BiancaSo tief die Schuld

 

An Bord der Luciana, 29. Mai 2020, 23.10 Uhr

Je länger sie das Meer tief unter ihren Füßen betrachtete, desto überzeugter wurde sie, die dunkle See starre zurück. Erwartungsvoll, fordernd. Die Fluten hoben und senkten sich einladend. Rebecca wollte sich ihnen entgegenstrecken, darin untergehen, ihr Ende finden. Wie sie es verdient hatte.

Sie sehnte den Moment herbei, wenn die kalten Wogen sie umschlangen. Würde sie ertrinken, lautlos untergehen? Oder ihre Entscheidung bereuen, sich immer wieder an die Oberfläche kämpfen und letztlich doch in ihr nasses Grab sinken? Bei dem Gedanken an die Schiffsschrauben bekam sie eine Gänsehaut. Jetzt oder nie, sie hatte nicht mehr viel Zeit. Es musste noch diese Nacht geschehen, ihre letzte Nacht an Bord der Luciana.

Die Reling strahlte weiß im Mondlicht, dahinter nichts als Dunkelheit und Schatten. Aus der Ferne drang leises Donnergrollen an ihr Ohr. Das sanfte Plätschern der Wellen, die gegen den Rumpf des Kreuzfahrtschiffes schlugen, schien sie antreiben zu wollen. Rebeccas Arme zitterten. Sie umfasste das kühle Metall der Grenze, die die Welt der Lebenden vom Reich der Toten trennte. Ihre Finger verkrampften, das Herz raste. Die Luft war erfüllt vom Duft des drohenden Gewitters, welcher ihre Anspannung ins Unermessliche steigerte. Niemand würde sie finden, sie retten können. Vorsichtig kletterte Rebecca über die Reling. Sie wagte es nicht, erneut nach unten zu blicken. Der Wind strich um ihre Wangen, kitzelte ihre Haut. Die roten Locken tanzten. Der seidene Stoff ihres Kleides hatte sich verfangen, als wolle er sie aufhalten. Rebecca wusste, dafür war es zu spät. Der Abgrund in ihr tobte – und der einzige Ausweg lag auf dem Grund des Meeres.

Wie erleichtert sie gewesen war, als sie vor zwei Wochen in Hamburg ihre Kabine an Bord der Luciana bezogen hatte.

Nie wieder würde sie die Enttäuschung in den Augen ihrer Eltern sehen, sie kein einziges Mal mehr streiten hören. Ihren Job als Assistenzärztin hatte sie nur wenige Tage zuvor gekündigt. Jonas Petersen, Rebeccas Vorgesetzter, wollte sich gar nicht erst von ihr verabschieden. Sie war bedeutungslos, verschwendete nur seine Zeit.

Und Simon? Würde er sie wenigstens dann vermissen, wenn er abends allein im Bett lag? >>Was bist du nur für ein Mensch? Hast du gar keine Gefühle?<<

Seine Worte konnte sie einfach nicht vergessen. Rebecca dagegen würde schon bald aus der Erinnerung all jener verschwinden, deren Leben sie zerstört hatte.

Aus einiger Entfernung drang Gelächter an ihr Ohr, das Klirren von Gläsern. Der Abschiedsball schien noch in vollem Gange zu sein. Am frühen Nachmittag würden sie die Dominikanische Republik erreichen und ihrer Wege gehen. Grund genug, fröhlich das Tanzbein zu schwingen, die Bar zu plündern, die Atmosphäre auf dem Schiff zu genießen. Perla del océano, die Reederei, hatte keine Kosten gescheut – der Abend war unvergesslich. Sogar der Kapitän höchstpersönlich nahm an den Feierlichkeiten teil. Trotz seines Alters war Jonathan Baskin noch gut aussehend. Als erfahrener Seemann kannte er die besten Geschichten. Kein Wunder, dass niemand außer Rebecca den Saal verlassen hatte. Wer würde so einen Abend verpassen wollen? Zudem fürchteten sich die Passagiere vor dem Sturm, der heute Morgen während des Frühstücks angekündigt worden war. Ein Verlassen der Innenräume sei nicht zu empfehlen, hatte die Crew erklärt. Es herrsche Lebensgefahr. Rebecca grinste.

Es war nicht auszuhalten. Schon nach einem Gin Tonic beschlich sie das Gefühl, man werfe ihr angeekelte Blicke zu. >>Haben Sie das gesehen… Sie wagt es, hier ruhig zu sitzen… Was tut sie hier? Mach es endlich!<<

Dass sie sich die Stimmen lediglich einbildete, wusste sie, aber dennoch – Rebecca konnte die Last auf ihren Schultern nicht länger tragen. Ein Schritt fehlte noch, ein einziger kleiner Augenblick. Wenn sie ins Leere trat, würde der Tod sie von ihrer Schuld befreien.

Rebecca nahm einen tiefen Atemzug. Ihre Finger lösten sich langsam von dem Metall, das sie noch kurz zuvor fest umklammert hatten. Ihr Gleichgewicht schwand und sie schien wie in Zeitlupe nach vorne zu fallen, als ein Schrei, unmenschlich und grausam, die Nacht erfüllte. Gerade noch rechtzeitig bekam Rebecca die Reling zu fassen. Schweiß tropfte in die Tiefe. Hatte sie jemand gesehen? Wer um alles in der Welt gab solche Töne von sich? Diese Laute wirkten fast schon animalisch. Gurgelnd. Rebeccas Neugier war in diesem Moment stärker als ihr Wunsch zu sterben. Der Tod konnte warten.

Kaum auf dem sicheren Boden angelangt, erklang ein Krachen und widerliches Knacksen. Rebecca erstarrte. Nur wenige dutzend Meter trennten sie von der Quelle der Geräusche. Sie musste nachsehen, aber verdammt, sie wollte nicht.

Nicht schon wieder! Widerwillig schob sie sich auf die Ecke zu. Lauerte dort jemand? Das Schiff war nur sparsam beleuchtet. Das Deck vor ihr lag im Dunklen. Ihre vorsichtigen Schritte hallten dumpf in Rebeccas Ohren wider. Irgendetwas Unförmiges befand sich vor ihr, ein Klumpen, der sich nicht rührte. Rebecca fröstelte. Sie hätte die Flucht ergreifen sollen, als sie noch konnte.

Das Gewitter musste sich dem Schiff rasant genähert haben, da ein Blitz, gefolgt von einem lauten Knall, die Nacht erhellte. Schwindel und Übelkeit erfassten sie, als Rebecca erkannte, dass sie sich getäuscht hatte. Es war kein Klumpen, sondern eine Frau. Oder eher das, was noch von ihr übrig war.

Eine dunkelhäutige junge Frau, kaum mehr als Mensch erkennbar, lag rücklings auf einer Bank, vollkommen verdreht um deren Lehne gewickelt. Ja, gewickelt. Ihre Glieder, allesamt mehrfach gebrochen, standen in unmöglichen Winkeln voneinander ab. Ihr Kopf hing nach unten, ein Auge nach oben gerichtet. Das andere Auge – es fehlte. Im Bruchteil einer Sekunde hatte Rebecca bemerkt, dass das Gesicht der Toten nicht nur verletzt war. Es war eingedrückt.

Rebecca würgte, ihr Verstand wollte aufgeben, nie mehr wiederkehren. Neben der Leiche vibrierte ein Smartphone. Es musste wohl mit der Toten in die Tiefe gestürzt sein!

Zitternd warf Rebecca einen Blick auf den zersprungenen Bildschirm. Ihr Blut gefror augenblicklich. Da auf dem Bildschirm, das war sie! Aber auf dem Foto war sie nicht allein – neben ihr lag eine blutüberströmte Leiche.

Vor den Toren Hamburgs, 08. August 2017, 00.53 Uhr

Sie blinzelte. Einmal, zweimal. Das sich unmittelbar vor ihr befindende Grauen verschwand dennoch nicht. Im Gegenteil, es wurde immer intensiver, fast schon unwirklich realistisch. Die Motorhaube gab seltsame Töne von sich, stöhnte geradezu auf. Das Lenkrad schien vor Hitze zu glühen, in ihren verschwitzten, klebrigen Händen zu schmelzen. Sie umklammerte den letzten Rettungsanker, der ihr verblieben war, verzweifelt, um Fassung ringend. Was… was zum Teufel hatte sie getan?

Tränen ergossen sich unaufhörlich über ihre Wangen, tränkten Strähnen ihrer schulterlangen Locken mit dem salzigen Nektar ihres Kummers. Der Autoschlüssel in Rebeccas rechter Faust schnitt ihr in die Haut, doch ihr Zorn überlagerte jedes Schmerzgefühl. Erfüllt von grenzenloser Wut schwankte sie auf ihren Wagen zu. Dieser elendige Dreckskerl. Wie hatte sie nur so naiv sein können? All die Abende, in denen er Sonderschichten in der Klinik schieben musste. All die Abende, die er mit dieser Schlampe verbrachte. Natürlich betrog Simon sie! Vor ihren Augen, hinterrücks, und dann wagte er es, sie auch noch um Entschuldigung bittend anzulächeln? Rebecca schrie ihren Frust hinaus in die stille Dunkelheit, die die Kneipe hinter ihr einhüllte wie ein Kokon die Larve.

Um ihre Enttäuschung zu ertränken, hatte sie einen Longdrink nach dem anderen hinunter gekippt. Sie wollte nicht mehr denken, nichts fühlen. Doch es hatte keinen Sinn, man erwartete sie sicher schon zu Hause.

>>Was soll das heißen, du möchtest dein Studium abbrechen? Ist dir eigentlich klar, was uns das gekostet hat? Du wolltest doch immer Ärztin werden!<<

Rebecca schnaubte verächtlich. Das war sie. Unnütz, bloß eine notwendige Investition.

Tränenschlieren trübten Rebeccas Blick. Der Alkohol verführte ihre Sinne, lockte sie, flüsterte ihr zu. Und sie folgte. Rebecca schoss um jede Kurve, verlor jegliche Kontrolle. Ließ alles hinter sich. Die junge Frau spürte, wie Trauer, alles zerfressende Wut mit zunehmender Geschwindigkeit erstickten. Lachend riss sie das Lenkrad nach links, rechts, wieder nach links. Da drüben… wenn sie nur ein wenig von der Fahrbahn abkam. Es würde schnell gehen. Ihr Leiden wäre endlich vorüber.

Rebecca zögerte nicht. Sie fokussierte die Baumgruppe schräg vor ihr, fuhr darauf zu. Brachiale Gewalt würde sie befreien, ihr Blut zum Strömen bringen. Zu spät erfassten die Scheinwerfer die Schönheit, die zwischen Rebeccas Wagen und ihrem Ende trat. Die Frau winkte in Richtung Wald, der sich rechts von Rebecca auftat, als wolle er sie verschlingen. Sie versuchte gegenzulenken, doch der Alkohol in ihren Adern verzögerte die Reaktion. Im Moment des Aufschlags war es, als stehe die Welt still. Rebecca sah die Überraschung in den Augen der anderen, die Ungläubigkeit. Den Schmerz. Durch die Wucht des Aufpralls wurde das Unfallopfer nach hinten geschleudert, inmitten wild wuchernden Gestrüpps.

Rebecca gelang es nur mit Mühe, den Wagen zum Anhalten zu zwingen. Ihre Knie zitterten. Magensäure bahnte sich einen Weg nach oben, als sie ihre Hände vom Lenkrad löste und zu der Angefahrenen eilte. Zunächst roch sie nur Blut, entdeckte knorrige Äste. Knochen. Das Gestrüpp hatte sich durch die junge Frau gebohrt, ihr Gesicht war voller Schrammen, ein einziges Schlachtfeld. Dicke Büschel ihres langen blonden Haares lagen ihr zu Füßen, blutgetränkt. Die Verletzte zuckte. Ein Stöhnen drang durch ihre Lippen. Die Lider der Sterbenden flatterten. Dann erschlaffte sie.

Panisch hielt Rebecca Ausschau. Hatte sie jemand beobachtet? >>… nur ein Unfall… Niemand wird dir glauben… du hast die Straße absichtlich verlassen…<<

Worte sprudelten aus ihr heraus wie Erbrochenes. Weg hier. Sofort!

An Bord der Luciana, 30. Mai 2020, 01.24 Uhr

Den Blick starr auf ihr Whiskeyglas gerichtet, verfolgte Rebecca die in ihr tobenden Gedanken. Die junge Dame war ermordet worden, davon war sie überzeugt. Der Sturz aus fünfzehn Metern Höhe konnte deren Gesicht nicht derart verunstaltet haben. Es hatte den Boden ja nicht berührt! >>Ein Unfall, dass ich nicht lache…<<, stieß Rebecca aus. Der Barkeeper hob eine Augenbraue.

Trotz des Gewitters über ihnen roch sie den ekelerregenden Duft der Zigaretten und des Alkohols, der ihrem Gegenüber anhaftete. Andrej Wolkow, der Chief Security Officer der Luciana, stand nur wenige Meter neben der Leiche der dunkelhäutigen Frau und kramte in seiner Hosentasche nach einem Feuerzeug. Wie konnte er so schnell hier sein?

>>Ganz klar Eigenverschulden. Das junge Ding hat kräftig mitgefeiert, hat wohl zu tief ins Glas geguckt. Sie sind Frau…?<< Feuer flammte auf. >>Frey.<<, brachte Rebecca mühsam über ihre Lippen. Nicht zu fassen!

>>Aber es ist doch offensichtlich…<< Der Hüne mit den tiefliegenden, dunklen Augen unterbrach sie und hielt seinen Ärger nur unzureichend zurück. >>Erklären Sie mir nicht, wie ich meinen Job zu erledigen habe! Es ist immer das Gleiche… Seit über zwanzig Jahren bin ich nun deutscher Staatsbürger und dennoch meint ihr, den Russen belehren zu müssen!<< Damit wandte er ihr den Rücken zu. Sie käme ihm nicht mehr in die Quere.

Als der Himmel seine Schleusen öffnete, durchnässte er jeden, der dumm genug gewesen war, ins Freie getreten zu sein. Blut schwamm an Deck. Beweise flossen davon.

Rebecca schüttelte ungläubig den Kopf. Den Whiskey hatte sie kaum angerührt. Das Smartphone in ihrer Hand bereitete ihr schon genug Sorgen. Der Mörder kannte ihr Geheimnis. Und er hatte es auf sie abgesehen!

Musste die junge Frau dort draußen sterben, damit sie die Fassung verlieren und ihre Schuld gestehen würde? Oder sollte auch sie einen grausamen Tod finden? Rebecca kannte die Tote, hatte noch Stunden zuvor mit ihr am Mittagsbuffet gesprochen. Ayana Walter, aufstrebendes Model deutsch-äthiopischer Herkunft, war eine Schönheit gewesen. Nun würde die Blume verwelken, noch bevor sie richtig erblühen konnte.

Woher stammte das Foto? Rebecca sah das Winken des Unfallopfers noch vor sich, die letzten Momente der durchbohrten Toten hatten sich auf ewig eingebrannt. Ein Zeuge! Sicher gehörte ihm das Smartphone, wer sonst könnte das Foto geschossen haben? Warum ging er nie zur Polizei? All diese Fragen konnte Rebecca nicht beantworten, so sehr sie sich auch bemühte. Eine jedoch, die stahl sich immer wieder in ihre Gedanken: Hatte sie es wirklich verdient zu sterben?

>>Ich durchschaue Sie.<< Rebecca fuhr zusammen. >>Was?<<, stammelte sie etwas zu laut. Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Die Bar war gut besucht. >>Ich kenne die Geheimnisse der Passagiere.<<

Der Barkeeper schmunzelte. >>Riccardo Di Rossi, zu Ihren Diensten.<< Rebecca nickte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ihre Ruhe. >>Sehen Sie die Dame und den Herrn dort drüben?<< Rebecca folgte Riccardos Blick zu einer abgedunkelten Ecke, in welcher sich ein attraktiver Mann Mitte dreißig gerade über eine Frau im Rollstuhl beugte. >>Seit wir in See stachen, gab es keinen Abend, an dem die beiden nicht an der Bar saßen. Schon merkwürdig, wo mir doch der Herr schon in der ersten Nacht erzählt hatte, er trinke seit fast drei Jahren keinen Alkohol.<< Rebecca beobachtete den elegant gekleideten Mann unauffällig. Etwas beunruhigte sie. Wenn sie nur wüsste, was.

>>Die bemitleidenswerte Frau an seiner Seite ist Ines Venganza.<< Der Barkeeper lächelte etwas zu frech. >>Venganza?<< Rebecca runzelte die Stirn. Der Name kam ihr bekannt vor. >>Hanseatin, genau wie Sie. Hat blutjung geheiratet. All das, was Sie hier sehen, gehört nun ihr. Sie ist die Eigentümerin des Schiffes, nachdem ihr Ehemann Miguel vor einem Jahr unter tragischen Umständen verstorben ist.<< Rebecca erwiderte Riccardos Blick fragend. Riccardo flüsterte. >>Miguel stürzte sich in die Fluten. Hat wohl von der Affäre seiner Frau erfahren.<<

Der Barkeeper nickte in Richtung des Begleiters. >>Darf ich vorstellen? David von Ritterfels, der Liebhaber.<<

Rebecca konnte es nicht glauben. Die Frau im Rollstuhl, eine reiche Erbin? Sie war einmal schön gewesen, doch diese Tage waren längst vorbei. Ihr kurzes Haar war schmutzig blond, das Gesicht trotz ihres jungen Alters faltig. War es des Geldes wegen, dass der Liebhaber ihr noch nicht den Rücken gekehrt hatte? In diesem Augenblick unterbrach Ines Venganza ihr Gespräch mit einem anderen Bargast, wandte sich um und betrachtete Rebecca. Aus ihren Augen sprach eine Verletztheit, die Rebecca rührte. Aber auch Entschlossenheit. Stärke.

Rebecca war derart gebannt, dass sie die schlagartig veränderte Stimmung am Tresen erst gar nicht bemerkte. >>…Feiglinge, allesamt!<< Das Glas in seiner Hand zeigte bereits Risse. >>Sie war so hübsch gewesen, unschuldig… welches Schwein hatte ihr das angetan?<< Rebecca legte eine Hand auf seinen Arm, fühlte sein Herz pochen. >>Ich wusste nicht, dass du und Ayana…<< Verächtliches Schnauben. >>Nicht Ayana, ich rede von meiner Verlobten! Es war so heiß… nein, geh nicht, Luisa… aber sie hatte unbedingt die Stadt erkunden wollen, hat nicht auf mich gehört. Verdammt, wenn ich nur mitgegangen wäre… vielleicht würde sie dann noch leben…<< Rebecca schüttelte verwirrt den Kopf. >>Wovon redest du, Riccardo?<< Sein Blick brannte auf ihrer Haut. Nun wählte er seine Worte mit Bedacht, seltsam ruhig. >>Luisa wurde während unseres Urlaubs in Hamburg tot gefahren und irgendein Feigling hat sie sterbend zurückgelassen!<<

Rebecca schrak zurück, versuchte noch das Gleichgewicht zu halten und fiel vom Barhocker. Ein paar der Passagiere verkniffen sich ein Grinsen, sie vernahm vereinzelt unterdrücktes Gelächter. Nur ein Herr half ihr auf. David von Ritterfels. Seine Augen waren eisig blau, drangen tief in ihre Seele, forschend. >>Sie sollten weniger trinken, junge Dame. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrer Kabine. Nummer…?<< Seine wahren Absichten waren offensichtlich, ließen sie erröten. >>4167.<< Plötzlich verschwand der lockende Gesichtsausdruck. Sein Blick wurde dunkel. >>Sie… woher haben Sie das?<< Rebecca erstarrte. Der groß gewachsene Mann deutete auf das fremde Smartphone, das ihr beim Sturz aus der Tasche gefallen sein musste. Noch immer hielt er ihren Arm fest. Sie spürte seine rauen Finger auf ihr. >>Ich… ich habe…<<, begann sie zögerlich, doch David unterbrach sie. >>Sie wissen, dass dieses Smartphone mir gehört, oder?<<

Ihre Beine drohten zu versagen. Mit letzter Kraft riss sie sich vom Mörder los. Völlig verstört lief sie auf die Finsternis zu. Ihr Herz wollte explodieren. Waren das Schritte hinter ihr?

An Bord der Luciana, 30. Mai 2020, 02.17 Uhr

Rebecca stolperte vorwärts, immer weiter. Die Dunkelheit umspielte, verschlang sie. Wo Mondlicht hereinfiel, tanzten die Schatten. Sie war davon gerannt, ohne nachzudenken, wirr. Angst hatte sie angetrieben, tiefer ins Schiff einzutauchen, endgültig unterzugehen zwischen den Wänden der ihr endlos erscheinenden Gänge. Auch nachdem sich der Sturm beruhigt hatte flackerten die Lampen, drohendes Unheil verkündend.

Langsam gewann ihr Verstand die Oberhand. David hatte Ayana umgebracht! Ihr bestialisch das Gesicht eingeschlagen und sie dann von einem höhergelegenen Deck geworfen. Und wenn sie nicht bald etwas unternahm, würde er sie auch töten! Er kannte ihr Geheimnis. Sie konnte nicht fliehen. Dieses Schiff war kein verdammtes Gefängnis, sondern ein schwimmendes Grab!

Schwer atmend war Rebecca vor der Bürotür des Chief Security Officers angelangt. Bei einer Führung an ihrem ersten Tag an Bord hatte man sie auf diese Kabine hingewiesen. Für den Fall der Fälle. Was für ein Albtraum.

Es war hoffnungslos. Der Ermittler schlief sicher bereits. Was kümmerte den schon eine Leiche? Aber Rebecca musste es versuchen. Ohne die Höflichkeit zu wahren, platzte die junge Frau in die Kabine. Ihr rotes Haar umfing ihren Kopf wie lodernde Fackeln. Andrej Wolkow, der einzige Mann auf diesem beschissenen Schiff, der sie mit Waffengewalt hätte beschützen können, lag in einer Ecke und murmelte vor sich hin. Der Dunst, der ihn umgab, ließ Rebecca würgen.

>>Nicht mit mir… Trunkenheit im Verkehr… Was soll der Schwachsinn!<< Als Rebecca ihn ansprach, fuhr Wolkow hoch, wild um sich schlagend. Er schrie und dicke Tropfen seines Speichels schleuderten durch die Gegend. >>Ihr bekommt mich nicht! Kommen alle davon… trinken und fahren… keine Polizei!<< Der feste Griff des Mannes um ihr Handgelenk erschrak sie. >>Fahrt zur Hölle…!<<. Damit sackte der Ermittler zusammen.

Zwanzig Minuten. Zwanzig elendig lange Minuten lief Rebecca in Richtung Kommandobrücke. Ihre Brust schmerzte bei jedem Atemzug, in ihrer Seite fühlte sie tausend Messerstiche. Verzweifelt schlug sie mit den Fäusten gegen die schwere Stahltür, bis die Haut an ihren Knöcheln platzte. >>Captain Baskin, bitte… Ich brauche Ihre Hilfe!<<. Sie taumelte, als die Tür aufgerissen wurde. Zorn schwappte ihr entgegen. >>Sind Sie verrückt geworden? Es ist drei Uhr nachts!<< >>Bitte, ich…<<, stieß Rebecca aus. Ihr Puls raste. >>Der Kapitän ist längst zu Bett gegangen, als Erster Offizier ist es meine Aufgabe…<< Rebecca unterbrach ihn. >>Er… er hat sie ermordet. David… ach ja, von… von Ritterfels, der hat sie umgebracht!… Hat es auf mich abgesehen… So viel Blut auf der Straße, so viel Blut…<<

Er hielt es für einen Scherz. Vielleicht war es ihm auch egal. >>Kommen Sie morgen wieder, wenn Sie nüchtern sind.<< Doch für Rebecca gab es kein Morgen.

An Bord der Luciana, 30. Mai 2020, 03.31 Uhr

Sie war auf sich allein gestellt. Niemand würde sie vor dem bewahren, was sie erwartete. In wenigen Stunden, wenn die Passagiere das Schiff verließen, war Rebecca längst Vergangenheit. Der Tod war ihr ständiger Begleiter gewesen. Fast drei Jahre wich er der jungen Frau nicht von der Seite. Sie spürte seine Präsenz, wenn die Nacht am Dunkelsten war, wenn Stille einkehrte. Fühlte seine langen, spitzen Krallen, wie sie ihr über den Rücken fuhren, eine Gänsehaut verursachend. Nun drängte er sie vorwärts. Ihrem Ende entgegen.

Rebecca stürmte in ihre Kabine, in Gedanken versunken. Dass die Tür nur angelehnt war, bemerkte sie nicht. Die schrecklichen Erlebnisse dieser Nacht forderten ihren Tribut. Rebecca war müde. Todmüde. Sie zitterte, bebte geradezu. Heiße Tränen tropften zu Boden. Man glaubte ihr nicht. Der Mörder war auf freiem Fuß. Sie könnte kämpfen, oder… Einen Ausweg gab es. Sie sah in Richtung ihres Balkons. Die Balkontür stand offen. Drei, vier Meter, ein Sprung und es gäbe keinen Grund mehr, sich zu fürchten. Sie schrie, brüllte, bis sie das Gefühl hatte, an ihrem Gewissen zu ersticken.

Nein! Viel zu oft hatte sich Rebecca schon gewünscht, der Tod möge sie in seine ewige Umarmung ziehen. Doch jetzt musste sie leben. Für Ayana, die nur aufgrund Rebeccas Schuld gestorben war.

Langsam ließ sie sich auf ihr Bett nieder. Rebecca versuchte den Sturm in ihr zu ordnen, ohne zu ahnen, wohin er sie treiben würde. Was konnte sie unternehmen? Hatte sie überhaupt eine Chance? Aus den Augenwinkeln erspähte Rebecca einen seltsamen Umriss. Irgendetwas Längliches, Klebriges. Blut. Holz. Die Tatwaffe! Noch bevor Rebecca auch nur in der Lage war aufzuspringen, knarrte hinter ihr die Schranktür.

Irgendjemand kroch daraus hervor. Richtete sich mühsam auf. Rebecca hörte das schwerfällige Atmen einer Person, das Kratzen der Nägel auf dem Mobiliar, an welchem Halt gesucht wurde. Noch immer wagte sie es nicht, sich umzudrehen. Zu sehr fürchtete sie sich vor dem Anblick, dem Grauen, das sie erwartete. Wenn sie nur weiter nach vorne sah, würde das Gespenst vielleicht verschwinden. Der Tod trübte ihre Sinne. Könnte sie sich die Bedrohung nur einbilden?

>>Ich hatte mich schon gefragt, wann du wohl versuchen würdest zu springen, Rebecca.<< Eiseskälte kroch in ihre Glieder, schien ihr Herz lähmen zu wollen. >>Die letzte Nacht an Bord? Umgeben von Donnergrollen? Dramatische Abgänge liegen dir, das muss ich dir schon zugestehen.<< Die Stimme hinter ihr stockte. Die Person schnaubte. >>Du musst eine ziemlich schlechte Ärztin sein, wenn du nicht einmal erkennst, ob jemand tot ist… oder nicht.<<

Rebeccas Gedanken rasten. Das war nicht David, nicht Riccardo oder der Ermittler. Nein, in ihrer Kabine befand sich eine Frau!

Trotz ihrer Angst wandte sie sich um. Sie musste der Person in die Augen sehen, die für all das verantwortlich war, die Ayana aus dem Leben gerissen und ihres zerstört hatte. Da stand sie, schief, als wäre ihre Wirbelsäule verkrümmt. Rebecca starrte die Frau verblüfft an. Ihr Gegenüber lächelte leicht, triumphierend. >>Das hättest du wohl nicht erwartet, was? Die mitleiderregende Frau im Rollstuhl, wer verdächtigt die schon? Ich mag zwar reich sein, Liebes, aber ich bin nicht doof. Wenn ich meine Show abziehe, merkt keiner, zu was ich fähig bin.<<

Rebecca schluckte, wollte etwas erwidern, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Zu tief saß der Schock. Die gemächlich auf sie zu schlendernde Frau war Ines Venganza. Sie brauchte keinen Rollstuhl. In ihrer Hand befand sich ein Messer.

>>Willst du denn immer noch nichts sagen, Kind? Wie wäre es mit einer Entschuldigung? Immerhin hast du mich in dieser Nacht im Gebüsch liegen lassen, bist in deinen verdammten Wagen gestiegen und davon gefahren! Hast mich zum Sterben verurteilt, aber siehe da, ich bin nicht tot, Mädchen!<<

>>Sie… Sie leben. Wie können Sie…<<

>>Oh, ich kann noch viel mehr als das! Ich habe dich gefunden, nicht die Polizei, ich! Kein Schwein hat sich für mich eingesetzt! Ein tragischer Unfall… Die Ermittlungen wurden schleunigst eingestellt. Hatte wohl keiner Lust, das hier nochmal zu sehen!<< Ines deutete auf ihr Gesicht.

Und erst jetzt erkannte Rebecca, dass die Frau vor ihr nicht frühzeitig gealtert war. Nicht Falten zierten ihre Wangen, ihre Stirn, es waren Narben. Unzählige.

>>Ach ja, das Foto das du gefunden hast… Genial, nicht wahr? David hat es geschossen. Mein Mann hatte zu tun, da wollte ich die Gelegenheit nutzen. Davids Hütte im Wald, du weißt doch sicher, was man sich erzählt… Er scheint dich ja auf dem Foto nicht erkannt zu haben. Und die Polizei konnte damit auch nichts anfangen. Aber ich habe es aufbewahrt.<< Ines grinste. >>Wie der Zufall so will… Letzten Herbst war ich aufgrund einer ärztlichen Behandlung in Hamburg. Du bist an mir vorbei, hast dich nicht mal nach mir umgedreht. Aber ich habe dich erkannt, Rebecca. Wie glaubst du wohl, kam der Flyer für dieses Schiff auf deinen Schreibtisch?<<

>>Sie haben Ayana umgebracht, oder? Wieso… wieso sie?<< >>Das fragst du? Hast du sie dir mal angesehen? Sie war wunderschön, ein Engel.<< Ines Blick wurde hart. Sie ließ lange, knochige Finger über ihre Haut streichen. >>Ich war auch einmal hübsch… Und dann kamst du und hast mir alles genommen!<< Die Mörderin näherte sich Rebecca, umklammerte das Messer fester, bis ihre Knöchel weiß hervortraten.

>>Rache sollte man kalt genießen, oder nicht?<< Ines linker Mundwinkel zuckte. >>Miguel wollte sich scheiden lassen. Nun ist er tot. Das Model musste ja unbedingt auf dieses Schiff. Nun ist sie tot. Und David… Glaubst du, der hätte mich in den letzten Jahren angerührt? Wir sind doch nur noch Freunde, der alten Zeiten wegen… Tja, wie schade, dass er heute noch Selbstmord begehen wird. Und wie praktisch, dass das da…<< Das Monster vor ihr nickte in Richtung der blutigen Tatwaffe. >>…sein Baseballschläger ist.<<

>>Die Polizei wird glauben, er hätte es nicht verkraftet, das Model umgebracht zu haben. Er hat sie angemacht, weißt du! Ich habe es gesehen. Zumindest behaupte ich das.<<

>>Bitte… das lässt sich doch alles klären…<<, stammelte Rebecca, die entsetzt feststellte, dass sie nicht weiter zurückweichen konnte. Ihre Fersen berührten bereits die Wand, die ihr zum Verhängnis werden würde. Eine Flucht war unmöglich. Um aus der Kabine zu gelangen, hätte sie an Ines vorbei müssen. Oder aber vom Balkon springen.

Die Verrückte lachte schallend auf. >>Oh nein, hübsches Ding, du stirbst heute.<<

Noch bevor Rebecca einlenken konnte, stürzte sich Ines auf sie. Rebecca versuchte auszuweichen, doch das Messer in Ines Hand bohrte sich in ihre rechte Schulter. Schmerz flammte auf, nahm ihr die Sicht. Mit einem Ruck riss Ines das Messer aus der Wunde und schwang es in die Luft, um erneut zuzustechen. Rebecca stieß sich nach vorne, gegen die Angreiferin. Ines verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings zu Boden. Das Messer schlitterte in Richtung des geöffneten Balkonfensters. Als Rebecca danach greifen wollte, schlug die Mörderin auf ihre verletzte Schulter. Rebecca brüllte. Verzweifelte Tränen tropften auf den blutgetränkten Teppich unter ihnen.

Das Messer blitzte auf. Mondlicht spiegelte sich darin. Aus den Augenwinkeln nahm Rebecca eine rasche Bewegung wahr, einen Schatten, einen Ruck. Das letzte, was sie hörte, war Ines überraschter, unmenschlicher Schrei, als sie über die Reling fiel. Kräftige Arme hoben sie hoch. Dann wurde alles schwarz.

Dominikanische Republik, 30. Mai 2020, 19.47 Uhr

Rebecca ließ die Eiswürfel in ihrem Glas kreisen. Der Whiskey brannte, als er den Hals hinab rann. Ihre Schulter pochte. Auf dem Tresen lag Davids Smartphone. Hätte er das Foto darauf nicht gefunden, sie nicht doch noch erkannt, lägen ihre Überreste nun auf dem Grund der See.

>>Wieso hat sie mich nicht springen lassen? Dann wäre ich doch sowieso gestorben.<<

David runzelte die Stirn. >>Rache ist schon ein seltsames Gefühl, nicht wahr?<<

Rebecca nahm seine Hand, spürte ihrer beider Herzschlag. Heute würde niemand mehr sterben.

3 thoughts on “So tief die Schuld

  1. Oha! Diese Kurzgeschichte ist das, was ich unter dem Begriff “Mindblowing” verstehe … die ganze Zeit über wollte ich begreifen, begreifen, was da eigentlich vor sich geht und letztlich hat es sich wie ein Puzzle zusammengefügt! Verdammt stimmig, dass es mich noch immer überwältigt. So detailreich und obwohl es wirklich viele Charaktere sind, verliert man nicht die Übersicht … wow!

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