Lisa MarieSieben Jahre

 

„Verdrängung ist aus psychoanalytischer Sicht ein Schutzmechanismus, bei dem das Über-Ich traumatisierende Erlebnisse aus dem Bewusstsein verbannt“, murmelte Toni und betrachtete skeptisch das Psychiatrie-Taschenbuch, mit dessen Hilfe sie versuchte, ihr lückenhaftes Wissen zu einem der heutigen Patientenfälle zumindest kaschieren zu können. Sie stopfte das Büchlein in ihre Kitteltasche und schüttelte unglaubwürdig den Kopf. Sie begriff nicht, wie solche Behauptungen in wissenschaftlichen Fachbüchern gepredigt werden konnten. Wenn die Autoren dieser Wissensquellen ehrlich gewesen wären, hätten sie sich doch eingestehen müssen, dass das, was in der Gedankenwelt eines Menschen vorging, so komplex war, dass es heutzutage schlichtweg noch nicht gänzlich erfasst werden konnte. Ihre These vom unberechenbaren Mysterium der Psyche konnte Toni durch ihr eigenes Gehirn untermauern, das sich auf rätselhafte Weise dazu überreden hatte lassen, die Bewerbung für eine Famulatur in der Psychiatrie abzuschicken. Wie hatte es ihr Vater nur diesmal geschafft, sie dazu zu bringen, sich einem Bereich der Medizin zu widmen, den sie weder mit ihrer Leidenschaft noch mit ihrem Interesse bereichern konnte, da sie jene Attribute automatisch verlor, sobald sie die psychiatrische Bettenstation betrat? Sie seufzte.        

„Fräulein Adelhöfer, heute wieder besonders motiviert?“

Toni verdrehte grinsend die Augen, als Paul ihr die Tür zum Irrenhaus aufhielt. Das Stethoskop baumelte verspielt um seinen Hals und er hielt sich die Hand vor die leuchtenden Augen, unter anderem um sie vor den einfallenden Sonnenstrahlen zu schützen, aber primär, um Toni besser sehen zu können. Die notorisch schief sitzende Brille und die Sommersprossen, die wild um seine Nase tänzelten, schienen plötzlich näher zu kommen. Toni realisierte zu spät, dass er sich bückte, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken.

              „Spinnst du?“, blaffte sie ihn an. Für eine Sekunde blendete sie die Schmetterlinge, die ihren Mageninhalt aufwühlten, aus und suchte hektisch nach Zeugen. Erleichtert atmete sie aus, als sie keinen potenziellen Verräter im menschenleeren Gang ausmachen konnte.

„Stell dir vor, mein Vater hätte das gesehen. Dann wärst du deinen Job los und ich wäre erledigt“

Paul dachte wahrscheinlich, sie übertrieb maßlos, jedoch war es durchaus realistisch, davon auszugehen, dass ein Assistenzarzt, der eine heimliche Affäre mit der behüteten Tochter seines Chefarztes einging, wohl eher wenig willkommen in dessen Ärzteteam sein würde. Und trotzdem waren beide bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen. In Tonis Augen war Paul das einzige, das sie nach ihren verbleibenden zwei Wochen auf der Station vermissen würde, wenn sie wieder im Hörsaal sitzen und für die nächste Klausur ihres Medizinstudiums pauken würde.

              „Komm! Ich zeig deinem Vater, was für ein guter Fang ich bin und begeistere ihn mit meinem unglaublichen Psychiatrie-Wissen“, flüsterte Paul und die beiden machten sich kichernd auf den Weg zur morgendlichen Visite.

Prof. Dr. Viktor Adelhöfer erwartete sie schon. Mit hochgezogener Braue stand er gemeinsam mit seinen Oberärzten neben dem Patientenbett einer dürren Frau und betrachtete den schmunzelnden Paul, der seine Augen mal wieder nicht von seiner Tochter lassen konnte, durch die offenstehende Tür. Als der junge Assistenzarzt eintrat und sich neben ihn stellen wollte, blickte Dr. Adelhöfer ihm für den Bruchteil einer Sekunde mit einem Blick voll triefender Feindseligkeit entgegen und Paul erstarrte. Ebenso Toni, als sie bemerkte, was gerade geschehen war.

              „Paul, holen Sie mir bitte die Patientenkurve von Frau Willebrand. Ich habe sie im Besprechungszimmer vergessen“

Dr. Adelhöfer hatte den Blick von Paul abgewandt und starrte nun eisern in Tonis Augen. Nach dem Motto „Bitte rette meine Karriere“ konfrontierte sie nun auch Paul mit einem mimischen Hilferuf, der in erster Linie aus seiner in tiefe Falten gelegten Stirn und verzweifelten Bissen auf die Unterlippe bestand. Sie hätte gerne etwas gesagt, denn mit 21 Jahren war Toni alt genug, um das durch ihren Vater bedingte Dauersingle-Dasein auch auf offiziellem Wege zu beenden, doch nach diesem Todesblick, den er ihr gerade zugeworfen hatte, brachte sie kein Wort hervor.

„Ach, und Paul? Bitte richten Sie Ihre Brille! Das können wir unseren Patienten so nicht zumuten“

Sobald Pauls hochroter Kopf aus dem Raum verschwunden war, begann der erfahrene Psychiater mit der Chefarztvisite, sodass dem jungen Mediziner keine Chance blieb, die wichtigen Informationen mitzubekommen – ein weiterer sadistischer Zug von Dr. Adelhöfer, um seinen plötzlich nicht mehr vorhandenen Respekt auszudrücken.

              „Frau Willebrand, 49, wurde vor einer Woche eingewiesen, nachdem sie in der Arbeit einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Diagnose:  Posttraumatische Belastungsstörung. Die Vorgeschichte ist allen Anwesenden bekannt“

Die mageren Finger der Frau krallten sich in die Matratze, auf der ihr anorektischer Körper zusammengekauert saß. Sie wirkte müde und kraftlos, aber das überraschte Toni nicht. Vermutlich hätte niemand mit einer Vorgeschichte, die der von Frau Willebrand glich, gut geschlafen. Trotz der Wut, die in ihr loderte wie Feuer, seit ihr Vater Paul vor ihr und dem gesamten Kollegium blamiert hatte, lag ihr Fokus wieder ganz bei der bemitleidenswerten Frau, die gerade vor ihr saß. Deren Schicksal berührte sie und war seit ihrer Diagnosestellung allen Mitarbeitern der Station bekannt. Toni hoffte, sich besser in sie hineinversetzen zu können, jetzt wo sie dank ihrer Morgenlektüre zumindest ein wenig Ahnung vom Verdrängen von schweren Traumata hatte. Doch wie sollte sie sich in die Situation, den Tod des eigenen Kindes vergessen zu haben, hineinversetzen können? Sie konnte sich gar nicht ausmalen, was Frau Willebrand gefühlt haben musste, als sie vergangene Woche bei ihrer Arbeit als Webdesignerin von einem Bild eines einfachen rot-orange gestreiften Schnullers – einem Stimulus, wie Tonis Vater sagen würde – an den Tag erinnert wurde, an dem ihr Kind an exakt diesem Babyschnuller erstickt war. Den Tag, den sie bis zu diesem Zeitpunkt unbewusst verdrängt hatte und an dem das schreckliche Ereignis und damit auch die gesamte Existenz ihres kleinen Jungen komplett aus ihrem Gedächtnis gelöscht worden waren. Ihr Körper hatte es nicht ertragen können, mit der Wahrheit zu leben.

Das Klischee, dass in der Psychiatrie bloß gefährliche Verrückte herumliefen, konnte Toni nicht bestätigen, doch sie wünschte, es wäre so gewesen. Denn der eigentliche Alltag in der psychiatrischen Klinik war um ein Vielfaches angsteinflößender als dieses bescheuerte Filmszenario. Deshalb brannte das durch Wut entfachte Feuer in ihr umso stärker, wenn sie daran dachte, dass ihr Vater trotz ihrer immensen Abneigung gegen dieses Fach von ihr verlangte, diesen Alltag zu ihrem Alltag zu machen, um in seine Fußstapfen zu treten.

              „Dr. Adelhöfer, Sie haben Ihr Telefon auf Ihrem Schreibtisch vergessen“

Zögernd setzte Paul einen Fuß in Frau Willebrands Zimmer und hielt Tonis Vater ein demoliertes Telefon, auf dem in Blockbuchstaben „V. ADELHOEFER“ geschrieben war, entgegen. Viktor Adelhöfer riss es ihm aus der Hand und fauchte nach einer flüchtigen Inspektion des äußerst altmodischen Modells „Das gehört mir nicht“ in Pauls Richtung, um es anschließend zu ihm zurückzuwerfen. Unmissverständlich gab er ihm dadurch zu verstehen, dass diese kleine Aufmerksamkeit nicht viel bei ihm bewirken konnte und er nicht weiter von ihm gestört werden wollte. Deshalb kam Dr. Adelhöfer bei dieser Visite – anders als erwartet – leider nicht in den Genuss, von Pauls unglaublichem Psychiatrie-Wissen begeistert zu werden.

Erst zwei Stunden später, als Paul sie im Flur abfing und ins Besprechungszimmer zog, während seine Kollegen bereits in der Mittagspause waren, hörte Toni seine Stimme wieder.

              „Verdammt, er hat es herausgefunden!“, krächzte er und fasste sich panisch mit den Händen an den Kopf. Toni begann, sanft über seine Schultern zu streichen. Sie hatte mal wo gelesen, dass menschliche Berührungen Stress reduzierten und bei dem, was sie ihm gleich antun müsste, war es wohl das mindeste, was sie tun konnte. Sie schloss ihn in eine feste Umarmung, um ihm ein letztes Mal Geborgenheit zu schenken.

„Es tut mir leid, aber wir können nach dem, was heute passiert ist, unmöglich so weitermachen wie bisher. Wir müssen das beenden“

Es fiel ihr schwer. Viel schwerer als gedacht. Aber es musste sein. Ihr Vater hatte strenge Regeln für ihre Ausbildungszeit aufgestellt und die Finanzierung ihres Studiums hing davon ab, wie gut sie diese befolgte. Paul wusste das. Sie hatte es ihm bereits am ersten Tag ihrer Famulatur erzählt, als er darauf bestanden hatte, sie nach Schichtende auf einen Drink einzuladen und einfach nicht lockergelassen hatte. Nun ja, seine Sturheit war eine seiner ausgeprägtesten Qualitäten und ließ auch in diesem Moment nicht lange auf sich warten.

„Toni, du bist 21! Du bist erwachsen und dein Vater kann nicht ernsthaft von dir verlangen, dich bis zu deinem Ruhestand nur auf deine Karriere zu fokussieren. Das ist unmenschlich. Jeder braucht jemanden und ich schwöre dir, ich bin ganz bestimmt keine Ablenkung für dich und dein Studium“

Fast schon flehend sah er sie an. „Ich muss jetzt zu einem Patienten. Können wir nachher nochmal darüber sprechen?“

              „In Ordnung“, stimmte Toni zu und begrub ihr glühendes Gesicht in ihren Händen.

Nachdem Paul den Raum verlassen hatte, versank sie in ihren Gedanken – ihrem kleinen Mysterium, das ihr Vater weder messen noch therapieren konnte und dem einzigen Ort, über den er keine vollständige Kontrolle hatte.

Das Klingeln eines Telefons holte sie zurück in die Realität. Sie entdeckte das schäbige Lost-and-found-Telefon, auf dem der Name ihres Vaters prangte, und das Paul wohl zurück an seinem ursprünglichen Fundort platziert hatte. Das nervige Ding wollte nicht aufhören, Lärm zu machen, und so streckte Toni ihren Arm danach aus. Auf dem Bildschirm poppte ein weiß flackerndes Feld auf, von dem Toni „Neue Nachricht“ las. Da das nahezu mittelalterliche Gerät nicht ihrem Vater gehörte und auch sonst kein Besitzer in Reichweite war, gab sie ihrer Neugierde nach und klickte auf „Öffnen“. Vor ihr tauchte ein verschwommenes Bild von einem halb geschlossenen Fenster auf, hinter dem grasgrüne Gardinen durch den hereinströmenden Luftzug zum Wehen gebracht wurden. Neben den grünen Wellen aus Stoff erkannte Toni zwei Gesichter: Zwei Menschen, die sich im Inneren des Gebäudes befanden. Zwischen ihnen stand ein Tisch, auf dem ein Gegenstand brannte. Bei genauerer Betrachtung bemerkte Toni, dass nicht das gesamte Objekt in Flammen stand, sondern lediglich die Kerze, die sich darin befand. Das Objekt war ein Kuchen. Ein Geburtstagskuchen. Das wusste Toni, denn es war ihre eigene, mit Kirschen bestückte Sahnetorte gewesen, die ihr Vater vor einigen Wochen zu ihrem 21. Geburtstag gebacken hatte und die ihr nun von dem Bildschirm dieses fremden Telefons entgegenlachte. Die beiden Gestalten auf dem Foto konnte sie nun als sich selbst und den Meisterbäcker dieser Torte identifizieren. Sie spürte, wie ihre Herzfrequenz stieg. In jedem Winkel ihres Gehirns suchte sie bereits nach passenden, logischen Erklärungen für dieses skurrile Wiedersehen mit ihrer bereits in Vergessenheit geratenen Sahnetorte, doch da klingelte das Telefon erneut und eine zweite Nachricht rückte in den Chat-Verlauf. Diesmal handelte es sich um ein einzelnes Wort.

              „Antonia“

Seit Ewigkeiten war sie nicht mehr Antonia genannt worden. Die vollständige Form ihres Namens fand sich nur noch in ihren Ausweisen, aber nicht in ihrem täglichen Sprachgebrauch wieder. Und schon gar nicht in dem ihrer Freunde und Bekannten, denen sie sich seit sie denken konnte als Toni vorgestellt hatte. Um einiges seltsamer war jedoch der Fakt, dass dieses Bild ohne ihr Wissen entstanden war und ihr die Nummer, die es versendet hatte, nicht bekannt vorkam. Sie fasste sich an die pochenden Schläfen.

              „Nachdenken, Toni“, forderte sie sich selbst auf.

Sie musste ruhig bleiben. Rational denken. Doch wenn sie rational an die einzig plausible Möglichkeit für diese Nachricht dachte, war es unmöglich, dies mit einem gelassenen Gefühlszustand zu vereinbaren. Sie war nur noch wenige Herzschläge davon entfernt, in eine leichtgradige Tachykardie mit Schweißausbrüchen zu schlittern. Konnte sie mit ihrer Vermutung tatsächlich richtig liegen?

In ihrem bisherigen Leben war sie von Erfahrungen mit Stalking verschont geblieben, aber sie kannte genügend psychiatrische Patientengeschichten zu diesem Thema, die sich jetzt in ihrem Gedächtnis breitmachten und sie zum Erschaudern brachten. Es handelte sich hier nicht um einen Scherz, denn Scherze trug man nicht bis in die Arbeit. Und man machte sie erst recht nicht mit Dr. Viktor Adelhöfer, der wegen jeder winzigsten Belästigung an seinem durchaus sensiblen Arbeitsplatz vermutlich vor Gericht gegangen wäre.

Tonis Verstand hatte bereits einen klaren Hauptverdächtigen auserkoren, doch ihr Herz wehrte sich vehement gegen diese Erkenntnis.

              „Sorry, dass es so lange gedauert hat, mein Patient hatte mehr Redebedarf als gedacht“

Paul schloss die Tür und wollte ihr einen entschuldigenden Blick zuwerfen, doch da sprang Toni auf und presste ihren Rücken gegen die Wand. Möglichst weit weg von Paul – dem einzigen Mann in diesem Krankenhaus, dem sie genügend Privates über sich erzählt hatte, um ihren Geburtstag zu kennen, und der einen Job zu verlieren und damit auch einen Grund hatte, ihren Vater auf diese äußerst verwirrende Weise zu verängstigen oder zu erpressen. Sie konnte sich bis zu diesem Tag nicht vorstellen, dass Paul derartig verrückt nach ihr war, um sich vor ihr Haus zu schleichen und sie heimlich zu beobachten. Sie bedachte, dass er auch verrückt genug war, Psychiater werden zu wollen, und traute ihm plötzlich alles zu.

              „Was ist denn passiert?“

Mit verlegenem Blick trat er näher an sie heran.

              „Bleib bloß weg!“

Ihre zittrigen Finger deuteten auf das Telefon. Sie beobachtete Pauls Reaktion, als er das Bild sah. War es tatsächlich das erste Mal, dass er es zu Gesicht bekam, oder war er bloß ein talentierter Schauspieler? Er nickte und reduzierte zumindest den physischen Abstand zu Toni. Mit seinen Augen versuchte er jedoch, tief in ihr Bewusstsein zu dringen und sie daran zu erinnern, wer er war. Und wer er nicht war.

              „An deiner Stelle würde ich auch auf den Typen tippen, der das Telefon gefunden hat“ Er lächelte ihr vorsichtig zu.

              „Aber Toni, ich kann dir beweisen, dass ich nicht der Psycho bin, für den du mich jetzt wahrscheinlich hältst. Ich hatte an deinem Geburtstag 24h-Dienst und war den gesamten Tag über hier. Es gibt dutzende Arztbriefe, die ich ausgestellt habe, und genügend Patienten, die das bestätigen können“ Sein Lächeln wurde breiter und verschmolz zu einem amüsierten Lachen als er fortfuhr:

              „Außerdem kannten wir uns an deinem Geburtstag noch gar nicht. Er war einen Tag vor deinem Famulaturbeginn und du hast die übergebliebene Torte vom Vortag in die Klinik mitgebracht“ Er hielt kurz Inne und Toni fiel ihm schwach lachend und überwältigt von der Erleichterung, die ihre Muskeln wieder zur Relaxation brachte, um den Hals.

Erst als das Telefon ein drittes Mal klingelte, realisierte sie, dass Erleichterung in ihrer Situation wohl fehl am Platz war. Das Foto, das sie diesmal aus der Bahn warf, war das Bild eines Mädchens im Kindesalter, das ihr verblüffend ähnlichsah. Jedoch hatte es härtere, unstimmigere Gesichtszüge und einen seltsamen Haaransatz. Toni war sich bewusst, dass es sich nicht um ihr Kinderfoto handelte, jedoch sorgten die eigenartig schiefen Lippen der Kleinen für ein Gefühl in Tonis Magengrube, das sie noch nie zuvor vernommen hatte und das sie dermaßen verstörte, dass sie sich wünschte, sich nie wieder damit auseinandersetzen zu müssen.

Doch so sehr sie es versuchte, sie konnte ihre Augen nicht von dem Bild nehmen. Fast schon fanatisch starrte sie darauf. Hätte sie das Foto in einem anderen Kontext gesehen, hätte sie ihm vermutlich keine große Beachtung geschenkt, aber unter diesen Umständen sorgte es dafür, dass sich die Härchen auf ihrem Arm schlagartig aufstellten und ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Toni war ein Einzelkind und hatte keinerlei Cousinen oder andere Verwandten, die ihr ähnlichsehen hätten können. Konnte es sein, dass sie etwa eine Schwester hatte, der sie bis dato nicht begegnet war? Die Frage, die sie am meisten belastete, war jedoch, was mit ihrem vermeintlichen Geschwisterchen passiert sein musste, um erst jetzt und auf diesem Wege in Tonis Leben treten zu können. Sie schüttelte wild ihren mit düsteren Gedanken gefüllten Kopf. Nein, es handelte sich bestimmt bloß um eine andere Person, die optische Gemeinsamkeiten mit ihr hatte, oder ein misslungenes Portrait ihrer selbst. Ihr Körper bebte, als sie das Telefon drehte, um Pauls Meinung zu der ominösen Nachricht zu hören, und sie hoffte, dass er den explosiven Inhalt ihres Gedankenguts auch ein zweites Mal entschärfen können würde. Aber als Toni seinen Gesichtsausdruck wahrnahm, wusste sie, dass er ihr diesmal nicht helfen konnte und ihr war plötzlich speiübel. Sie hörte noch ein „Das sieht aus wie …“ aus Pauls Mund kommen, dann war die Tür auch schon hinter ihr zugefallen und sie rannte mit dem verteufelten Telefon in der Hand in Richtung Damentoilette.

Irgendetwas in ihr erinnerte sich, doch diese Erinnerung war nicht mit einer Erklärung verlinkt, sondern führte sie lediglich zu einer Handvoll Emotionen, die sie wohl vor langer Zeit schon mal verspürt haben musste. Keine einzige davon war positiv, doch sie wusste nicht weshalb. Der Anblick des kleinen Mädchens hatte dafür gesorgt, dass diese Flut an Gefühlen in ihr Gedächtnis schwappte und alle Nervenverbindungen, die sie so dringend zum Nachdenken gebraucht hätte, blockierte.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet das Hiobs-Telefon ihre Fluchtmöglichkeit aus diesem unerträglichen Gefühlszustand sein würde. Es läutete erneut und lenkte Tonis Gedanken aus dem imaginären schwarzen Nebel, der sich um sie herum ausgebreitet und ihr das Gefühl für Zeit und Raum genommen hatte.

Desorientiert musterte sie den kurzgefassten Text auf dem Schirm. „Morbus Stockholm“ stand dort. Kein Foto. Toni lockerte ihre Schultern. Mit zwei nichtssagenden Worten konnte sie leben. Sie war heilfroh, dieses Gesicht nicht mehr sehen zu müssen, und kein neues präsentiert zu bekommen. Wieso nur sendete jemand diese Kollektion aus verstörendem Bild- und Textmaterial an ihren Vater? Und wieso nur drückte sich der Absender so kurz und Stichwort-artig aus anstatt in normalen Sätzen zu schreiben? Hatte er oder sie etwa nicht genügend Zeit oder befand sich selbst unter Beobachtung? Oder gar in Gefangenschaft? Bei den Worten „Morbus Stockholm“ klingelte etwas bei Toni. Da sie Medizinerin war, wusste sie, dass es keine tatsächliche Krankheit namens Morbus Stockholm mit echten Symptomen und dafür zugeschnittenen Therapieoptionen gab. Es wirkte eher wie eine an das Umfeld des Textempfängers angepasste, verschleiernde Umschreibung für das Stockholm Syndrom – ein Phänomen, bei dem das Opfer einer Entführung mit dem Täter sympathisierte und freiwillig bei ihm blieb. Konnte es etwa sein, dass der Verfasser dieser Nachrichten gerade in Schwierigkeiten steckte und deshalb versuchte, auf sich aufmerksam zu machen? Verkümmerte da draußen eine Person in dem geheimen Versteck eines Geisteskranken und kämpfte mit diesen Botschaften um die eigene Freiheit?

Toni musste ihm oder ihr helfen. Sie rappelte sich auf und stürmte aus der Toilettenkabine, auf der sie sich während ihres mentalen Zusammenbruchs verschanzt hatte. Im Gang stand Paul und blickte suchend und etwas verloren um sich. Als er sie sichtete, ging er direkt zu ihr.

„Ich muss dir etwas zeigen“, stammelte Toni, aber Paul hörte ihr gar nicht zu.

„Dieses Foto, das du mir vorhin gezeigt hast…Es sieht aus wie …“, setzte er an, doch Toni unterbrach ihn ebenso.

„So wie ich. Jaja, ich weiß“

Energisch schüttelte Paul den Kopf.

              „Nein, du verstehst nicht“ Toni hatte ihn noch nie so aufgelöst erlebt. Selbst vor einigen Stunden, als er um seine Karriere gebangt hatte und bloßgestellt worden war, hatte er gefasster gewirkt. Seine Brille saß nun schiefer denn je, doch er schien es kaum zu registrieren.

„Es sieht aus wie ein Phantombild. Eines, das die Polizei angefertigt hat, um diese Person zu finden“

In dem Moment traf eine neue Nachricht ein. Die Nachricht, die Tonis Sicht auf die Welt grundlegend verändern würde. Das Bild von einem Spielplatz.

Und plötzlich erinnerte sie sich an alles. An den Tag, an dem ein Verbrechen geschehen war. Eine unfassbar grausame Tat – ein Diebstahl, bei dem sieben Jahre gestohlen worden waren. Sieben gemeinsame Jahre.

Plötzlich machte alles einen Sinn und die einzelnen Puzzleteile fügten sich zusammen zu einer gigantischen Tragödie, die Tonis Leben war. Sie verstand, was der geheimnisvolle Schreiber Dr. Adelhöfer mitteilen wollte. Auf eine Art, die keine Spuren hinterließ und ihn nicht vor Gericht belasten würde. Eine Art der Kommunikation, die so friedvoll war, dass er unmöglich aus einer panischen Kurzschlussreaktion heraus Unüberlegtes tun hätte können. Ein Entgegenkommen und ein Kompromiss, ihn nicht der Polizei auszuliefern, um im Gegenzug etwas von ihm zurückzubekommen. Toni hatte eine vage Vermutung, um wen es sich bei dem Absender handeln könnte. Es war alles wieder da. All ihre verdrängten Erinnerungen.

Der Spielplatz – der Ursprung dieser Geschichte und ihr Stimulus. Sie erinnerte sich an die Schaukel, auf der sie gesessen hatte, als der Fremde nähergekommen war. Morbus Stockholm – der Prozess des natürlichen, ihrem damaligen jungen Alter geschuldeten Vergessens und die unzähligen Therapiesitzungen, um sie zum Vergessen zu bringen. Manipulatives Erlangen von vermeintlich freiwilliger Kooperation. Das Phantombild – der Wille zweier Löwen und bedingungslose Liebe, die Kraft aufbringen ließ, um zur Polizei zu gehen, und nie damit aufzuhören, nach ihrem kleinen Mädchen zu suchen. Antonia – ihr Name, der ihr von ihren Eltern gegeben und von Viktor Adelhöfer genommen worden war. Ersetzt durch ein simples „Toni“, da sie sich mit vier Jahren bereits zu sehr an ihren Namen gewöhnt hatte, um ihn gänzlich austauschbar zu machen. Das Bild ihres 21. Geburtstages – ihre Erlösung und die Verkündung, dass sie nach all den Jahren der Suche endlich gefunden worden war. Dass sie bald wieder vereint sein würden. Nach sieben gestohlenen Jahren.

Im gegenüberliegenden Trakt des Krankenhauses stand Viktor Adelhöfer am Fenster und beobachtete zwei Menschen, die soeben vor der Klinik angekommen waren. Er erinnerte sich an seine Schwärmerei für das kleine Mädchen von nebenan, von dem er wie von einem Magneten angezogen worden war und das ihn von der ersten Begegnung an mit seinem klugen Blick verzückt hatte. Er dachte an seine Vision, sein Vermächtnis zu vererben und seine Leidenschaft für die Psychiatrie weiterleben zu lassen. In Form eines Nachkommens. Zumindest war das die Rechtfertigung für seine schandhafte Tat gewesen, die er sich immer wieder einzureden versuchte, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass er ein kranker Mann war und seine Kinderlosigkeit als Entschuldigung für das Ausleben von Trieben eines Wahnsinnigen benutzte. Als er die zwei Gestalten unten am Parkplatz gesehen hatte, wusste er, dass jetzt alles vorbei war. Er betrachtete sie. Das Pärchen, das gezeichnet war von Trauer und Verlust. Doch trotz allem, was sie durchgemacht hatten, war ihnen das Fünkchen Hoffnung, das in ihren Augen wie leuchtende Sterne glitzerte, erhalten geblieben und verwandelte sich nun – als die zwei aus dem Taxi stiegen und auf die psychiatrische Klinik zugingen – in Optimismus.

Ein paar Stationen entfernt kullerte eine Träne über Tonis Backe. Paul bemerkte, dass gerade etwas in ihr passiert war, das er noch nicht begreifen konnte, aber dem er sich Toni zu Liebe stellen würde, wenn die Zeit reif war. Für den Moment konnte er nicht mehr für sie tun, als sie an sich zu drücken, und ihr zu beweisen, dass zumindest eine Sache in ihrem Leben beständig war. Und so standen die beiden eng umschlungen im Krankenhausflur der Psychiatrie, umgeben von Borderlinern, multiplen Persönlichkeiten und Schizophrenen, und doch war es heute Toni, die von all den Leidenden am meisten mit ihrer Identität zu kämpfen hatte.

4 thoughts on “Sieben Jahre

  1. Hi, mir gefällt die Geschichte sehr gut. Der Ansatz ist tatsächlich mal ein anderer hier.
    Vielleicht ein kleiner Kritikpunkt : für mich war der Spannungsbogen etwas schleppend aufgebaut, möglicherweise durch die doch zum teil recht ausführlichen Hintergrunderklärungen. Da könnte man vielleicht mehr Fantasiespielraum für den Leser lassen.
    Ansonsten eine schöne und runde Geschichte. Mein Like hast Du.

    P.S. vielleicht hast Du ja auch Lust, meine Geschichte zu lesen und ein Feedback zu hinterlassen : Glasauge

  2. hi, ein wirklich wichtiges Thema sprichst du da mit deiner Geschichte an. habe bis zum Schluss gespannt gelesen. was deinen Schreibstil und die Konstruktionen angeht war ich echt begeistert. ganz großes Kino. an Kreativität mangelt es dir auf jeden Fall schon mal nicht! mein Like hast du und ich hoffe es kommen noch ein paar dazu! wenn du magst lass mir doch auch ein Feedback und bei Gefallen ein Like da. Beste Grüße, Patricia.

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/hinter-den-kulissen

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