nicasomaeSo finster die Tat

Mit Bedacht ließ er das Gartentor ins Schloss fallen. Langsam und lautlos. So, dass Frau Wohlfahrts Aufmerksamkeit nicht geweckt wurde. Frau Wohlfahrt, der Schrecken einer Nachbarin. Eine schwammige Mittfünfzigerin, die nur allzu gern am Leben ihrer Mitmenschen teilnahm. Die mit freudiger Erregung ihre Nase in Angelegenheiten steckte, die sie nichts angingen. Und die, wenn immer ihr möglich, Ratschläge am Gartenzaun erteilte. 

Auf Unterredungen mit ihr verspürte Walter Meis selten Lust. Heute allerdings hatte er dafür auch keine Zeit. Bruno lechzte nach seinem Spaziergang. Sein struppiger Berger Picard, der mittlerweile ein biblisches Alter von 14 Jahren erreicht hatte und sich mit jedem Tag schwerer damit tat, 28 Kilo Lebendgewicht durch die Gegend zu bugsieren. Sein treuer Begleiter auf vier Pfoten. Sein Partner, von dem nie Widerworte zu erwarten waren und der dankbar war für das, was Meis ihm zu bieten hatte: ein Dach über dem Kopf, regelmäßige Mahlzeiten in Form von Dosenfutter und wohldosierte Streicheleinheiten. Bruno und Meis. Ein eingeschworenes Team. 

Meis huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Ein Gesicht, in das sich 75 Jahre gegraben hatten. Falten zerfurchten seine Stirn, die eisblauen Augen schienen sich immer mehr in tiefen Höhlen bequem zu machen und das ergraute Haupthaar dünnte erbarmungslos aus. Auch sein Körper war nicht mehr das, was er einmal war: Früher war er zu Höchstleistungen fähig gewesen. Früher, als Meis Repräsentant eines Staates war, den es heute nicht mehr gab. Damals, Ende der Sechziger, als er zu den besten Leichtathleten der DDR gehört hatte. Heute war von seiner drahtigen Statur nicht mehr viel übrig.

Meis schien diese Zeit unendlich weit zurückzuliegen. Vom Ruhm vergangener Tage zeugten nur noch die verstaubten Pokale, die er auf dem obersten Wohnzimmerregal verstaut hatte. Von dort blickten sie trotzig hinab zu ihm, dem mittlerweile teigigen Mittsiebziger, der seit Jahren keinen Sport mehr betrieb. Dabei hätte er durchaus Gelegenheit dazu: Frau Wohlfahrt ließ nicht locker und lud ihn mindestens einmal in der Woche ein, sie auf ihrer Nordic-Walking-Runde zu begleiten. Affig, wie sich die geschwätzige Nachbarin dafür in ihre neonpinkfarbene Sporthose zwängte und ihr  strohblondes Haar mit einem grasgrünen Stirnband zu veredeln versuchte. Nichts davon konnte doch darüber hinwegtäuschen, dass sie diese Beschäftigung nur deshalb gewählt hatte, um Runden im Dorf drehen zu können, bei denen sie sämtliche Neuigkeiten wie eine emsige Biene aufsammelte – um sie dann an geeigneter Stelle theatralisch wiederkäuen zu können. 

Wie bei ihm am Gartenzaun. Nur dass ihn ihre Ergüsse nicht im Geringsten interessierten. Und so war er mittlerweile ein Meister darin, sein Gartentor behutsam zu schließen. Bei Gelegenheit sollte er es auch wieder einmal ölen. Doch nun war Bruno dran. Freudig tapste der Rüde neben ihm her. Es war 17.30 Uhr, Zeit für den Abendspaziergang. So wie jeden Tag. Meis hasste Veränderungen. Manche Dinge mussten ihre Ordnung haben. So hatte er es sich in seinem Berufsleben angewöhnt und so hatte es sich bewährt. Als Pförtner der Beelitzer Lungenheilstätten südlich von Berlin, die bis in die Neunziger hinein als das größte Militärhospital der russischen Armee außerhalb des Staatsgebietes der UdSSR gedient hatten, kannte er nicht nur die meisten ein- und ausgehenden Angestellten, sondern hatte auch Schlüsselgewalt für die meisten Trakte des mittlerweile denkmalgeschützten Gebäude-Ensembles, das Anfang des 20. Jahrhunderts – ruhig und windgeschützt inmitten der brandenburgischen Kiefernwälder erbaut – Erkrankten ideale Bedingungen zur Genesung geboten hatte.

Meis erinnerte sich gerne an seine Zeit als Pförtner. An eine Zeit, in der er gebraucht wurde. In der er wichtig war in einem Gefüge, in dem ein Rad ins andere greifen musste. 29 Jahre lang. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1994 fiel Meis in ein tiefes Loch. Er war 49 – und überflüssig geworden in einem Land, das sich rasend schnell erneuerte und keinen Platz für Leute wie Meis zu haben schien. Man vergaß ihn, wie auch die Heilstätten von Beelitz. 

Vier Jahre später fand Meis eine Anstellung als Hausmeister eines Installationsbetriebs und blieb der Firma bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand treu. An seinen ersten Tag als Rentner knallten jedoch keine Korken. Was wartete schon auf ihn? Zuhause saß nur Bruno. Eine feste Partnerschaft war Walter Meis nie eingegangen. Er blieb lieber allein in seinem Bungalow am Ortsrand von Beelitz, das er von seinen Eltern geerbt und danach nur wenig verändert hatte. Er war genügsam. Und Bruno war es auch. Ganz im Gegenteil zu seiner Schwester Monika, die nach Berlin gezogen war und dort mit ihrem karrieregeilen Mann Michael ein aufregendes Großstadtleben führte. Doch auch all ihre Engagements in Wohltätigkeitsclubs hielten sie nicht davon ab, regelmäßig an seinen Nerven zu zerren, wenn er wieder einen ihrer quälend langen Anrufe über sich ergehen lassen musste. 

Auch mit ihren 66 Jahren war sie noch nicht müde geworden, ihn, ihren anscheinend schwer vermittelbaren Bruder, an die Frau bringen zu wollen. Keine Frage, dass ihr vor allem eine dabei vorschwebte: Frau Wohlfahrt. Mittlerweile nahm das Ganze die Ausmaße eines Komplotts an: Monika schien sich mit der Nachbarin verbündet zu haben, um der Liebe auf die Sprünge zu helfen. Beim nächsten Telefonat würde er seiner Schwester unverblümt mitteilen, dass Bruno das einzige Lebewesen bleiben wird, mit dem er Tisch und Bett zu teilen gedenkt. 

Als hätte der Vierbeiner seinen Namen gehört, blickte er zu seinem Herrchen hinauf. Bruno brauchte in letzter Zeit immer länger, bis er ein geeignetes Plätzchen für seine Notdurft auserkoren hatte. Am frühen Abend lief er mit ihm stets die gleiche Runde: Start 17.30 Uhr, von seinem Grundstück rechter Hand Richtung Nordwesten, dorthin, wo sich die ehemaligen Heilstätten auf einem 200 Hektar großen Areal erstrecken, hinein in den Wald. Je nachdem, wie schnell sich Bruno erleichtern wollte, waren sie eine knappe Stunde später wieder zuhause. Rechtzeitig, um das Abendbrot zu richten und es sich auf dem Sofa bequem zu machen. 

Doch an diesem Abend musste der erste Biss in die Stulle warten. Bruno schnüffelte schon am vierten Baum, ohne sein Bein zu heben. Zum ersten Mal fiel Meis auf, dass sein Vierbeiner mit ihm gealtert war. Sein Gang war wackliger, sein Blick trüber geworden. Meis fröstelte es. Ohne Bruno würde die Einsamkeit vollends bei ihm Einzug halten. Er versuchte, den Gedanken beiseite zu schieben. Glücklicherweise hatte Bruno mittlerweile einen prächtigen Kiefernstamm auserkoren. Trotzig hatte sich der Nadelbaum vor ihnen aufgerichtet, dort, wo der Weg sich gabelte. Rechter Hand wartete nach einem guten Kilometer das Zuhause, linker Hand mündete der Pfad in einem geteerten Weg, der bei gutem Wetter Heerscharen von Spaziergängern anlockte, die den Baumkronenpfad auf dem Gelände der ehemaligen Lungenheilanstalt zum Ziel hatten. Meis schlug niemals diese Richtung ein. Das Kapitel Heilstätten war für ihn beendet. Das, was dort aktuell vonstattenging, entnahm er der Zeitung. Vor allem das, was gierige Grundstücksspekulanten und Yuppies aus der Hauptstadt mit dem historischen Ort anrichteten. 

Während Meis noch seinen Gedanken nachhing, begann Bruno an der Leine zu ziehen. Er wollte nach Hause, es gab für ihn keinen Grund mehr, an der Kiefer zu rasten. Längst hatte sich der Vierbeiner von ihm ab- und einem Knistern im Unterholz zugewandt. Doch sein Herrchen machte keine Anstalten aufzubrechen. Meis starrte auf den zerfurchten Kiefernstamm. Dort, genau auf Augenhöhe, hatte jemand ein Foto zwischen die knorrige Rinde gesteckt. Meis schüttelte den Kopf. Dass die Leute nicht besser auf ihre Haustiere aufpassen konnten! Die Gegend war förmlich gepflastert mit Such-Plakaten vermisster Tiere. Welcher Liebling war denn dieses Mal entlaufen? Meis bahnte sich einen Weg durch den mit Laub und totem Gehölz bedeckten Waldboden – ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich der Sommer verabschiedet hatte. Meis vermisste ihn nicht. In seinem Alter vertrug er die Hitze nicht mehr, die sich im August wie eine bleierne Decke auf Brandenburg gelegt und die Waldbrandgefahr hatte steigen lassen. Dafür konnte er dem nahenden Herbst viel abgewinnen: Das Laub färbte sich, er musste nicht mehr täglich den Rasensprenger bemühen und die Spaziergänge mit Bruno glichen nicht mehr einem einzigen Schweißbad. 

Meis entfernte vorsichtig den Reißzwecken, der das Foto am Baum hielt, und stutzte. Keine tierische Vermisstenanzeige. Ein Farbfoto, nicht mehr das jüngste. Die Patina der Zeit hatte sich auf die Aufnahme gelegt. Fröhliche Gesichter, versammelt auf einer Wiese. Im Hintergrund ohne Zweifel der Brunnen vor dem Portal des Chirurgie-Gebäudes. Ein wohliges Gefühl machte sich in Meis breit. Ihm kam die Szenerie bekannt vor. Er hatte den Moment selbst erlebt, war schemenhaft im Bildhintergrund zu erkennen. Wie um seine Ahnung zu bestätigen, wendete er die Aufnahme: „Mitarbeiter-Sommerfest 1990“ stand dort in akkuraten Lettern. Erinnerungsfetzen flammten in ihm auf – an etliche Nächte ohne Schlaf, die ihn vor dem Fest heimgesucht hatten. Die Sowjets hielten so viel von dem peniblen Deutschen, dass sie ihm bedeutende Teile der Fest-Organisation übertragen hatten. Ihm, dem Pflichtbewusstsein in Person. Und er versagte nicht. Das Fest lief reibungslos ab – und in Meis’ Tasche wanderte ein hübsches Sümmchen als Ausdruck sowjetischer Dankbarkeit. 

Doch was suchte diese Ausnahme dreißig Jahre später an diesem Baumstamm? Zufall konnte das keiner sein. Jemand stellte das Bild hier mit voller Absicht zur Schau. Unschlüssig griff Meis zur Reißzwecke und drückte das Bild wieder in die trockene Rinde. Bruno zog an der Leine und meldete so unmissverständlich, dass er die Trödelei seines Herrchens nicht billigte. „Ja, mein Junge, wir gehen nach Hause“, raunte Meis seinem Vierbeiner zu. Nicht nur sein, sondern auch der Magen seines Hundes schien zu knurren und so legte Meis, dem beim Gedanken an eine dick mit Schmalz beschmierte Scheibe Brot schon das Wasser im Mund zusammenlief, einen Gang zu.

„Haben Sie schon gehört, dass die ehemalige Heilstätten-Waschküche saniert werden soll?“, keifte es über den Zaun. Schaum sammelte sich in den Mundwinkeln der Nachbarin. Meis kannte das Spiel. Frau Wohlfahrt redete sich in Rage. Ihrem Redeschwall war nur selten etwas entgegenzusetzen und so ließ er die Flut an Informationen über sich ergehen. „Noch mehr Luxuswohnungen, wer soll sich die denn leisten?“, zeterte sie. „Bestimmt wieder für die neureichen Berliner!“ Meis nickte. Antworten erwartete Wohlfahrt selten. Als sie zum Luftholen kurz innehielt, nutzte er die Pause: „Sind Sie sicher, dass wirklich die Wäscherei saniert werden soll? Meines Wissens nach ist das Gebäude besonders stark vom Verfall betroffen, deshalb schien eine Renovierung doch bislang unmöglich“, konterte er. Euphorisiert vom Zustandekommen eines Gesprächs nahm die Nachbarin so richtig Fahrt auf: Ganz sicher rede man von der Waschküche. Findige Investoren hätten Mittel und Wege gefunden, dass sich der Spaß trotz horrender Kosten rentiere. Umwerfend sähen die Wohnungen auf den Modellbildern aus. Aber für sie sei das ja viel zu teuer. 

„Schönen Abend noch, Frau Wohlfahrt!“, verabschiedete sich Meis. Diese Person war wirklich nur in kleinen Dosen zu ertragen. Schade, dass er ihr heute nicht hatte entgehen können so wie gestern. Zehn Minuten hatte ihn der Plausch gekostet. Doch sein Vierbeiner ertrug die Verspätung mit stoischer Ruhe und trabte nun brav neben ihm her. Die Sonne stand bereits tief und die Strahlen, die sie durch die Baumwipfel schickte, wärmten nicht mehr. Meis schob den Reißverschluss seines Blousons ein wenig höher. Langsam riss der Stoff an den Nähten, das einst strahlende Blau verblasste mit jeder Wäsche mehr. Doch Meis liebte dieses Kleidungsstück. Es war praktisch und erwies ihm seit Jahren treue Dienste. Seine Schwester sah das anders. Sie feuerte Blicke der Verachtung auf die ausgebeulte Jacke und schimpfte sie ein hässliches Übrigbleibsel der Achtziger. Meis gab nichts darauf und trug den Blouson in ihrer Gegenwart umso lieber. 

Zufrieden nahm Meis zur Kenntnis, dass es Bruno mit dem Wasserlassen heute eilig hatte. Er steuerte den zweiten Baum am Anfang des nun dichter werdenden Waldes an und wedelte nach seinem Geschäft stolz mit dem Schwanz. Grund für Meis, ihm wohlwollend den Kopf zu tätscheln. „Feiner Hund, dann kommen wir ja doch nicht so viel später nach Hause“, lobte er ihn und nahm Kurs auf die Kreuzung mit dem Baum, an dem er gestern das Foto erblickt hatte. Jemand hatte es entfernt. Meis wollte schon seinen Blick abwenden, als er ein kleines Leuchten an der Rinde bemerkte. Bestimmt das Reflektieren eines Sonnenstrahls, dachte er sich. Doch beim Herantreten erspähte er eine kleine Anstecknadel, die energisch funkelte, wenn man ihren Kopf der Herbstsonne entgegenhielt. Einen Kopf, an dem zweifelsohne ein fünfzackiger roter Russenstern prangte. Das Symbol für eine sozialistische Weltanschauung, die Meis so vertraut war. Die Teil seiner Vergangenheit war. Und die in der heutigen Welt seltsam entrückt schien. 

Meis drehte und wendete das Schmuckstück. Wie hatte es hierher gefunden? „Sentimentaler Hund!“, schimpfte sich Meis. Bruno spitzte die Ohren. Vermutlich dachte er, er sei gemeint. „Dein Herrchen wird auf seine alten Tage noch rührselig“, murmelte er Bruno zu. „Wir sollten uns sputen und nach Hause gehen, aber leise, sodass uns die lästige Wohlfahrt nicht abfängt“, erklärte er seinem Gefährten.

Am folgenden Tag zeigte sich der Herbst von seiner weniger schönen Seite: Ein Sturm war aufgekommen, der das gefallene Laub unschön in alle Ecken des Gartens blies und Ästen ihr schützendes Kleid nahm. Dazu peitschte der Regen ums Haus, der selbst Bruno beim morgendlichen Spaziergang zu Höchstleistungen antrieb. Sein Geschäft verrichtete er nur wenige Meter vom Haus entfernt und war danach keinen Meter mehr Richtung Wald zu bewegen. Meis kam das entgegen: Seine Hosenbeine hingen triefend am Bein und die lästigen Windböen hatten sein lichtes Haupthaar in alle Richtungen zerzaust. So kehrte er mit Bruno alsbald um, um es sich zu Hause gemütlich zu machen. 

Es war Sonntag, der Tag, an dem Meis sich seinem einzigen Hobby hinzugeben pflegte: den Schlagerjuwelen der DDR. Da er die Fenster aufgrund des Windes ohnehin geschlossen halten musste, konnte er die Stereoanlage, ein wuchtiges Ding, dass er sich vom seinem letzten Gehalt gegönnt hatte und das bis heute solide Dienste leistete, noch ein wenig lauter aufdrehen, ohne dass er befürchten musste, dass Frau Wohlfahrt Sturm läutete. In Gesellschaft von Schlagerköniginnen wie Sonja Schmidt und Helga Hahnemann verging der Nachmittag wie im Flug, bis Bruno mit der Leine im Maul vor ihm stand. „Heute keine Abendrunde?“, schien er zu fragen und so blieb Meis nichts anderes übrig, als die Off-Taste zu betätigen und in seine Treter zu schlüpfen. 

„Auf, mein Junge“, spornte er den Berger Picard an. Bei dem Wetter war zumindest die Gefahr gebannt, dass Frau Wohlfahrt am Zaun lauerte. Bruno schien die feuchte Luft förmlich zu beflügeln: Er sprang freudig durch Pfützen und schüttelte unablässig sein Fell. Heute war es Meis, der missmutig neben seinem Partner hertrottete. Er wollte zurück ins Trockene und die Musik aufdrehen. Einzig die Neugier ließ ihn die Runde durch den Wald wählen: Hatte heute vielleicht wieder jemand etwas am Baum gefestigt? Oder war doch alles nur Zufall und ehrliche Finder hatten ausgerechnet diesen einen Baum gewählt, um Fundstücke gut sichtbar zu platzieren? 

Meis sah es sofort: Auch heute hing etwas an der Rinde. Eindeutig ein Stück Stoff. Quadratisch. Cremefarben, mit fein gestickten Kreisen. Meis musste nicht lange überlegen. Das war einer der alten Kissenbezüge, auf denen Patienten der Heilstätten zu Sowjet-Zeiten ihre Häupter betteten. Kein Tag war vergangen, an dem Meis nicht die Wagen voller Bettbezüge in die Waschküche hatte rollen sehen. Doch wer um Himmels Willen hatte heute davon noch ein Exemplar und machte sich die Mühe, es an diesem Baum zu befestigen? 

Unweigerlich musste Meis an seine Nachbarin denken: Die ehemalige Waschküche soll luxussaniert werden. Ausgerechnet die Waschküche! Waren Investoren vielleicht durch die muffigen Räumlichkeiten gezogen und hatten Übrigbleibsel ans Sonnenlicht gezerrt? Oder waren es Demonstranten, die den Spekulationsgeschäften Einhalt gebieten wollten und die Fetzen als Mahnmal aufgehängt hatten? Meis spürte einen Kloß im Hals. Zu viel Veränderung gefiel ihm nicht. In seinem unmittelbaren Umfeld schon gar nicht. „Los Bruno, mach endlich deinen Haufen, ich will nach Hause!“, blaffte er den Rüden an. Dass der Berger Picard sein Geschäft längst verrichtet hatte, war Meis entgangen. Und so warf der Vierbeiner seinem aufgewühlten Herrchen einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor das Gespann den Heimweg antrat.

Statt einer Platte von Helga Hahnemann hatte Meis am Abend ein altes Fotoalbum aus dem Regal genommen. Dass Gefühl von Papier beruhigte ihn. Ein Stück Vertrautheit lag in seinen Händen. Eine Schande, dass die Jugend den Wert eines Fotoalbums nicht mehr zu schätzen wusste und stattdessen nur noch stümperhaft auf Smartphone-Bildschirme starrte. Bedächtig sog Meis den eigenwilligen Geruch des Papiers auf, blätterte gedankenverloren vor und zurück, bis er auf das Foto der feiernden Gesellschaft stieß. „Mitarbeiter-Sommerfest 1990“, stand auch hier auf der Rückseite. Das gleiche Bild. Fröhliche Gesichter, ausgelassene Stimmung. Vorne links die bissige Oberschwester der Chirurgie, daneben ein brünettes Krankenschwestern-Duo, das selbst im Dienst immerzu gackerte, und er selbst schemenhaft im Hintergrund. Rechts etwas abseits ein Ehepaar, das die Köpfe zusammensteckte. 

Meis erinnerte sich an die beiden. Er, der hochgewachsene Chefarzt, der im streng bewachten Lazarett der Sowjetarmee Karriere machte und seine Frau, die als Krankenschwester ebenfalls rund um die Uhr zu tun hatte. Direkt aus Wolgograd nach Beelitz übergesiedelt war ihr Deutsch zu Beginn rudimentär, was vielleicht erklärte, weshalb sich das Paar wenig leutselig gab. Meis’ Kontakt beschränkte sich auf ein freundliches „Guten Morgen!“ an der Pforte, als er die Dienstantritte zu notieren hatte. So zurückhaltend die Eltern waren, so aufgeschlossen zeigten sich deren Kinder: die blondgelockte Olga und der kleine Sergej mit den großen Knopfaugen. Meis huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Die Kinder waren bezaubernd und wohlerzogen, auch wenn sie sich meist selbst überlassen waren. Doch warum war ausgerechnet dieses Foto am Baumstamm befestigt worden? Wer hatte es dreißig Jahre verwahrt, um es nun im Wald zur Schau zu stellen? Meis wusste keine Antwort auf die Fragen – und so erwartete ihn eine unruhige Nacht, die am nächsten Morgen von Schimpftiraden aus Wohlfahrtscher Kehle beendet wurde.

Dieser Junge konnte einem auch wirklich leidtun: Kaum hatte er die Zeitung im Briefkastenschlitz versenkt, schoß Frau Wohlfahrt aus ihrer Haustür, um dem völlig überrumpelten Zeitungsboten eine Lektion in Sachen Wie-stecke-ich-die-Zeitung-korrekt-in-den-Schlitz zu erteilen. Wie ein geprügelter Hund zog er von dannen, während Frau Wohlfahrt mit Stolz geschwellter Brust den Rückzug in ihr Haus antrat. Bestimmt würde sie nun das Neueste in Sachen „Sanierungsobjekt Wäscherei“ aufsaugen. Zumindest das, was die Lokalredakteure bereits darüber wussten. Der Dorftratsch war da garantiert schon weiter. Meis hing seinen Gedanken nach. Wie oft hatte er das Gebäude betreten. Kaum ein anderes kannte er auf dem Gelände so gut wie dieses, lag es doch unmittelbar neben seinem Pförtnerhäuschen. Wenn also seine Blase drückte, verriegelte er kurz die Einfahrt, wetzte zur Wäscherei und erleichterte sich dort auf der Angestelltentoilette im Untergeschoss. 

Sein Magen rebellierte beim Gedanken daran, dass nun schmierige Immobilienhaie durch die Räume tigerten und das von Efeu umrankte Gebäude mit den roten Klinkersteinen und den hohen Doppelflügel-Fenstern aus seinem Dornröschenschlaf wecken wollten. Vielleicht sollte er noch einmal einen Blick auf das imposante Bauwerk werfen, bevor es von hochnäsigen Hauptstädtern und ihrer Brut bewohnt wurde. Meis schälte sich aus dem Bett. Im Garten wartete Arbeit auf ihn: Das Laub wollte zusammengerecht, abgerissene Äste aufgeklaubt und das Gartenmobiliar verräumt werden. Bruno schaute ihm bei der Plackerei geduldig zu. Wie genügsam dieses Tier war. Niemals hatte er ihm Kummer bereitet. Niemals grundlos gekläfft oder gar Wild nachgesetzt. Und so verspürte Meis gar Vorfreude auf den Spaziergang mit Bruno am frühen Abend. Zugegeben, ein klein wenig Neugier war auch dabei. Ob der oder die Unbekannten wieder etwas am Baumstamm hinterlassen hatten? Wie sonderbar, dass solch eine Nichtigkeit mittlerweile Eingang in seinen Tagesrhythmus gefunden hatte. 

Fast wie ihn alten Sportler-Zeiten sprang Meis um kurz vor halb sechs in seine Turnschuhe, schnappte sich seinen abgetragenen Blouson und klimperte mit dem Halsband. Bruno kannte das Spiel und trabte schwanzwedelnd herbei. „Bruno, Gassirunde!“, motivierte ihn Meis. Und Bruno folgte aufs Wort. Zielstrebig steuerte Meis den Baum an der Weggabelung an, der in den letzten Tagen seine Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Nichts. Nur knorrige Rinde. Enttäuschung durchflutete Meis. Er wollte sich bereits abwenden, als sich etwas wie ein Pfeil in sein Auge bohrte: ein Schlüssel. Aus geschwärztem Eisen mit geradem Bart und schnörkeligem Kopf. Meis erschauderte. Er wusste genau, in welches Loch dieses Exemplar passte. Dieser Schlüssel war so besonders, dass es ihn nur ein einziges Mal gab – Meis hatte ihn schließlich selbst gegossen. Doch die Vergangenheit musste ihn längst verschluckt haben. Damals, als die Sowjets die Heilstätten verlassen hatten. Als das Gelände in Vergessenheit geraten war. 

Unmöglich, dass dieser Schlüssel nun an diesem Baum hing. Nur eine Person außer ihm konnte um seine Existenz wissen. Meis strauchelte. Wie Gift schoß die Erinnerung an das Vergangene durch seine Adern. Ließ ihn einen Moment in einem tiefschwarzen Nichts versinken. Ließ ihn vergessen, dass Bruno an der Leine zog und zuhause sein Abendbrot wartete. Der Schlüssel. Der Keller. Das Verließ. Der Junge. 

Das Rascheln des Laubs riss Meis aus seinen Gedanken. Bestimmt ein Vogel auf der Suche nach einem leckeren Happen. Oder Kinder, die über den Blätterteppich tollten. Doch Meis erblickte nur einen einzelnen Mann, der sich immer klarer vor ihm abzeichnete. Hager, fast schon dürr. Kurzes blondes Haar, hervorstechende braune Augen. Sein ungepflegter Dreitagebart konnte seine slawischen Gesichtszüge nicht verbergen. Gesichtszüge, die in der Gegend keine Seltenheit und Meis somit vertraut waren. Doch dieser junge Mann kam ihm nicht nur deshalb bekannt vor. Er war ihm bereits begegnet. Der junge Mann steuerte genau auf ihn zu. „Hallo, Meis“, begrüßte er ihn. In seinen Worten schwang keine Freude mit, keine Herzlichkeit. Dafür Hass. Kalter, blanker Hass. „Oder soll ich lieber Walter sagen?“, schob sein Gegenüber höhnisch nach. 

Meis taumelte. Die Bäume um ihn herum schienen zusammenzurücken, den Himmel zu verdunkeln, ihm sämtliche Luft zum Atmen nehmen zu wollen. „Sergej …?“, krächzte Meis. „Jawohl, Sergej. Der kleine Sergej mit den Knopfaugen“, erwiderte sein Kontrahent. „Dreißig Jahre, Meis. Dreißig Jahre. Wie ist es dir ergangen?“ Meis rang nach Luft. Er musste seine Gedanken sortieren. Schnell. Sein Konter dauerte viel zu lang. Doch was hatte er dem jungen Mann entgegenzusetzen? „Weißt du, wie lang ich auf diesen Moment gewartet habe?“, übernahm Sergej das Gespräch. „Endlich stehst du vor mir.“ Das Foto vom Sommerfest. Die Anstecknadel mit dem Russenstern. Der Kissenbezug. Der Schlüssel. Sergej. Der kleine Sergej, der stets ausgelassen über das Klinikgelände tobte, weil er als Fünfjähriger noch zu jung für die Schule war und dessen Eltern mehr Zeit im OP-Saal als mit ihm verbrachten. Der russische Chefarzt und die Krankenschwester aus Wolgograd. Seine Eltern. Das Paar auf dem Foto vom Sommerfest. Es ergab alles einen Sinn. Es war eine Spur. Seine Spur. Ausgelegt von Sergej. Ausgelegt für Meis. Nur für Meis. Um ihn bei seiner Neugierde zu packen und ihn nun an der Angel zu haben. Sergej, der Boss. Meis, das Opfer. Verkehrte Rollen. 

„Ich habe dich sofort erkannt“, riss ihn Sergej aus seinen Gedanken. Mitte August im Supermarkt, unten im Ort. Du standest vor mir an der Kasse. Es war so brütend heiß, dass du nur ein speckiges Unterhemd getragen hast.“ Meis erinnerte sich. Die Hitze lag damals seit Tagen über der Stadt und ließ ihm den Schweiß nicht nur von der Stirn tropfen. Wenn seine Schwester gesehen hätte, wie er in jenen Tagen nur mit Unterhemd, Badeshorts und Adiletten bekleidet den Supermarkt betreten hatte, hätte sie ihn einen typischen Wendeverlierer geschimpft. Doch Monika weilte in Berlin und Meis in Beelitz. „Wochenlang habe ich nach dir gesucht und dann stehst du einfach im Supermarkt vor mir“, hörte er Sergej. „Hättest du lieber ein T-Shirt getragen. Dann hätte ich die Muttermale auf deinem Oberarm nicht sehen können“, führte er fort. Meis schluckte. Seine Muttermale auf dem Oberarm. Kleine Launen der Natur, die jeden Menschen so einzigartig machen. Bei Meis schien die Natur es allerdings besonders gut gemeint zu haben: Auf einem Oberarm hatten sich fünf kleine braune Punkte so angeordnet, dass sie zusammen betrachtet wie ein Russenstern anmuteten. Ein Russenstern, der den kleinen Sergej damals an seine Heimat erinnerte und den er so gern mit seinem zarten Fingerchen nachzeichnete. 

„Ich war mir sofort sicher, dass du es bist. Walter, der so zuverlässige und nette Pförtner“, höhnte Sergej. „Wochenlang habe ich überlegt, wie ich deine Aufmerksamkeit gewinnen könnte. Und nun bist du Opfer deiner Neugier geworden.“ Hatte er Opfer gesagt? Meis wusste es nicht mehr genau. Seine Ohren umgab ein Schleier, der nur Wortfetzen an sein Gehirn gelangen ließ. Seine Knie meldeten, dass sie nicht mehr gewillt waren, seinen Körper zu tragen. Bruno winselte. Zum ersten Mal hörte er seinen Berger Picard winseln. Meis suchte Halt. Seine Finger krallten sich in die knorrige Rinde der Kiefer. Sergej. Der kleine, unschuldige Sergej. „Was willst du?“, krächzte er. „Dass du mitkommst“, bekam er zur Antwort. „Wir machen einen kleinen Spaziergang.“ Meis richtete sich auf. Seine Beine wollten ihn kaum tragen. Noch nie hatte er sich so alt gefühlt. Doch Widerstand war zwecklos. Sergej trieb ihn erbarmungslos voran. Warum waren ausgerechnet jetzt keine Passanten, die ihm aus dieser misslichen Lage hätten helfen können, in Sicht? Nur Bruno war an seiner Seite. Sein treuer Gefährte. 

Der Weg durch den Wald zog sich unendlich. Schweigend schubste Sergej Meis Meter für Meter vor sich her. In Meis’ Kopf hämmerte es. Sein Gehirn würgte Erinnerungsfetzen an die damalige Zeit hervor. Sergejs Knopfaugen. Sein Abenteuergeist. Sein Vertrauen. Seine zarten Hände. Und die Waschküche, vor der das ungleiche Gespann nun anhielt. Sergej bog den Absperrzaun zur Seite, der Vandalen den Eintritt verwehren sollte. „Nach unten!“, befahl Sergej. „Den Weg kennst du doch besonders gut.“ Meis wankte die Treppenstufen hinunter, Brunos Leine hielt er fest umklammert. „Wir tauchen nun ein wenig in die Geschichte ein“, hörte er Sergej sagen. Meis wusste, welchen Raum Sergej ansteuerte. Der ehemalige Aufenthaltsraum des Pförtners lag am Ende des Gangs zur Rechten, direkt neben der Angestelltentoilette. Schon damals war die Bezeichnung „Raum“ eine Schande. Loch traf es besser. Fensterlos. Feucht. Seelenlos. Meis mied ihn. Nur mit Sergej kam er hierher. Mit dem kleinen Abenteurer mit den Knopfaugen, dessen Eltern so wenig Zeit für ihn hatten. 

Sergej steckte den Schlüssel ins Schloss. Meis’ Schloss, das er selbst gefertigt hatte. In das nur ein einziger Schlüssel passte. Und das sich nun knarzend öffnete. „Rein mit dir. Machs dir ruhig auf dem Kissenstapel bequem“, spottete Sergej. Meis stieg der beißende Geruch der muffigen, schimmelbefallenden Kissen in die Nase. Widerwillig kniete er sich nieder. „Mach schon! Du hast mich damals auch nicht gefragt, ob ich hier ausharren will“, schleuderte Sergej ihn entgegen. „Du warst mein großer Freund, mein Vorbild. Die Person, die alles für mich war. Und du hast mein Vertrauen schamlos ausgenutzt. Wie konnte man dreißig Jahre damit leben?“, fragte Sergej. Meis wusste nicht zu antworten. Er dachte an sein Bungalow, an seine nervige Nachbarin und an seine Schwester Monika, die eine famose Kupplerin abgegeben hätte – hätte der dem weiblichen Geschlecht etwas abgewinnen können. Doch Frauen hatten ihn nie interessiert. Eine Tatsache, die er nie über die Lippen gebracht hatte. Dafür hörte er sich nun „Was willst du?“ stammeln. „Dass du nachdenkst, mein lieber Walter. Darüber, was du mir damals angetan hast, als du mich in dieses Kellerloch gesperrt und missbraucht hast. Mich, einen unschuldigen Fünfjährigen.“

Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Dreißig Jahre, die Meis nun wie ein Wimpernschlag vorkamen. In denen er ein unauffälliges Leben geführt hatte. Und das sich doch nie richtig angefühlt hatte. Er hatte Schuld auf sich geladen. Und er hatte nie den Mut aufgebracht, sich von ihr zu befreien. Bruno stupste ihn an, als wollte er fragen: „Können wir endlich aus diesem muffigen Kabuff verschwinden?“ Doch Sergej hielt die Antwort in seinen Händen. Den Schlüssel. Den er nun von außen ins Schloss steckte. „Do svidaniya, Walter.“ Seine Worte ließ keinen Zweifel zu. Dies war ein endgültiger Abschied. In seiner Stimme lag kein Zittern. Nur Entschlossenheit. Meis’ Blick fiel auf die Zeitung, die am Boden neben ihm lag. Sie trug das Datum des angebrochenen Tages. In riesigen Lettern prangte auf der Titelseite: „Sanierung der Heilstätten-Waschküche auf unbestimmte Zeit verschoben! Seltene Fledermaus-Art im Dachgebälk entdeckt.“ 

Ihm würde genügend Zeit zum Nachdenken bleiben, dämmerte es Meis, als Sergej die Tür ins Schloss zog, die Finsternis um sich griff und nichts als undurchdringliches, tiefes Schwarz hinterließ. Bruno legte seinen Kopf an Meis’ Schultern. Bruno. Sein treuer Gefährte. Der nun auch diesen letzten Weg ohne Klagen mit ihm beschreiten würde.

3 thoughts on “So finster die Tat

  1. Wow! Du schaffst eine unheimlich dichte Atmosphäre, der Wald, die Gegend, das verlassene Gelände…
    Beklemmung, ohne dass drastische Worte und Bilder notwendig sind – sehr, sehr gut. „Berger Picard“ musste ich googlen und habe entdeckt, wie unglaublich süß die sind!

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