Sam WohlersSOMNIA

SOMNIA

Sam Wohlers

 

Es war eine ruhige, klare Nacht. Der Mond schien durch das Fenster auf das Bett des fast zweijährigen Mädchens, das friedlich darin schlief. Er trat leise ins Zimmer und schloss hinter sich die Türe, wobei er darauf achtete das Kind nicht zu wecken. Dann setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett und betrachtete die Kleine. Ihre Atemzüge waren ruhig und regelmäßig. Nur die Augen zuckten hinter den Lidern hin und her.

Als er sich sicher war, dass sie tief und fest schlief, zog er den kleinen Körper zu sich auf den Schoß. Sie erwachte kurz, murmelte etwas Unverständliches, kuschelte sich fest an ihn und fiel wieder in einen ruhigen, tiefen Schlaf. Liebevoll strich er ihr die Haare aus der Stirn und betrachtete sie. Die Augen schienen, trotzdem sie geschlossen waren, als würden sie das gesamte Gesicht vereinnahmen und er wusste, dass sie ihn in einem strahlenden Blau anlachen würden, wäre das Kind munter gewesen. Die kleine Stupsnase, der zart geschwungene Mund und auch die glatte weiche Haut schienen der Feder eines Malers zu entstammen.

Er nahm die Hand des kleinen Mädchens und strich sanft mit seiner darüber. Dann löste er den Schlauch der Infusion und drückte den Inhalt der Spritze in die Venenkanüle. Der Atem des Kindes wurde allmählich langsamer und flacher. Ein letzter Seufzer und ihr kleines Herz hörte auf zu schlagen. Er legte das Mädchen zurück in das Krankenhausbett, deckte es behutsam zu und verließ lautlos das Zimmer.

Er musste an sich halten, um den Tränen Einhalt zu gebieten. Die Wut und die Ohnmacht überwältigten ihn. Seit Jahren trug er die Trauer, gepaart mit dem Zorn in sich. War denn der gewaltsame Tod seiner Tochter nicht genug Schmerz für ein ganzes Leben? Diese negativen Gefühle waren seine ständigen Begleiter geworden. Doch anstatt abzuflachen und mit der Zeit anderen Gefühlen wieder Raum zu geben, wurden sie immer mächtiger. Er musste jetzt endlich etwas dagegen tun. So beendete er den letzten Satz und schloss das Notebook.

Die Mittagssonne erwärmte die frische Frühlingsluft. Die Bäume wiegten sich im Wind, erste Blumen und Blüten erfreuten das Auge der Parkbesucher. Alexander suchte nach einer leeren Parkbank, auf der er seinen kurzen Mittagssnack einnehmen konnte. Er entdeckte eine grün lackierte Bank, an der bereits der Zahn der Zeit nagte. Erst als er näher kam sah er den E-Reader, der auf der Sitzfläche lag. Er sah sich sofort um, doch es war niemand in der Nähe, niemand der ihn vergessen haben könnte.

Alexander seufzte tief und überlegte: „Auch das noch! Dann muss ich wohl nachher noch zum Fundbüro, ehe die Mittagspause vorbei ist.“ Aber bis dahin konnte er sich den E-Reader noch einmal genauer ansehen. Es war das gleiche Modell, das er selbst besaß und mit ein bisschen Glück war es nicht passwortgeschützt. Das Gerät hatte eine Schutzhülle, auf der eine verschnörkelt gemalte Rose in schwarz-weiß abgebildet war. Er schien wohl einer Frau zu gehören. Mehr war allerdings an dem Cover und in dessen Fächern nicht zu finden. Der E-Reader ließ sich tatsächlich durch einfaches „Wischen“ entsperren.

Alexander schaute kurz auf und runzelte die Stirn. Das konnte doch nicht sein. Es war kein Name, keine E-Mail Adresse, einfach nichts Persönliches zu finden auf dem Ding. Es war nur ein einziges Buch darauf. Und selbst das war merkwürdig, denn es wurde nur mit dem Titel angezeigt. Ein Autor wurde nicht genannt. Selbst wenn er das Buch öffnete und dort danach suchte.

Verwirrt und auch ein wenig missgelaunt, weil er nichts über die Besitzerin des Gerätes herausgefunden hatte, schaute Alexander auf die Uhr. Kurz nach zwölf Uhr, er hatte noch über eine Stunde Zeit, bevor er zurück zur Arbeit musste. Soweit er sich erinnern konnte, machte das Fundbüro ebenfalls bis 13 Uhr Mittagspause. Die Langeweile, wie auch ein gewisses Interesse veranlassten ihn dazu das Buch mit dem reißerischen Titel „Die Wahrheit über Dich“ zu beginnen.

Er war nun schon seit Jahren einer der gefragtesten Psychiater und Psychotherapeuten in Salzburg. Ihm wurden die schwierigen Fälle von Justiz, aber auch aus dem Gesundheitssystem selbst zugespielt. Deshalb hatte er auch schon des Öfteren mit Patienten zu tun, die an Amnesie litten. Durch seine Stellung konnte er sich eine Praxis inmitten der Altstadt leisten. Dennoch war er auch weiterhin für und somit auch öfters im Krankenhaus tätig.

Doch dieser Fall war besonders interessant. Erneut setzte er sich über seine Aufzeichnungen und ging die Fakten durch. Der Patient kam bereits seit fünf Jahren wegen Depressionen zu ihm. Zusätzlich hatte er vor etwa drei Jahren einfach über Nacht seine Vergangenheit verloren. Es gab keinen medizinischen oder erkennbaren Grund dafür. Nur ein persönlicher Schock, wie er vermutete, war als Auslöser denkbar. Und ausgerechnet diese Amnesie traf in dieser Weise ein, dass sein Patient nicht nur das Gedächtnis, sondern auch seine früheren Persönlichkeitsmerkmale verloren hatte. Das passierte äußerst selten und war für das Umfeld der betroffenen Person meist sehr schwierig, denn ein wohlwollender Gönner konnte sich in einen extrem knausrigen Zeitgenossen verwandeln. Er oder sie konnte damit seine gesamte Identität verlieren. Und so verhielt es sich bei seinem Patienten.

Er raffte die Zettel zusammen und seufzte. An diesem Fall würde er sich noch die Zähne ausbeißen. Dennoch war es einfach noch zu früh seinem Patienten von dem vermeintlichen Auslöser der Amnesie zu erzählen. Es war besser zu versuchen Erinnerungsfetzen beim Patienten hervorzurufen, um damit nach und nach dessen Erinnerung wieder zu wecken. Doch wie sollte er das anstellen.

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Er ging weiter in das nächste Zimmer der Kinderstation. Dabei hatte er im Vorfeld wieder dafür gesorgt, dass keinerlei Überwachungsgerät Alarm schlagen würde, wenn er mit dem nächsten Mädchen fertig war. Geduldig wartete er ab, bis die Mutter das Zimmer für einen Kaffee verließ. Doch nun musste er sich beeilen. Er tränkte das Tuch mit Chloroform und trat in das dunkle Zimmer.

„Guten Tag, Herr Doktor Resch, wie geht es Ihnen heute?“, fragte ihn die Supervisorin. Sie kannte ihren Patienten gut und wusste, dass sie ihn mit seinem Titel, sowie viel Respekt und Achtung ansprechen musste. Ansonsten würde er sofort das Gespräch einstellen oder schlimmstenfalls sogar den Raum verlassen. „Wie schon angekündigt möchte ich heute mit Ihnen erneut über den Tod des Mädchens und ihre Gefühle dazu sprechen.“

Auch bei diesem Termin bekam sie nichts aus dem Mann heraus. Dabei war es doch so gut gelaufen, bis zu dem einen Treffen im Dezember. Das war nun schon einige Monate her und die Sitzungen direkt danach verliefen eigentlich normal. Sie nahm sich vor, die Unterlagen seit diesem Vorfall beizeiten nochmals durchzuarbeiten. Doch in zehn Minuten würde schon der nächste Termin beginnen und davor wollte sie sich noch einen Kaffee kochen.

Dieses Mal wird es andersrum laufen! Dieses Mal wirst nicht du töten. Denn nun ist es an mir, lies aufmerksam weiter:

Es war ein weiterer stressiger Tag, du kommst nach Hause zu deiner Familie und genießt den Abend mit ihnen. Nach einem gemütlichen Feierabendbier und einer weiteren Folge deiner Lieblingssendung, gehst du ins Bett. Bist du dir sicher, dass da nicht gerade ein Geräusch im Haus war, das nicht da sein dürfte? War das nicht ein Fenster, vielleicht hast du eine Türe knarzen gehört. Schläft dein Kind wirklich friedlich im Zimmer? Ist sie denn alleine?

 

Alexander blickte besorgt auf sein Handy und ihm war klar, dass er schon wieder zu spät kam. Die Schichten im Krankenhaus waren wegen Personalmangel und etlichen Einsparungsmaßnahmen generell schon unterbesetzt, was sich in der derzeitigen Situation noch mehr bemerkbar machte. Aber er konnte schließlich nicht ohne Übergabe Feierabend machen. Termin hin oder her.

Gestresst und übel gelaunt traf er endlich in der Praxis seines Psychiaters ein. Dieser begrüßte ihn freundlich und sprach die Verspätung in keiner Weise an. Er wusste schließlich, dass sein Patient momentan, aufgrund der Corona-Krise sehr unter Druck stand. Alexander ging schon seit Jahren wegen immer wiederkehrender Depressionen zur Psychotherapie.

„Gibt es denn irgendetwas Neues, was haben Sie in der letzten Woche erlebt?“, fragte ihn der Psychiater und schlug sein Buch mit den Notizen auf. Alexander sah sich um, er mochte die Praxis. Es war alles recht karg eingerichtet und es gab – entgegen der gängigen Vorstellung – keine Couch. In der Mitte des großen, lichtdurchfluteten Raumes standen zwei antik anmutende, gepolsterte Stühle mit einem runden Glastisch. Auf dem befanden sich jedes Mal zwei Gläser und ein voller Wasserkrug. Rechts neben der Tür war ein ebenso antiker großer Vollholzschrank mit den ordentlich aufgereihten Akten des Psychiaters. An dieser Stelle sah der alte Fischgrätparkett schon sehr mitgenommen aus. Ansonsten fanden nur noch ein großer Elefantenfuß und ein gut gepflegter Bonsai auf einem Stehtischchen ihren Platz im Raum.

Was Alexander sehr schätzte, war die Verschrobenheit seines Psychiaters. Er mutete wie ein Doppelgänger des österreichischen Psychoanalytikers Prof. Dr. Sigmund Freud an, wobei er auch eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit dieser Berühmtheit besaß. Seine handschriftlichen Notizen, die er jede Stunde in das große schwarze Buch schrieb, passten ebenfalls dazu.

„Nein, eigentlich war nichts Besonderes diese Woche. Die Arbeit ist aktuell so stressig, dass ich die Zeit zu Hause mit meiner Frau und unserer Tochter als Belastung empfinde. Aber sonst“, er seufzte und überlegte kurz: „Hm ja, mir ist da etwas Komisches passiert. Ich war vor ein paar Tagen in der Mittagspause im Mirabellgarten und fand einen E-Reader. Ich wollte den Besitzer ausfindig machen oder ihn zumindest zur Fundstelle bringen. Es war nur ein einziges Buch darauf. Ich hab es gegoogelt, das gibt es noch nicht einmal. Ich habe angefangen darin zu lesen und es scheint eine wahre Begebenheit zu erzählen. Ich muss zugeben, dass ich daraufhin komisch geträumt habe, ich bin immer wieder aufgewacht und musste daran denken. Mittlerweile überlege ich sogar es zu Polizei, anstatt zur Fundstelle zu bringen.“ – „Achja, das ist ja interessant. Was hat Sie daran so beunruhigt, worum ging es denn in dem Buch?“, fragte der Psychiater nach und notierte sich etwas in seinem schwarzen Buch. Alexander sammelte sich kurz: „Es werden Morde an Kindern im Krankenhaus beschrieben. Ich habe versucht dahingehend etwas in Erfahrung zu bringen. Ob sich bei uns Ähnliches ereignet hat, habe aber nichts herausgefunden. Dennoch verunsichert mich das Ganze sehr“ – „Würden Sie sagen die Träume in Zusammenhang mit dem Buch muten wie Erinnerungen an?“, fragt er nochmal nach. „Nein, ich denke nicht, also zumindest nicht für mich. Aber ich fürchte wieder in meinen altbekannten Denkschleifen zu versinken.“, erwiderte Alexander. Der Psychiater klappte unsanft das Buch zu, er wirkte verärgert, nahm aber das Gespräch wieder normal auf.

Wann hast du denn wieder Nachtschicht? Deine Familie ist allein Zuhause. Ist sie wirklich allein?

Ich hatte mir vorgestellt deine Tochter nicht leiden zu lassen. Ich werde mich zuerst um deine Frau kümmern. Ich will nicht, dass sie reinplatzt. Dennoch ist dies hier der schönere Teil für mich, also möchte ich ihn dir zuerst erzählen.

Ich werde dein Mädchen nicht quälen, denn sie ist noch ein Kind. Versteh mich nicht falsch, ich muss es tun, es macht mir absolut keinen Spaß. Ich werde also das schlafende Mädchen in seinem Bett betrachten. Sie ist genauso bildschön wie jedes andere Kleinkind in seinem Alter. Man kann ihnen das gute Herz und die reine Seele am Gesicht ansehen.

Wenn sie tief und fest schläft, dann nehme ich sie auf meinen Schoß. So wie du es auch getan hast mit dem Mädchen im Krankenhaus. Ich wiege sie und halte sie fest. Weißt du, ich kann das nicht mit den Spritzen oder so. Das ist einfach nichts für mich. Aber die Kleine schläft bestimmt auf einem Kissen, das werde ich ihr aufs Gesicht drücken. So lange, bis mein anhaltendes shhh-shhh wirkt und sie ruhig zurück in meinen Arm sinkt.

Martina Kader hatte jetzt schon seit fast drei Jahren als Supervisorin mit Doktor Resch zu tun. Er war nach dem Vorfall sofort an sie herangetreten, damit dieser seine Arbeit nicht beeinträchtigen konnte. Sie war anfangs begeistert über die schnellen Fortschritte, die der Psychiater machte. Außerdem war er ein sehr angenehmer Klient, immer offen und ehrlich und teilte ihr auch stets seine Sorgen mit. Mit seiner gefühlten Überlegenheit, dem Rechthaberischen und der Arroganz konnte sie umgehen.

Sie blätterte aufmerksam die Unterlagen durch. Etwas war passiert. Seit einigen Wochen wurde er immer verschlossener. Er wirkte verbissen, redete so gut wie gar nicht mehr über den Vorfall und hatte nun schon die zweite Sitzung kurzfristig abgesagt. Martina dachte darüber nach, ob sie das nun schon melden, oder sich noch einmal bis zum nächsten Termin vertrösten lassen sollte. Eigentlich wollte sie mit ihm persönlich darüber reden. Doch sie hatte einfach kein gutes Gefühl dabei.

„Hallo Alexander! Wie geht es Ihnen denn heute?“, fragte der Psychotherapeut nach. Alexander fühlte sich rastlos. Er träumte mittlerweile nachts von dem Buch und konnte nicht mehr unterscheiden, was real war und was nicht. Er wusste nicht warum, aber es nahm ihn mit.

Er erzählte dem Psychiater von seinen Träumen, dass Kinder im Krankenhaus starben. „Mittlerweile kann ich nicht mehr unterscheiden, ob es Erinnerungen sind oder nur Träume. Das Buch ist so realistisch geschrieben. Und es sind nicht nur Morde darin beschrieben, sondern auch Drohungen. Es wirkt, als würde sich das alles auf mich beziehen. Ich muss wieder öfter an die beiden verstorbenen Kinder im Krankenhaus denken.“ – „Aber das ist doch prinzipiell gut, Alexander. Hören Sie, Sie müssen das alles auf sich wirken lassen und versuchen zur Ruhe zu kommen. Ihr Kopf arbeitet nochmal alles auf, das ist völlig normal. Daher sehe ich sogar einen Vorteil darin, dass Sie dieses Buch gefunden haben. Machen Sie eigentlich noch die besprochenen Entspannungsübungen?“ Der Patient nickte resigniert. „Sehr gut. Lassen Sie das Gelesene auf sich wirken. Ich persönlich bin noch immer sehr irritiert über den Inhalt und verstehe auch nicht, wieso Sie es noch nicht zur Polizei gebracht haben. Aber dennoch, lassen Sie diese wie Erinnerungen anmutenden Sequenzen zu. Ich würde Sie bitten, das Traumtagebuch wieder weiterzuführen. Aber besprechen wir doch jetzt erstmal, wie Sie mit der neuen Methode bezüglich Ihrer Denkschleifen zurechtkommen.“ Alexander versuchte sich gedanklich von dem Buch zu lösen. Damit konnte er sich später wieder beschäftigen, schließlich ging es hier um seine Depressionen.

Der Psychotherapeut sah zu, wie Alexander am Ende der Sitzung aufstand, seinen Mantel vom Stuhl zog und den Raum verließ. Dann fing er an sich Notizen zu machen. Er freute sich tatsächlich, dass nun endlich die ersten Erinnerungen zurückkehrten. Anders als gedacht, aber endlich waren Erfolge zu sehen.

Nun reichte es Martina Kader endgültig. Schon wieder hatte Doktor Resch kurzfristig abgesagt. Die Ausreden wurden immer fadenscheiniger. Sie musste es endlich melden. Es konnte mitunter um Menschenleben gehen. Also beschloss sie früher Feierabend zu machen und bei der zuständigen Stelle im Krankenhaus vorbeizuschauen.

Sie trat in das leicht modrig riechende Stiegenhaus und sperrte ihre Praxis ab. Im Erdgeschoss neben dem Eingang hingen die Briefkästen. Wie jedes Mal, wenn sie nach Hause ging, prüfte sie noch einmal, ob ihrer auch wirklich leer war. Da sah sie im Augenwinkel einen Schemen aus der Nische unter der Treppe hervortreten. Im nächsten Moment spürte sie einen stechenden Schmerz auf der rechten Seite des Kopfes und dann wurde alles schwarz.

So und nun der Teil mit deiner Frau. Bist du schon gespannt? Ich hab mir was Besonders für sie überlegt. Ich bin nach wie vor schockiert, dass sie bei dir geblieben ist. Nachdem du dich so verändert hast. Aber nein, sie ist nicht nur geblieben, sie hat dir sogar ein Kind geschenkt! Das war sowas von verantwortungslos, sie kannte doch deine Vergangenheit. Und genau deshalb soll sie leiden.

Du hast so einen schönen Hobbyraum im Keller. Ja, ich war tatsächlich schon in deinem Haus. Da steht ein großer Tisch. Groß genug, um darauf eine Frau zu fesseln. Sie wird erst dort wieder zu sich kommen. Dann wird sie mir zusehen, wie ich mich um eure Tochter kümmere. Sie bekommt eine Video-Übertragung direkt auf den Bildschirm im Hobbyraum.

Und dann muss ich mich überwinden. Wie schon gesagt, ich steh nicht so auf Blut oder darauf jemandem weh zu tun. Aber deine Frau wird sich nach dem Tod der Tochter sicher sein, dass der Schmerz nicht größer werden kann. Doch der körperliche Schmerz ist nochmal was ganz anderes als der seelische.

Nun fehlt ihr ein Kind. Ich kenne diesen Schmerz, es fühlt sich an, als würde einem ein Körperteil abgenommen werden. Und genau das habe ich vor. Ich werde mit dem rechten Unterschenkel beginnen. Es interessiert mich wie sehr sie bluten wird, wie schwer es sein wird den Knochen abzusägen. Natürlich darf deine Frau das bei vollem Bewusstsein genießen.

Ich bin ein Perfektionist. Also binde ich zuerst ihr Bein ab, sie soll mir ja nicht vorzeitig verbluten. Ich dachte an einen etwa fünf Zentimeter breiten Streifen unterhalb des Knies. Den zeichne ich mir an und nehme erstmal die Haut ab. Dann sind die Sehnen und Muskeln dran. Ich möchte mir den Knochen freilegen, um ihn dann sauber durchtrennen zu können. Ich habe mir ein paar Sachen vom Krankenhaus dafür ausgeliehen. Aber für den Knochen selbst nehme ich die gute alte Knochensäge, da bin ich altmodisch. Ich will spüren wieviel Kraft ich dafür aufwenden muss.

Das wird einige Zeit beanspruchen. Je nachdem improvisiere ich ein bisschen. Aber ich denke, dass deine Frau immer mal wieder ohnmächtig wird. Ich möchte aber, dass sie so viel wie möglich davon mitbekommt. Dann können wir nämlich auch nett plaudern. Ich erzähle ihr meine Beweggründe und wir reden über ihre Verluste, vergleichen diese und wägen ab. Ich denke das wird interessant werden. Ich würde gerne mit ihr darüber sprechen worin der Unterschied besteht ein Körperteil oder ein Kind zu verlieren. Beide Verluste sind immens, aber welcher wirkt denn nun schwerer im Geist?

Ob ich dann den linken Oberschenkel noch schaffe, oder mir vielleicht ein Unterarm besser gefällt. Ich weiß es noch nicht. Aber es wird befriedigend und aufschlussreich, da bin ich mir sicher.

Martina schlug die Augen auf. Sie wusste im ersten Moment nicht wo sie war, aber sie konnte ein Summen und Piepsen wahrnehmen. Das Pochen in ihrem Kopf erschien ihr übermächtig. Nach ein paar Sekunden wurde dann auch ihr Blick klarer und sie konnte die Decke eines Krankenhauszimmers erkennen. Über ihr hing die Aufrichthilfe mit einem Rufknopf. Sie achtete nicht weiter auf den Schmerz in ihrem Kopf, sie musste mit jemandem reden. Am besten mit der Polizei, aber vorerst würde sie mit dem Pflegepersonal vorlieb nehmen müssen. So betätigte sie den Knopf über sich.

Ein großer schlanker Pfleger trat ein: „Grüß Gott Frau Kader, schön, dass Sie schon wach sind. Wie fühlen Sie sich?“ – „Ich muss sofort mit der Polizei sprechen! Ich weiß, dass es Jonathan Resch war, der mich niedergeschlagen hat. Keine Ahnung was er noch vorhat, aber jedenfalls muss ich ihn aufhalten!“, sagte sie und fühlte, dass sie doch noch recht schwach war. Der Pfleger sah sie mit gerunzelter Stirn an: „Meinen Sie den Psychotherapeuten Resch? Ich kenne ihn, ich bin seit etwa fünf Jahren bei ihm in Behandlung.“ Martina wusste was jetzt kommen würde, schließlich war der Mann kein Unbekannter in Salzburg. Sie fürchtete, dass der Pfleger ihr ausreden würde in ihrem Zustand mit der Polizei zu sprechen. Doch sie war sich sicher, dass ihr nicht mehr allzu viel Zeit blieb, also beschloss Sie ihm alles, wenn auch so kurz und knapp wie möglich, zu erzählen: „Ja, genau den meine ich. Er kommt aufgrund des Todes seiner Tochter zu mir zur Supervision. Ich dachte anfangs, dass es ihm immer besser geht. Doch seit ein paar Wochen verschließt er sich mehr und mehr. Mittlerweile kommt er nicht mehr zu den Sitzungen. Vor ein paar Monaten erwähnte er, er vermute nun, dass der diensthabende Pfleger seine Tochter getötet habe.“, sie verstummte, als der Pfleger die Hand hob und sie fragend ansah: „Seine Tochter wurde nicht getötet.“ Jetzt war es an Martina die Stirn zu runzeln und ihn fragend anzusehen. Der Pfleger fuhr fort: „Wissen Sie, als vor drei Jahren seine Tochter eingeliefert wurde, arbeitete ich noch auf der Kinderstation. Sie ist verstorben, als ich Dienst hatte. Doch man fand nie heraus woran.“ – „Waren Sie denn damals der einzige Pfleger auf der Station?“, fragte sie energisch. Er nickte: „Sie wissen doch, dass es prinzipiell nicht viele Männer in meinem Beruf gibt und auf der Kinderstation sind es dann noch weniger.“ Martina sah ihn durchdringend an: „Dann sind Sie auch der Pfleger den der Doktor verdächtigt.“ Sie sah, wie der Mann kreidebleich wurde: „Sie meinen, Herr Resch glaubt tatsächlich ich hätte seine Tochter ermordet?“

In diesem Moment wurde Alexander klar, dass der E-Reader für ihn bestimmt gewesen war. Sein Psychotherapeut, dem er seit Jahren alles Private anvertraute, hatte das Buch für ihn hinterlegt. Er stürmte aus dem Zimmer, wählte zuerst den Polizeinotruf und versuchte dann seine Frau zu erreichen. Doch weder am Festnetz, noch am Handy erreichte er jemanden.

Alexander ärgerte sich über sich selbst. Sein Psychotherapeut hatte ihn sogar vorgewarnt mit dem Buch. Er hätte erkennen müssen, dass die beschriebenen Kindermorde eigentlich die beiden, aus bis heute unerklärlichen Gründen, verstorbenen Mädchen auf seiner Station waren. Wieso war er darauf nicht gekommen? Er hatte tatsächlich an diesen Tagen Dienst gehabt. Eine Obduktion hatte nichts ergeben, weswegen auf beiden Totenscheinen „plötzlicher Kindestot“ eingetragen worden war. Im Falle der fast zwei jährigen Tochter des Psychotherapeuten war das tatsächlich bemerkenswert, denn in diesem Alter verstarben Kinder eigentlich nicht mehr daran. Doch bei dem sechs Monate alten Mädchen, das wegen eines Sturzes gemeinsam mit der Mutter eine Nacht im Krankenhaus bleiben sollte, konnte das leider passieren. Er hatte sich lange Zeit Vorwürfe gemacht deshalb, jedoch wurde auch vom Krankenhaus selbst bestätigt, dass er nichts hätte tun können. Alexander wechselte kurze Zeit darauf trotzdem die Station, nicht zuletzt weil seine Frau mittlerweile schwanger war.

Nun hastete er zum Auto und hoffte noch rechtzeitig nach Hause zu kommen.

„So Herr Doktor Resch, Sie behaupten also aus Rache gehandelt zu haben?“, der Ermittler notierte sich etwas auf dem Zettel vor sich. Der Psychotherapeut konnte nicht entziffern was es war. Er seufzte theatralisch, überlegte kurz und begann dann zu erzählen: „Ich erkläre es Ihnen genau einmal, also hören Sie mir gut zu. Meine Tochter wurde vor drei Jahren, am 23. März, wegen Fieberkrämpfen eingeliefert. Als die Rettung sie holte wirkte bereits der Fiebersaft, den wir ihre verabreichten. Dennoch wollten die Sanitäter sie sicherheitshalber mitnehmen. Wissen Sie, ich kenne mich medizinisch recht gut aus, aber meiner Frau zuliebe stimmte ich zu. Noch in den Morgenstunden rief sie mich an und sagte mir, dass unsere Tochter gerade verstorben war. Sie konnte wohl nicht schlafen und hatte einen kurzen Spaziergang durch das Krankenhaus gemacht. Somit war unser Kind ein paar Minuten allein und das hat Alexander Kohler, der Pfleger auf der Kinderstation, ausgenutzt. Natürlich fand man am nächsten Tag bei der Obduktion keinerlei Hinweise, genau deshalb ist er doch Pfleger und kein Metzger! Doch plötzlicher Kindestod bei einer fast Zweijährigen ist schon wirklich weit hergeholt. Ich behandelte Herrn Kohler bereits seit Jahren wegen seiner Depressionen. Aber als Psychotherapeut weiß man halt mehr über die Menschen, als sie selbst über sich.“

Er trank einen Schluck Wasser, wartete ab bis der Beamte seine Notizen beendet hatte und fuhr dann fort: „Ich wusste, dass Herr Kohler Dreck am Stecken hatte. Sie haben bestimmt auch Akten darüber, ich nehme an er ist vorbestraft. Aber dann passierte das Unmögliche. Nach einigen Tagen kam ein zweites Mädchen ums Leben auf derselben Station, wieder in der Schicht von Kohler. Just darauf erlitt der einen Schock, wieso kann ich Ihnen nicht sagen, aber jedenfalls verlor er dabei sein Gedächtnis. In ganz wenigen Fällen geht der Verlust der eigenen Vergangenheit mit dem gleichzeitigen Verlust der Identität einher. Kohler veränderte sich. Er musste sich selbst finden und entwickelte dabei neue Vorlieben, Eigenschaften usw. Eigentlich sehr spannend, aber was soll ich sagen, die Veränderung war leider zu seinen Gunsten. Das kam mir nicht gerade entgegen. Er wurde ein richtiger Vorzeigebürger, war beliebt und scheinbar auf der Gewinnerseite des Lebens. Doch ich wollte nicht, dass er so davon kam. Er sollte sich der Morde an den Kinder wieder bewusst werden. Nach etlichen Monaten Therapie und trotz meiner hervorragenden Arbeit, war noch nicht mal der Ansatz von Erinnerungen aufgetaucht. Also half ich nach mit dem E-Reader. Und bald darauf berichtete er mir in den Sitzungen, dass ihm das Gelesene wie Erinnerungen anmute und er davon träume. Endlich wurde es Zeit für meine Rache, denn er sollte sie ja verstehen. Und den Rest können Sie ja dem Buch entnehmen.“ Damit verschränkte er die Hände, lehnte sich zurück und betrachtete den Ermittler abschätzig.

„Eine Frage hätte ich da noch Herr Doktor Resch. Was war mit Ihrer Supervisorin?“ – „Nichts weiter, sie ist eine hervorragende Kollegin und ehe sie mir auf die Schliche kommen konnte, wollte ich sie unschädlich machen. Allerdings hatte ich gehofft, dass der Schlag sie länger außer Gefecht setzen würde.“ Der Beamte nickte, beendete seine Notizen, verabschiedete sich und verließ das Zimmer.

„Was würden Sie sagen, Herr Professor?“ – „Der Fall seiner Tochter mit dem plötzlichen Kindestot wurde natürlich ordentlich überprüft. Da gab es kein Fremdverschulden. Der arme Kerl hat den Tod seiner Tochter nicht verkraftet. Und vor etwa einem halben Jahr nahm sich seine Frau das Leben. Das hat seine Psyche wohl nicht ausgehalten. Leider wusste die Supervisorin, Frau Kader nichts davon. Aber sie merkte kleine Veränderungen. Mittlerweile beschreibt sie diese damit, dass er sich wohl seine eigene Realität schaffen musste, um nicht den Verstand zu verlieren. Nach Einsicht der Akten und unter Rücksichtnahme dieses Gespräches komme ich ebenfalls zu dem Schluss.“ Die beiden gingen weiter den Gang entlang.

Der Ermittler fragte nochmal nach: „Und die Amnesie von Alexander Kohler?“ – „Die gibt es nicht. Wie schon gesagt, Herr Doktor Resch musste sich seine Realität zurechtlegen. Die einzelnen Teilchen mussten zusammenpassen, wie in einem Puzzle. Jedenfalls bin ich froh, dass Sie rechtzeitig bei der Wohnung angekommen sind. Ich habe nämlich keinen Zweifel daran, dass er seine Pläne auch tatsächlich umgesetzt hätte.“

Alexander konnte nicht schlafen. Noch immer beschäftigten ihn die Geschehnisse der letzten Tage. Er stand noch einmal auf und ging hinüber zu dem Kinderbett, dass sie vorübergehend im Elternschlafzimmer aufgestellt hatten. Seine Tochter schlief tief und fest, sie hatte zum Glück nichts von den schrecklichen Geschehnissen mitbekommen.

Nach einem Glas Wasser ging Alexander wieder zu Bett. Er war froh, dass es seiner Frau soweit gut ging. Sie atmete ruhig und schlief friedlich neben ihm. Er musste an Martina Kader denken. Sie war zum Glück auch nur noch zur Beobachtung im Krankenhaus, die Verletzung würde keine bleibenden Schäden hinterlassen.

Irgendwann konnte auch Alexander endlich einschlafen. Doch diese Träume ließen ihn immer wieder aufschrecken.

Er sah in das friedliche, engelsgleiche Gesicht des kleinen Mädchens. Er spürte ihren ruhigen Atem auf seiner Haut und sah wie sich die Brust gleichmäßig hob und senkte. Aber heute war es noch nicht soweit. Der Plan war noch nicht ausgefeilt, er wusste noch nicht genau auf welche Weise er es diesmal tun wollte.

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