ein wenig verwirrt. Aich verstehe nicht ganz, warum sie am Anfang die Fotos erhält? Träumt sie das ganze nur während sie im Keller neben Jannes liegt oder was hat es damit auf sich! Ansonsten las es sich echt gut! Man merkt, dass du mit Herzblut geschrieben hast! Daher ein ❤️ von mir 😉

    1. Liebe CarmenMayer,

      ganz lieben Dank für Dein Feedback!
      Du hast Recht. Eve liegt die ganze Zeit im Keller neben Jannes. Der erste Teil ist eine halluzinierte (oder geträumte) falsche Erinnerung, und die Fotos sind -genauso wie die Schmerzen im Handgelenk – die Hinweise ihres Verstandes, dass etwas nicht stimmt.

Schreibe einen Kommentar