Karin FuchsSmartHohn

 

1

„Papa, was passiert mit mir, wenn ich sterbe?“, es ist ein kaum hörbares Wispern, viel leiser als ein Flüstern, welches ihren Lippen entweicht.

Du kommst unter die Erde, wo die Larven deinen zarten Körper zersetzen.
Möchte Nick erwidern, denn er glaubt nicht an das Leben nach dem Tod.

Seine Augen füllen sich mit Tränen, eine Welle aus Trauer und Wut bricht auf ihn hinein. Er sinkt immer tiefer, bekommt kaum noch Luft zum Atmen. Es ist dunkel um ihn herum und er findet keinen Ausweg mehr, keinen Weg  zurück an die Oberfläche. Sein Hoffnungsschimmer ist erloschen.

Noch immer blickt sie ihn erwartungsvoll an. Selbst in dieser schrecklichen Sekunde sieht Nick in ihren warmen, bernsteinfarbenen Augen Hoffnung.

„Mich hat letzte Nacht wieder mein Engel besucht.“, ihr Atem ist schwach. Das Sprechen kostet sie  deutlich Kraft. „Er sagt, es sei Zeit für mich zu gehen, Papa. Ich will aber noch nicht gehen.“
Eine Träne löst sich und bahnt sich ihren Weg über die blasse, zarte Haut seiner Tochter.

Nick drückt sie ganz fest an sich. Obwohl  ihre Augen noch Leben versprühen, fühlt sich ihr Körper bereits kalt und starr an.

 

2

15 Jahre später

 

Ein lauter Knall lässt Nick mitten in der Nacht aufschrecken. Schon beinahe froh über diese nächtliche Unterbrechung sucht er gerädert seine Pantoffeln, die er vor dem Schlafengehen am Bettrand abgestreift hat.

Es war wieder einmal einer dieser Albträume, die so real und anfassbar sind, dass er das Geträumte von der Realität nicht unterscheiden kann. Noch immer fühlt er die Angst in seinen Knochen, noch immer liegt ihm der beißende Geruch von Putz- und Desinfektionsmittel in der Nase. 

Gähnend schlurft Nick in den Hausflur. Den Lichtschalter betätigt er bewusst nicht. Das grelle Licht möchte er seinen müden Augen nicht auch noch antun.
„Weißt du wie spät wir haben, Fräulein?“, begrüßt Nick seine Teenager-Tochter mit zerknautschtem Gesicht. „Es tut mir leid, Papa. Der Wind hat die Tür zugeschlagen.“, versucht Marie sich zu entschuldigen. Dabei schüttelt sie torkelnd ihre Chucks ab, stets bemüht den Boden unter ihren Füßen nicht zu verlieren.
Nick kann sich das Schauspiel kaum ansehen und kommt seiner betrunken Tochter zur Hilfe. Nach der Fahne zu urteilen, tippe ich auf Vodka.
„Schlaf erst einmal deinen Rausch aus.“
Kopfschüttelnd geht er wieder ins Bett. Wann hat sie sich nur zur Partyqueen entwickelt? Fragt er sich noch, bevor er sich an den mollig warmen Körper seiner schlafenden Frau schmiegt.

Viele Jahre hat Nick auf diese Gelegenheit gewartet. Ein kleiner Rachezug aus den Jahren, in denen er schlaflose Nächte erleiden musste, um dann doch um sechs Uhr früh unsanft aus dem Schlaf gerissen zu werden.
„Guten Morgen, Sonnenschein!“, reißt Nick zunächst die Vorhänge vor dem großen Fenster auf, welche die Sonnenstrahlen aussperren sollten und lüftet anschließend die Schlafdecke, in der sich seine verkaterte Tochter eingewickelte hatte. „Dein Ernst?”, stöhnt Marie schlaftrunken. „Mein voller Ernst.”, erwidert Nick verschmitzt. Denn wie lautet der Spruch? Rache ist süß- und umso süßer, wenn man Tage, nein sogar Jahre auf diesen einen Augenblick warten muss.
„Steh auf, Töchterchen oder wünschst du dir noch eine kalte Dusche?” neckt Nick Marie weiter, indem er sich auf sie schmeißt und an den entflindlichsten Stellen kitzelt. „Hör auf!”, krächzt Marie nach Luft schnappend, „Ich ergebe mich!”

In einem ihr viel zu großem Nike T-Shirt, welches vermutlich ihrem jüngsten Freund gehört, und einer kurzen Shorts bekleidet, schleppt Marie sich die Treppen hinunter. Ihr dunkles, langes Haar ist noch vom Schlaf ganz zerzaust. Vom Abschminken hatte das junge Ding auch noch kein Gebrauch gemacht. So sitzt Nicks Tochter noch halb komatös mit Panda Eyes am Frühstückstisch. „Na, wie bist du um ein Uhr früh nach Hause gekommen?”, möchte der fürsorgliche Vater wissen und reicht ihr ein Glas Orangensaft. „Maya.” ist das einzige, was Marie als Antwort bietet. So, so Maya also. Wieder eine neue unbekannte Freundin von den etlichen Feten, welche Marie in letzter Zeit besucht. 

„Maya, wer?”, hakt Nick nach. Die Augen verdrehend nimmt Marie einen großen Schluck Orangensaft und schiebt das Glas gleich wieder von sich weg, die Säure bekommt ihr wohl nicht. „Kennst du nicht. Sie hat mich gemeinsam mit ein paar anderen Mädels nach Hause gebracht. Nicht der Rede wert, Papa.” versucht Marie den Smalltalk zu beenden. Ihr Kopf dröhnt noch von der lauten Musik. Dementsprechend ist Marie noch nicht auf irgendwelche für sie belanglosen Gespräche eingestellt. „Nicht so frech, Fräulein”, ermahnt Nick sie und erhebt sich. Wo ist nur mein kleines Mädchen geblieben? Fragt er sich insgeheim. Mein kleines Mädchen, welches morgens freudestrahlend in unserem Elternbett rumgehüpft ist und zur frühen Stunde nichts als Spielen im Kopf hatte? Das kleine Mädchen hat sich wohl in eine mürrische Teenagerin verwandelt, welcher man jedes Wort aus der Nase ziehen muss.

Das Vibrieren seines Handys holt Nick aus seinen Gedanken. Es ist eine Nachricht einer ihm unbekannten Nummer eingegangen. Verwundert, wer wohl der mysteriöse Versender dieser Nachricht sei, öffnet Nick letztendlich den angegeben Link. Als hätte jemand Nicks Frage über die neue Bekanntschaft seiner Tochter gehört, sieht er auf einem dieser typischen Partyfotos seine Tochter abgebildet, die eng umschlungen mit einem Longdrink in der Hand mit einer kurzhaarigen Blondine auf der Tanzfläche in den ungemütlichsten Verbiegungen post. Das muss also Maya sein. Denkt sich Nick seinen Teil. Nun gut, wir waren ja auch mal jung.

Leicht beschämt, als hätte Nick seiner Tochter nachspioniert, startet er einen Versöhnungsversuch und lädt Marie zu einer Shoppingtour ein. Wie auf Knopfdruck erhellt sich Maries Stimmung schlagartig. Schon witzig, wie schnell die Stimmung einer Pubertierenden umspringen kann. Schnell huscht Marie hoch ins Badezimmer, verwandelt sich vom Panda zum lieben Mädchen von nebenan, wirft  sich ein hübsches, sommerliches Blumenkleid über und ist bereit, die Brieftasche ihres Vaters um einige hundert Euro zu erleichtern.

Als wären sie bei der Sendung Shopping Queen, schnappt sich Marie ein Outfit nach dem anderen und schmeißt diese Nick in die Arme. Der Stapel wächst mit jeder Minute und Nick wurde als persönlicher Kleiderständer umfunktioniert. Ob das eine gute Idee war? Fragt Nick sich im Nachhinein. 

Marie muss natürlich jedes Kleidungsstück auf ihrem selbst gekürten Catwalk präsentieren. Nick sieht bereits all das viele Geld durch seine Hände gleiten. 

Nach geschlagenen drei Stunden und 395 Euro leichter verlassen beide nun endlich die Shoppingmall. Lade ein pubertierendes weibliches Wesen nie zu einer Shoppingtour ein. Schreibt sich Nick hinter die Ohren. Das war wohl das erste und auch das letzte Mal. Besiegelt er dies mit einem Schwur.

 

3

Zum krönenden Abschluss der Shoppingtour hat Marie ihren Vater noch zu einem Eisbecher bei Gelato di Ferigo überredet. Nun gut, einen Kaffee kann Nick auch gut gebrauchen. Das lange Warten hat ihn ein wenig müde gemacht. 

Während Nick für Marie einen mehr oder weniger guten Zuhörer für die neuesten Trends und die angesagtesten Musik-Videos abgibt, fühlt er sich für einen Augenblick lang wieder glücklich. 

Oft plagen ihn Erinnerungen an Krankenhausaufenthalte, schlaflose Nächte und das Piepen des EKG’s, welches die Herzfrequenz seines kleinen Mädchens maß.
Wie viele graue Haare ihm wohl während dieser grausamen Zeit gewachsen sind? Ertappt Nick sich bei der Frage, während er mit der rechten Hand durch sein schwarzes, lockiges Haar streift.

Das Lachen von Marie reißt ihn wieder aus der Welle der Erinnerungen, von der Nick zwischenzeitlich mitgerissen worden ist. 

Er schaut seiner Tochter in die strahlend bernsteinfarbenen Augen und fühlt sich direkt von ihrer Euphorie angesteckt. Das große Glück sitzt Nick direkt gegenüber..

„Papa, dein Handy klingelt ununterbrochen”, lacht Marie „und du bemerkst es nicht einmal.” Belustigt stochert Marie noch ein wenig in Ihrem Erdbeerbecher herum. Erst wenn das Eis ganz cremig ist, sowie beim MC Flurry von McDonald’s, nimmt sie genüsslich einen Löffel Erdbeereis in den Mund.

Manche Dinge werden sich wohl nie ändern. Belächelt Nick Marie und hat sie wieder als sein kleines Mädchen vor seinem inneren Auge.

„Hallo, Lapsus am Apparat?”, möchte Nick wissen, wer ihn mit unterdrückter Nummer wohl anruft. NIck hört lediglich ein leises Atmen. „Wer ist da?” 

Nichts. Am anderen Ende der Leitung bleibt es stumm.
Irritiert drückt Nick das nichtssagende Telefonat wieder weg. 

Muss sich jemand wohl einen dummen Streich erlaubt haben. Redet er sich ein. Ein weiteres Vibrieren in der Hose soll ihn vom Gegenteil überzeugen.

 

Leicht genervt kramt Nick das Handy wieder aus der Hosentasche.

Er hat eine Bildnachricht erhalten. Bedingt durch den schlechten Empfang bei Gelato di Ferigo dauert es einen Moment, bis das Foto vollständig geladen ist. Beim Betreten der Eisdiele konnten sie nur noch einen Platz in der hintersten Ecke ergattern. An warmen Tagen wie diesen ist es nämlich brechend voll im Lokal. Dafür spricht das köstliche Eis, welches die Besucher erwartet.

Schlagartig fühlt sich Nick nicht mehr wohl in seiner Haut. Er fühlt sich beobachtet. Irgendjemand hat Nick und Marie bereits den ganzen Vormittag bis jetzt verfolgt.

So erkennt er sich selber auf dem Foto, wie er geduldig vor der Umkleidekabine sitzt. Vor ihm Marie, die in einem blau weiß gepunkteten Kleid ihre neueste Errungenschaft präsentiert. Der Blickwinkel des aufgenommenen Bildes zeigt, dass der stille Beobachter keine fünf Meter von ihnen entfernt gewesen sein muss.
Der Anblick des zweiten Fotos, welches gleich danach auf seinem Handy eingeht, ist noch viel verstörender als das zuvor. Er sieht sich und Marie an dem Tisch, an dem sie gerade sitzen. Das kann nur bedeuten, dass der unerwünschte Paparazzi noch ganz in der Nähe sein muss. Wird es Nick schlagartig klar.

Ein kalter Schauer läuft über seinen Rücken. Er blickt sich suchend um, versucht den stillen Beobachter ausfindig zu machen.
„Komm Hase, iss dein Eis auf. Mama erwartet uns sicherlich bereits Zuhause.”, möchte Nick schnellstmöglich den Tagesausflug mit seiner Tochter beenden. „Ist gut, Papa.” bemerkt Marie, die den plötzlichen Stimmungswechsel ihres Vaters nicht ganz nachvollziehen kann. Achselzuckend kratzt Marie den Rest aus ihrem Becher und steht auf. Nick schnappt sich die Tüten und flieht förmlich aus dem Lokal. Dabei vergisst er sogar fast zu bezahlen. „Nicht so stürmisch, mein Herr.”, fährt ihn die Bedienung an.
Verschämt zückt Nick seine Brieftasche und schlägt ein saftiges Trinkgeld auf die Rechnung drauf. Zufrieden nimmt die Kellnerin das Geld an sich und nickt ihm zu, er habe die Erlaubnis jetzt zu gehen.

 

5

Was hat das nur zu bedeuten? Kehrt Nick in sich. 

Er durchforstet mögliche Szenarien aus den letzten paar Monaten und wiegt kritisch ab, ob er sich etwas zu Schulden kommen lassen hat. Habe ich irgendetwas übersehen?  

Als Strafverteidiger hat Nick viel mit mehr oder minder gefährlichen Klienten zu schaffen. Sollte sich einer falsch beraten oder verteidigt fühlen, kommt es nicht selten vor, dass du zum Stalking Opfer wirst.
Doch Nick ist ein erfolgreicher Strafverteidiger. Er weist eine hervorragende Laufbahn vor. Seit gut zwei Jahrzehnten gewann er alle ihm überlassenen Fälle.
Seine Kollegen verehrten und verachteten ihn zugleich.
Vielleicht bin ich auch zu erfolgreich? Lenkt Nick seinen Gedankengang in eine andere Richtung. 

Vielleicht ist Neid der Ursprung dieser Aktion? 

Doch welche Rolle spielt hier meine Tochter? Kommt ihm in den Sinn.
Mit einem Mal klingen  seine soeben durchdachten Theorien unlogisch und Nick steht wieder ganz am Anfang seiner Fragen. 

Wer ist mein stiller Beobachter?

Ein schrilles Klingeln lässt Nick aufschrecken. Er muss sein Handy wohl versehentlich auf laut gestellt haben. „Hallo?”, krächzt Nick unverständlich in den Hörer. „Was willst du von mir?” 

Rauschen. 

So langsam wird Nick ungeduldig. Was für ein Kindertheater!

„Hörst du mich, du Feigling?”, greift Nick den Unbekannten nun auf der anderen Seite an. „Hast wohl nicht die Eier in der Hose, mir ins Gesicht zu blicken, was?”, versucht er seinen Stalker zu provozieren. 

Nick hört ein leises, verzerrtes Auflachen, bevor die Verbindung wieder abreisst.

Psychopath. Denkt Nick sich. Du kriegst mich nicht klein. Spricht er sich Mut zu.

 

6

Ein erneutes Klingeln lässt in Nick eine kleine Welle aus Wut aufkommen. Langsam reicht es aber! Fährt Nick aus seiner Haut. Sind wir hier etwa im Kindergarten? Nick greift sein Handy, um dem Unbekannten weiter seine Meinung zu geigen. Doch sein Display ist schwarz. Es gleicht noch nicht einmal der Melodie, welche für  die eingehende Anrufe eingestellt ist, tadelt Nick seinen Verstand.

Es ist nicht sein Handy, welches einen eingehenden Anruf verzeichnet. Doch welches Handy soll hier noch klingeln? Marie hat sich zu ihrem Freund verdrückt und Linda ist, soweit er weiss, mit ihrer Busenfreundin unterwegs. 

So begibt Nick sich auf die Suche nach dem Ursprung des Klingeln. Einen nervigeren Klingelton hat der Eigentümer wohl nicht auswählen können, folgt er der Melodie von Tetris, welche einfach nicht aufhören möchte. Vielen Dank für den Ohrwurm. Dieser wird mich wohl bis spät in die Nacht begleiten. 

Als Nick im Esszimmer endlich fündig wird, verstummt die Melodie zu seiner Erleichterung. Balsam für die Ohren. Atmet Nick auf. Doch wessen Handy ist das? Überlegt er, als er auf das schwarze Display eines roten Nokias starrt. 

Kaum nachdem Nick das Handy in seine Hände genommen hat, erhellt sich das Display.

Merkwürdig. Ich habe doch noch nichts gedrückt. Wundert er sich. 

Nick wischt über das Display. Am unteren Rahmen des Handys sieht er eine Art Sensor, welcher wohl zum Entsperren dient. 

Nur wie ist es möglich? Jeder Fingerabdruck ist einzigartig.
Und Nick hat das Handy zuvor noch nie gesehen. Das Handy hätte von mir also niemals entsperrt werden können. Außer mein Fingerabdruck wurde als Schlüssel hinterlegt.

Auf dem soeben entsperrtem Display wird ein Video angezeigt. Das große hellgraue Dreieck lädt zum Abspielen ein.

Soll ich es wagen? Geht Nick in sich, ob er in die Privatsphäre eines anderen eindringen soll.

Nach einem kurzen Zögern entscheidet Nick sich letztendlich doch dafür, das Video abzuspielen.

Das Bild ist recht dunkel und wackelig, daher ist es schwer zu sagen, wo die Aufnahme stattgefunden hat. Der beige Langflor-Teppich kommt Nick bekannt vor. Doch da verschwendet er keinen weiteren Gedanken mit. Die gibt es in jedem Möbelgeschäft zu erwerben.

Ein leises Knarzen verrät, dass eine schwere Holztür geöffnet wird. Die Kamera ist weiter auf den Boden gerichtet. Der mysteriöse Kameramann bleibt somit weiter unbekannt.

Was geht hier vor sich? Drängt die Neugier ihn zum Weiterschauen. 

Das was nun folgt, lässt das Blut in Nicks Adern gefrieren.
Eine in Lederhandschuhe gepackte Hand nähert sich einer schlafenden Person. Und damit blickt Nick in sein eigenes Ebenbild. Entsetzt lässt Nick das Handy zurück auf den Esstisch fallen. Was für ein kranker Film wird hier gedreht? 

Den Blick weiter starr auf das Display gerichtet, verfolgt Nick, wie seine Hand missbraucht wird, um die Fingerabdruckerkennung auf einem ihm fremden Handy einzurichten.  Dieses Handy. Erkennt Nick zu seinem Entsetzen.

Irritiert blickt Nick auf eine Nachricht, die aufpoppt, gleich nachdem das Video  ein endloses Meer aus Fragen in Ihm aufwirft.

 

050809

 

Nick gleicht einer Leiche, so schnell weicht das Blut aus seinem Gesicht. 

 

Die Zahlenfolge erinnert an ein Datum.

 

Nicht irgendein wahlloses Datum.

 

Sondern genau das Datum, welcher sich als schlimmster Tag aller Zeiten entpuppte.

Eine weitere Erinnerungs-Welle bricht auf Nick hinein, als in der darauffolgenden Nachricht ein Link zu einem Wikipedia-Eintrag erscheint.  Der Titel über diesem Eintrag macht ihm das Atmen fast unmöglich. 

 

Leben nach dem Tod

 

Prangt in großen, schwarzen Letter.

Welcher Irre möchte mich hier in den Wahnsinn treiben? 

Um endlich Aufschluss zu erhalten, wer ihn bereits den ganzen Tag  terrorisiert, durchforstet Nick die Bildschirme, um zur Galerie zu gelangen. Hier erhofft er, den Besitzer des okkulten Handys ausfindig zu machen.

Der weitere Anblick, welchem Nick ausgesetzt wird,  reißt ihn noch weiter in die Tiefe des Abgrunds.

Zwei hoffnungsvolle Augen blicken Nick entgegen.

„Was passiert mit mir, sollte ich sterben, Papa.”, durchströmt Nick die letzte Frage seines kleinen Mädchens. Eine Frage, zu der Nick heute noch eine Antwort schuldig ist. Nick wird in einen endlosen Strom aus Trauer gerissen. Endlose Trauer, welche er zu überwunden geglaubt hatte.

 Tränen schießen in seine Augen. Tränen, die vor vielen Jahren versiegt sind. 

Nick kann sich nicht mehr kontrollieren, er fängt an, am ganzen Körper zu zittern. Fest das Handy umklammernd sucht er halt am Esstisch. 

Wie kommt das Handy auf den Esstisch? Woher stammen nur die ganzen Bilder auf diesem Handy? Wer außer Linda und mir hat Kenntnis über die Existenz von Amy?

Amy, die Erstgeborene. Amy, die das Leben viel zu früh verlassen hatte.

 

7

„Herr und Frau Lapsus?”, bricht eine Stimme die zweisame Anspannung, welche Linda und Nick in den letzten vier Stunden ertragen mussten. 

Der Chefarzt betritt den Warteraum. Nick versucht an seiner Mimik das Ergebnis der zahlreichen Untersuchungen abzulesen. Wäre es ein Pokerspiel, wäre der Chefarzt ihm haushoch überlegen.
Er verzieht keine Miene. 

„Geht es meinem Mädchen gut?”, schluchzt Linda. „Sie ist doch nur gestürzt. Jedes Kind stürzt doch mal beim Fahrradfahren.” Versucht sie sich zu erklären. „Warum dann die ganzen Untersuchungen?”

Beschwichtigend bittet der Chefarzt Linda und Nick, sich zu setzen. „Wir wollten lediglich eine Gehirnerschütterung ausschließen.”, beginnt er mit der Diagnose. „Daher habe wir ein MRT angeordnet.” Die Atempause, welche der Chefarzt nun einräumt, lässt Nick jetzt das Schlimmste befürchten. „Es tut mir unendlich leid.”, beginnt er nun doch mit trauriger Stimme.
2Was tut Ihnen leid?”, zischt Linda ihn an. Die Ungewissheit zerreißt sie innerlich.
Nick versucht Linda zu beruhigen. Doch sie wehrt seine Versuche ab. „Hättest du sie nur besser festgehalten!”, lenkt Linda die Wut nun gegen Nick. 

„Herrn Lapsus trägt keine Schuld.”, unterbricht der Chefarzt den Sturm aus verzweifelter Wut. „Das MRT zeigt ein Glioblastom in der rechten Gehirnhälfte Ihrer Tochter. Wäre der Sturz nicht gewesen, würde der Glioblastom ungehindert weiter wachsen und ohne entsprechende Behandlung wäre Ihre Tochter binnen zwei Monaten tot.” 

 

Die Worte, welche den Mund des Arztes verließen, waren niederschmetternd.

Im Bruchteil einer Sekunde zerbricht die Welt in tausend Einzelteile. 

Die Wut, die noch vor wenigen Sekunden in Linda herrschte, ist sofort im Keim erstickt und vor ihr öffnet sich ein tiefer Abgrund. Die Diagnose reißt Linda den Boden unter den Füßen weg und sie sackt in sich zusammen.
Nick versucht sie noch zu stützen, aber auch er hat mit der Verzweiflung zu kämpfen.

„Gibt es eine Chance auf Heilung?”, hegt Nick noch einen kleinen Schimmer von Hoffnung.

Der Chefarzt senkt seinen Blick auf das Klemmbrett. „Hören Sie, es handelt sich hier leider um einen der gefährlichsten Hirntumore.”, fährt er mit seiner Diagnose fort. „Die Lage und die Größe des Tumors schließen eine operative Entfernung aus.”, zerstört er die erste Hoffnung, die Nick hegte. „Wir müssten einen großen Teil vom Gehirn entfernen. Dieser Teil des Gehirns ist jedoch für das vernetzte Denken und für die Emotionen zuständig.” gibt der Chefarzt weitere Erläuterungen. „Ihre Tochter würde demnach ein Leben lang Schäden davon tragen. Sie würde kein normales Leben mehr führen können. Ein solcher Eingriff wäre äußerst riskant und die Chance, dass Ihre Tochter das überlebt, liegt bei unter 20 %”, vollendet er seine Ausführungen.

„Aber Sie sprachen von einer Behandlung?”, versucht Nick sich an den letzten Strohhalm der Hoffnung zu klammern. „Richtig, Herr Lapsus. Mit einer Chemo könnten wir das Wachsen des Glioblastom hinauszögern. Ihre Tochter könnte somit beinahe problemlos zwei bis drei weitere Jahre ihr Leben mit Ihnen teilen.”

 

zwei bis drei Jahre

 

Dies gibt Nick den Rest. Er kann sich nicht mehr halten.

 

Es wird um ihn herum schwarz. 

 

Tiefschwarz.

 

Dies war für Nick der schlimmste Tag aller Zeiten. Der Tag, an dem der Tod seiner geliebten Amy besiegelt wurde.

 

8

„Wer ist dieses Mädchen, Papa?“
Nick hat sie nicht reinkommen hören. Verstohlen wischt er die Tränen von seinen nass getränkten Wangen. Niemand soll seine Trauer sehen, vor allem nicht Marie. 

„Ich kenne das Kind nicht, mein Schatz. Das Handy gehört nicht einmal mir“, versucht Nick sich herauszureden. „Mama muss sich wohl ein neues Handy zugelegt haben.“

Kopfschüttelnd verneint Marie Nicks einzige Hoffnung auf eine Erklärung, wie das unbekannte Handy auf seinem Küchentisch gelandet ist. Ein Handy, wo zig Kinderfotos von einem kleinen Mädchen drauf sind – Kinderfotos von seiner kleinen Amy.

Neugierig versucht Marie, einen weiteren Blick auf das kleine Mädchen zu erhaschen. „Nun zeig doch mal her, Papa. Die sieht ja fast so aus wie ich als Kind, voll spooky!“

Erzürnt reißt Nick das Handy wieder an sich. „Erzähl doch kein Unsinn. Du hast mal wieder Hirngespinste.“ Grob schiebt Nick seine Teenager-Tochter aus der Tür. Er möchte mit seiner Trauer alleine sein. 

Nach dem Tod von Amy, haben Linda und er sich von dem Gedanken verabschiedet, jemals noch einmal ein Kind zu bekommen. Doch dann wurde Linda unerwartet schwanger.
Zunächst war es für sie ein Riesenschock. Wie würden sie jemals noch einmal jemanden so lieben können, wie ihre kleine Amy, fragte sie sich.
Für eine Abtreibung war es jedoch bereits zu spät.

Ab Beginn des letzten Trimesters haben Linda und Nick sich mit ihrem Schicksal abgefunden.
Beide haben entschlossen, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen.
Linda sah ihre Schwangerschaft mittlerweile sogar als Chance, letztendlich alles richtig zu machen. Ihr zweites Kind sollte unbeschwert aufwachsen. Nach dem ersten Schock konnte sie ihr Glück kaum fassen, noch einmal mit einem Kind gesegnet zu werden.

Nick hatte jedoch in den ersten Jahren Schwierigkeiten, Marie nicht mit seiner Erstgeborenen zu vergleichen. 

Es stimmt nämlich. Marie sieht Amy zum Verwechseln ähnlich.

 

 9

Wie kommen Amys Bilder auf dieses verdammte Handy?

War die erste Frage, die Nick sich gestellt hat, nachdem er sich aus den Wellen der Trauer befreien konnte und sich an das rettende Ufer der Akzeptanz gekämpft hat. 

Hat Linda vielleicht doch das Handy heimlich erworben und absichtlich auf dem Esstisch platziert? Ist sie mein heimlicher Beobachter? Möchte sie mich nach 15 Jahren nun letztendlich in den Wahnsinn treiben, weil sie mir insgeheim doch noch die Schuld an Amys Tod gibt?
Auf Drängen von Linda musste Amy sich ein halbes Jahr lang von einer Chemo Sitzung zur anderen schleifen lassen. Linda war es nämlich, die den Glauben an Heilung nicht ablegen konnte.
Nick hingegen hatte nach der Diagnose des Chefarztes schon längst jede Hoffnung verloren. So hat er sich schon nach kurzer Zeit immer mehr von Amy distanziert. Er konnte sich das jämmerliche Schicksal, welchem Amy ausgesetzt war, nicht mit ansehen.

Die Erinnerungen an Amy waren viel zu schmerzvoll. Somit zogen Linda und Nick nach Amys Tod um und ließen das Haus, samt Kindervideos und -bildern, welche an ihre verstorbene Tochter erinnerten, , zurück. Linda ist neben ihm also die einzige Person, die von Amys Existenz weiß. Ihre und Nicks Eltern sind bereits vor einigen Jahren verstorben. Mit ihnen starb auch die Erinnerung an seine geliebte Amy.

Zudem ist Linda die einzige neben Marie, die nachts Zugang zu dem gemeinsamen Elternzimmer hat. Wird es Nick schlagartig klar.

Habe ich die Beziehung zu Linda vernachlässigt? Ist es ein stummer Schrei nach Aufmerksamkeit?

Damit Nick selbst nicht Gefahr läuft, in ein Meer aus Depressionen zu geraten, stürzte er sich stattdessen in die Arbeit. Familienausflüge und das gemeinsame Abendessen fielen damit oft aus.

Solange Marie noch klein war, hat Linda alle Energie und Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Jetzt, wo Marie zu einem Teenager herangewachsen ist, war es für sie an der Zeit, sich abzunablen  und sie verbrachte ihre Zeit lieber mit Gleichgesinnten.

Womöglich fühlt Linda sich nun einsam. Verbringt mehr Zeit mit Grübeln. Und fragt sich, wie Amys Leben verlaufen wäre, hätte das abscheuliche Schicksal sie ihr nicht entrissen. 

Dies muss die Lösung sein. Lobt Nick sich selber, einen weiteren Fall gelöst zu haben.

Einsichtig begibt Nick sich in die erste Etage. Er sucht das Gespräch mit seiner Zweitgeborenen. Wir müssen mehr Rücksicht auf Linda nehmen. Mehr Zeit gemeinsam als Familie verbringen. Gesteht er sich selber ein. Nur so nehmen die Gräueltaten ein Ende.

„Verzeih mir, dass ich dich so grob ran genommen habe.” bittet Nick  seine Tochter um Verständnis. „Du hast mich ertappt, als  ich ein fremdes Handy durchforstet habe”, führt er seine Erläuterungen weiter aus. „Das war…” Nick hält inne, als er bemerkte, dass Marie nicht alleine im Zimmer war. 

„Hallo Mr. L.”, begrüßen ihn zwei stahlblaue Augen. 

Marie drückt schnell ihre Zigarette aus und verwischt das bisschen Asche, welches Sie auf der Fensterbank hinterlassen hat. 

Erwischt.

Kommt es Nick in den Sinn. 

Lieber eine heimliche Zigarette als einen heimlichen Joint. 

Beschwichtigt er sich sogleich selber. 

Nick zwinkert seiner Tochter zu, ihr Geheimnis sei bei ihm sicher und reicht der unbekannten Blondine die Hand. „Du musst also Maya sein.”, bemerkt er. „Marie hat mir schon viel von dir erzählt.”

Erleichtert atmet Marie aus. Dabei strömt ein kleiner Hauch des kalten  Zigarettenrauches aus ihrem Mund.

Nochmal Glück gehabt. Von Mama gebe es eine Standpauke.

„Ich habe Maya angeboten, dass sie einige Nächte hier verbringen kann”, kündigt Marie ihr Vorhaben an. „Ihr Arschlochfreund möchte das Feld nicht räumen und Maya kann unmöglich eine weitere Nacht mit dem Psychopathen unter einem Dach verbringen.”, untermauert sie, dass ihre Entscheidung die einzig richtige sei.  

Nick hebt kapitulierend die Hände. Er möchte nicht alle Einzelheiten wissen. Sie haben sein Einverständnis. 

Gleich darauf verwirft Nick sein Vorhaben, ein klärendes Gespräch mit seiner Tochter zu führen. Teenager haben ganz andere Probleme. Er würde selber dafür sorgen, dass Linda wieder inneren Frieden findet. 

 

10

Als Linda am frühen Sommerabend nach Hause kommt, erwartet Sie im Flur ein Meer aus Rosenblüten.

Sie folgt diesem die Treppen hinauf bis ins Elternzimmer hinein.

 

Wir treffen uns um 19:45 Uhr bei Mederrano. Sei pünktlich.
In Liebe Nick

 

Findet sie eine handschriftliche Notiz auf dem Ehebett. Gleich daneben ihr smaragdgrünes bodenlanges Abendkleid.

Nick möchte die Flammen der Liebe wieder entfachen und reserviert  für denselben Abend einen Tisch in dem Restaurant, wo er und Linda ihr erstes Rendezvous verbracht haben. 

Ich werde dich lieben und ehren bis der Tod uns scheidet. Wiederholt er sein Gelübde im Stillen.

Nick hat bereits Platz genommen. Der Saal erstrahlt in einem gedämpften, roten Licht. Geigenklänge runden die romantische Atmosphäre ab.

Nervös nippt Nick an seinem Whisky. Er ist sich noch nicht ganz sicher, wie er die Wogen wieder glätten soll.
Als Linda in ihrem bodenlangen Kleid den Raum betritt, kann Nick seinen Blick kaum von ihr abwenden. Ich habe ganz vergessen, wie wunderschön sie ist. Muss er sich eingestehen und die Nervosität lässt sein Herz noch höher schlagen. Nick erhebt sich, um ihr den Stuhl zurecht zu rücken.
„Danke.”, begrüßt Linda ihn. „Doch womit habe ich es verdient?”
Etwas ratlos sucht Nick nach einer Erklärung, die nicht damit beginnen soll, er wolle die Erinnerungen an ihre verstorbene Amy wieder in die Tiefe der Vergessenheit verbannen.

„Hör mal Nick,” beginnt Linda das Gespräch, ohne eine Antwort von Nick abzuwarten. „Ist ja schön, dass du mich nach Jahren mal wieder ausführen möchtest.” Verlegen lächelt Nick ihr zu. Linda hat recht, ein Rendevouz zu zweit ist längst überfällig gewesen. Aber lieber spät als nie.

„Aber ich verlasse dich.” 

Wumm. Ein Tsunami der Erkenntnis bricht auf Nick herein. Das Beben hat sich unkenntlich unter dem stillen Meeresspiegel aufgebaut, um ihn mit voller Wucht dann zu treffen, wenn er es am wenigsten erwartet.

Nick nimmt einen weiteren großen Schluck aus seinem Whiskyglas. Linda ist nicht in der Einsamkeit gefangen. Es war kein Leid, was sie ihm gegenüber verstummen lässt.
Linda hat sich von Nick abgewandt. Nick spielt keine Rolle mehr in ihrem Leben.

„Wer ist es?”, möchte Nick zunächst erfahren, ob Linda vielleicht eine heimliche Affäre pflegt.
Kopfschüttelnd verneint Linda seine erste Vermutung: „Ich habe niemanden kennengelernt, Nick.”
Erleichtert atmet Nick auf. Wenn es keinen anderen Mann gibt, habe ich vielleicht ja noch den Hauch einer Chance, Linda wieder für mich zu gewinnen.

Nick nippt nochmals an seinem Glas. Er muss sich etwas Mut antrinken.

„Du möchtest also lediglich zu dir selbst finden?”, wagt er anzumerken.

Augenverdrehend verneint Linda auch diese Vermutung. 

Ratlos, aus welchen Gründen jemand eine langjährige Beziehung noch hinschmeissen möchte, nimmt Nick einen weiteren Schluck von seinem Whisky.

„Ich kann deinen Anblick einfach nicht mehr ertragen, Nick.“, bricht es aus Linda heraus. „Ich will die Scheidung.”, erhebt sie sich zum Gehen. 

Nick fasst sie an die Hand. „Halt Linda, was habe ich dir getan?”, möchte er wissen. „Ist es wegen Amy?” 

Ein lauter Knall erfüllt den Saal. Die Geigenmusik verstummt.
Unzählige Augen wenden sich zu dem Tisch an dem Nick und Linda Platz genommen haben.
„Wag es nicht, ihren Namen noch einmal in den Mund zu nehmen”, zischt Linda. 

Nick reibt seine schmerzende Wange. Ein roter Abdruck zeichnet sich darauf ab. 

Der Gedanke an Amy schmerzt Linda viel zu sehr, dass sie ihre Erinnerung an sie als Waffe einsetzen würde. Bemerkt Nick. Linda ist nicht mein Stalker. Nick ertränkt die Hölle des Wahnsinns weiter in Whisky.

 

11 

Aber wie ist das nur möglich? Ist das erste, was Nick in den Sinn kommt, als er wieder zu sich kommt. Sie ist doch vor meinen eigenen Augen gestorben. Gleich nach dem tödlichen Cocktail Mix, welchen ich ihr am Abend zuvor selber durch die Kanüle in die Ader schoss. 

Die Flatline zeigte auf Null. Todeszeitpunkt 5:32 Uhr, waren die letzten Worte des Chefarztes, bevor er die Maschinen ausstellte und Nick gemeinsam mit seiner gebrochenen Frau das Krankenzimmer verließ. Nicks Glauben an das Gute starb genau in der Sekunde, als sein kleines Mädchen Amy ihren letzten Lebensatem verhauchte.

„Hast du mich denn nicht vermisst, Papa?” beweist, dass ihr Tod ein großer Irrtum war. Amy blickte ihren Vater mit denselben bernsteinfarbenen Augen an, wie an jenem Tag, als sie ihn n fragte, was mit ihr geschehe, sollte sie sterben. Nur lagen in ihren Augen nun weder Wärme, noch Hoffnung. Ihr Blick zeigte pure Wut. Wut darüber, dass ihr eigener Vater nicht einmal einen Funke der Hoffnung auf Heilung verspüren konnte. Hass darüber, dass ihr eigen Fleisch und Blut sie zu Tode gerichtet hat. 

„Ich wollte dich doch nur vor den ganzen Leiden schützen, mein Schatz”, flehte Nick um Gnade. „Wie ist es überhaupt möglich, dass du noch lebst? Du warst doch unheilbar krank!”

Ein halbes Jahr musste Nick ertragen, wie Amy durch die Chemo immer schwächer wurde. Er konnte den Anblick seiner einst lebhaften Tochter nicht mehr aushalten  und entschied, den unvermeidlichen Tod zu beschleunigen. 

Nur hatte Amy großes Glück und die Nachtschwester Paula erkannte das abscheuliche Schicksal, welches dem kleinen Mädchen zuteilwerden sollte.
Das Blutbild wollte einfach nicht zur Diagnose passen. So wechselte sie in der Nacht zuvor noch den Tropf und flößte dort ein Mittel ein, welches Amy in weniger als vier Stunden in einen Tod gleichen Schlaf wiegen sollte. Nur, dass dieser Tod, anders als von ihrem Vater beabsichtigt, nicht endgültig sein sollte. Gleich nachdem Amy in die Leichenhalle gebracht wurde und bevor ihr kleiner Körper zur Klärung der Todesursache autopsiert werden sollte, schlich die Nachtschwester Paula in die kalten Kellergewölbe und stahl den reglosen kleinen Körper. Eine Beerdigung war so unmöglich. Dies gab Linda den psychischen Rest und nur deshalb verlor sie all die Hoffnung, jemals wieder ein warmes Bündel Liebe in ihrem Arm zu halten. 

Es war also die Nachtschwester Paula, die sich als Amys Engel zeigte und welche ihr nachts ins Ohr flüsterte, es sei Zeit zu gehen. Sie war der Engel, welcher dem zu Tode verurteilten Mädchen das Leben schenkte.
Nur gleich wie gut ihre Absichten waren, Paula konnte Amy nicht das glückliche Leben schenken, welches das kleine Mädchen verdient hatte. Es war für sie unmöglich, das kleine  Mädchen selber aufzuziehen. Die diensthabende Nachtschwester würde als erstes mit der Entführung in Verbindung gebracht werden. So gab sie Amy in die Obhut einer Familie, von der Paula wusste, dass sie selbst ihr Kind erst neulich an Krebs verloren hat.
Was die Nachtschwester wohl nicht wusste, war, dass der Pflegevater sich als ein Schläger und Säufer entpuppte. 

Wie oft hat Amy sich mit etlichen Blessuren in den Schlaf geweint. Vergessen und allein gelassen, wuchs Amy zu einer jungen und hübschen Frau heran. Von der Vergangenheit geprägt, war ihre Schönheit jedoch nur Fassade.
In ihrem Innern  schlummerte lediglich ein einziger Wunsch. Rache. 

Amy sehnte sich nach nichts anderem, als  zu vergelten, was ihr eigener Vater, nein ihr Erzeuger, ihr  angetan hat. 

„Irrtum, Papa. Dein kleines Mädchen ist kerngesund.” Amy wischt Reste von Erbrochenem von Nicks Mundwinkel. Er spürt kaltes Metall unter sich. Sie muss ihn dort fixiert haben, als er dem Alkoholrausch unterlegen war. So ist es ihm nicht möglich, sich aufzurichten. Nick ist gefangen.
„Beim MRT war wohl die Wartung schon längst überfällig.”, erklärt Amy die wundersame Heilung. „Spätere Untersuchungen in anderen Krankenhäusern zeigten kein Glioblastom. Es musste also ein technischer Defekt gewesen sein.”  

„Und nun zu dir, Papa. Vor fünfzehn Jahren lag ich an deiner Stelle –  am Bett gefesselt und fragte dich, was mit mir nach dem Tod geschehe.” Schelmisch lacht Amy auf. „Witzig oder, wie das Blatt sich wendet?” 

Amy präpariert nun eine Spritze, die für Nick gedacht ist. Er wiederum kann den Inhalt nur zu gut erahnen. Dies muss der Todes Mix sein, welchen er Amy vor gut fünfzehn Jahren verabreicht hat. 

„Und Papa, siehst du schon das Licht? Du blickst in die Flammen der Hölle!”, lacht Amy höhnisch. „Verbrennen sollst du für das, was du mir angetan hast.” Sie dreht Nick den Rücken zu und hebt ihr Shirt hoch, so dass ihre Schulterblätter freigelegt sind. Der ganze Rücken ist mit Narben bedeckt. Narben, gezeichnet von dem abgewetzten Ledergürtel des Pflegevaters.  

„Du musst das nicht tun, Amy!”, bettelt Nick um sein erbärmliches Leben. „Ich werde mich der Polizei stellen, Amy. Ich werde den Preis dafür zahlen, was ich dir vor Jahren angetan habe. Bitte…”, schreit nun die Angst in ihm. „Ich möchte noch nicht sterben!”

„Das wollte ich auch nicht, Papa.” Waren ihre letzten Worte, als sie das Gift in seine Blutlaufbahn injiziert.

 

12

Ein höllischer Schmerz durchzieht seinen Kopf. 

„Können Sie mich hören?” Nick wird von einem hellen Lichtstrahl geblendet, der  seine Augen auf Reaktionen testet. „Wie ist Ihr Name?”

Er versucht sich aufzurappeln. Alles dreht sich um ihn herum. Geruch von Erbrochenem liegt in seiner Nase. Er blickt sich um, möchte wissen, wo er sich befindet.

 

Mederrano

 

Entziffert er auf der Leuchttafel aus der dunklen Gasse gegenüber dem Restaurant. Was ist das für ein falsches Spiel? Stellt Nick seine letzten Erinnerungen in Frage. 

„Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.” Kündigt die Beamtin vom Ordnungsamt ihr Vorhaben an. „Dort können Sie Ihren Rausch ausschlafen.”

Beschämt von seinem Auftritt nimmt Nick die Hilfe an. Da muss ich wohl zu tief ins Glas geguckt haben. Gesteht Nick sich ein, selbst für die Tobsucht des Wahnsinns verantwortlich zu sein.

Was für ein Albtraum. Ein Albtraum, in der Tote wieder zum Leben erwachen, um Rache zu nehmen.

 

In voller Montur schmeißt Nick sich auf die Couch. Er ist viel zu verkatert, um sich die Treppen herauf zu schleppen. Gleich darauf fällt er in einen tiefen, unruhigen Schlaf.

 

13

Die Melodie von Tetris lässt Nick am frühen Nachmittag wieder erwachen.
Mit verklebten Augen tastet er nach der Quelle des nerv tötenden Geräusches. 

Dabei ertastet er ein paar Knie, die sich ihm entgegenstrecken.

„Guten Morgen Mr. L.”, mustern ihn zwei stahlblaue Augen. „Muss wohl eine verzechte Nacht gewesen sein, was?” 

Nick zieht seine Hände direkt wieder zurück. Er reibt sich seine müden Augen und wundert sich, was Maries Freundin wohl von ihm möchte.

„Wissen Sie Mr. L.”, beginnt Maya, als könne sie seine Gedanken lesen. „Ich habe mir schon immer eine Familie wie ihre gewünscht.” Weisse Zähne blitzen hervor.  „Nur leider haben meine Eltern…”

Ein lauter Schrei lässt die Wände erzittern. 

„Neeeeiiiiin!”

Schreit das Entsetzen und bahnt seinen Weg bis in die hintersten Ecken des Hauses.

„Nicht mein Mädchen!” 

Schluchzt es die Treppen hinunter bis in Nicks Gehör. 2Nicht mein Mädchen!” Echot es und reißt die Wunden der Vergangenheit wieder auf. „Nicht mein Mädchen!” Gehen die Worte in einen unerträglichen Schmerz über.

Maya wirft zufrieden den Kopf in den Nacken. Atmet den salzigen Duft des Leidens tief ein. Es scheint, als würde sie diesen Augenblick regelrecht genießen. 

Erstarrt blickt Nick sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Was hast du getan?”,  fragt er panisch.

„Was hast du getan?” packt Nick Maya nun an den Armen und schüttelt sie. Maya lacht nur höhnisch und packt sich in die Haare, die wohl verrutscht sein müssen.

Heraus gucken nämlich einzelne dunkle Strähnen. Nick packt Sie am Schopf und reißt die blonde Perücke herunter. 

„Wer bist du?”, schreit Nick. „Was hast du nur getan?”

„Als ich Marie vor wenigen Wochen in der Diskothek getroffen habe, sah ich in ihre eine jüngere Version von mir selbst.”, beginnt Maya mit ihrer Geschichte. „Es war, als sähe ich in mein Spiegelbild.” 

Nick mustert das mysteriöse Mädchen, welche sich in das Leben seiner Tochter eingeschlichen hat. Maya hatte tatsächlich große Ähnlichkeit mit Marie. 

„Nun ja, ich wusste natürlich, dass ich nicht einfach auf sie zugehen kann.”, führt Maya weiter aus. „Wie sollte ich ihr denn erklären, dass ich eine ältere Ausgabe von ihr darstelle?“, kichert sie in sich hinein. „Ein neuer Look. Ein neuer Namen. Und so habe ich mir kurzer Hand eine neue Identität zugelegt.”  

Maya baut sich triumphierend vor Nick auf. „Irgendwie musste ich doch wieder Zugang in dein Leben erhaschen, Papa”, lacht sie und puhlt sich zwei blau getönte Kontaktlinsen aus den Augen. „Die kleine Marie ist so süß und naiv.”, erfreut sich Maya… falsch! Amy über ihren teuflischen Plan. 

„Schon nach kurzer Zeit habe ich dein kleines betrunkenes Teenager-Mädchen regelmäßig nach Hause begleiten dürfen.” Amy muss sich den Bauch halten, so heftig fängt sie zu lachen an. 

„Während ihre liebevollen Eltern im Bettchen schlummerten und Marie ihren Rausch ausschlief, hatte ich freie Hand und konnte meinen genialen Plan weiter vorbereiten.” 

Nick wird es ganz übel. Amy, die eigentlich nicht mehr leben dürfte, spukte die ganze Zeit in seinem Leben. Und der Narr hat es gar nicht mitbekommen.

„Zunächst habe ich überlegt, dich direkt im Schlaf  zu ersticken.”, geht Amy in sich. „Doch der Tod wäre viel zu gnädig für dich.”, führt Amy ihre Meinungsänderung aus. 

Nick blickt die Treppen hinauf. Möchte am liebsten zu Linda und seiner geliebten Tochter eilen. 

Doch die nächsten Worte bestätigen Nicks schlimmsten Befürchtungen. „Also habe ich Marie zu den Engeln geschickt, Papa.” Ihr ganzer Körper bebt vor Freude über ihren Sieg. 

Ohne zu zögern stürmt Nick nun die Treppen hinauf. Bitte lass es nicht zu spät sein. Fleht Nick um ein Lebenszeichen. 

Wo eben noch ein unerträgliches Kreischen das Elend ins Haus brauchte, herrschte nun aber Totenstille.

Als Nick das Kinderzimmer betritt, blickt er lediglich auf zwei leblose Augenpaare.

Ein leises Glucksen taucht hinter ihm auf. Amy muss ihm gefolgt sein. 

„Ach ja, ich wollte ja kein Unmensch sein und die leidende Mama von ihrem geliebten Töchterchen trennen, Papa.”, erklärt sie ihr weiteres Vergehen. „Daher habe ich mich kurzfristig dazu entschieden, dass auch sie das Zeitliche segnen soll.” 

Amy hält kurz inne. Es scheint fast so, als lege sie eine kurze Gedenkminute ein. 

Schlagartig öffnet sie wieder ihre Augen und entschlossen hält sie Nick fest im Blick.

„Und wir werden uns in der Hölle wiedersehen, Vater!” Amy fängt hysterisch zu lachen an, als sie sich nun selbst den Todesschuss injiziert.

 

 

 

 

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