pre.juliaSophie

In einer nicht allzu fernen, vorstellbaren Zukunft

Freitag

16:24 Uhr

Sophie war gedanklich noch im Redaktionsmeeting, als sie auf dem Weg in ihre Wohnung den Briefkasten öffnete. Umso irritierter war sie, als ihr ein großer brauner Polsterumschlag entgegen fiel. Sie bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er auf dem Steinboden landete. Es gab keine äußerlichen Anzeichen woher der Umschlag kam, die Adresse war von Hand aufgetragen, außerdem ein Versandcode für die Post. Von einem Informanten? Unmöglich, die Privatadresse gab sie in solchen Fällen nie heraus. Ihre Aufmerksamkeit war geweckt und immer zwei Stufen nehmend eilte sie nach oben. Hektisch legte sie Tasche und Jacke ab. Dann nahm sie den Umschlag mit in die Küche und riss ihn auf. Ein Smartphone rutschte auf die hölzerne Arbeitsplatte. Ungeduldig schaltete sie es ein. Akku leer. Enttäuscht legte sie es auf die Ladestation auf einem Schränkchen in der schmalen Diele, vielleicht konnte es nach dem Neustart einen Hinweis auf seine Herkunft geben. 

So lange es lud, machte Sophie Kaffee. Das tat sie immer wenn sich ihr die Nackenhärchen aufstellten, weil sich eine gute Story abzeichnete. Als könnte sie damit die Ladezeit verkürzen, stellte sie sich in den Türrahmen und fixierte das fremde Gerät mit ihrem Blick. Es war Februar und die Dämmerung ging über in Dunkelheit. Sophie wandte sich gerade zum Lichtschalter um, da durchschnitt ein Signalton die Stille. Sophie zuckte zusammen und verschüttete heißen Kaffee auf ihre Hand. Das fremde Smartphone meldete, dass es wieder hochgefahren war. Hatte das Gerät darauf gelauert, sie zu erschrecken? Sie schob den Gedanken beiseite. 

Neugierig nahm sie den Fremdkörper in die Hand und der Startbildschirm leuchtete auf. Das Bild einer jungen Frau, sie kannte sie. Es zeigte sie selbst. Sie zögerte, spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Elektrisiert starrte sie auf das Bild und versuchte sich zu erinnern, wann es aufgenommen worden war. Wie besessen suchte sie es nach Hinweisen darüber ab. Durch die Beleuchtung wirkte es surreal. Sie musste seitlich am Fenster gestanden haben, vor dem etwas ein diffuses Lichtspiel erzeugt hatte, ein Baum im Wind. Seine Schatten hatten sich auf ihrem Gesicht und dem hellen Oberteil wiedergefunden. Hypnotisierend hielt ihr Foto-Ich ihrem Blick stand. In diesem Moment erfasste sie die Gesichtserkennung und mit der Meldung „Benutzer erkannt“ entsperrte sich das Gerät. Sophie erwachte aus ihrer Starre und warf es aus den Händen, so als wäre das Ding etwas abstoßendes, schädliches. Ein kalter Schauer erfasste sie. In der nächsten Sekunde trieb ein flirrender Ton ihre Anspannung weiter an. Eine Nachricht. Bevor Sophie das Gerät aufnehmen konnte, rasten weitere auf das Display. Sie öffnete den Chat und begann zu lesen.

16:30 Uhr 

von: Unbekannt

Hallo Sophie,

Schön, dass du eingeschaltet hast! Während du das Smartphone mit Hilfe der Gesichtserkennung entsperrt hast, wurde über einen optischen Upload ein Code an deine Iris gesendet und an dein Gehirn weitergeleitet.

Verschwende keine Zeit mit Fragen. Deine Zeit läuft, also erkläre ich dir, was du tun wirst.

Der Code wird dein Gehirn in den nächsten Stunden bis Mitternacht Schritt für Schritt zerstören. Gedächtnis, Emotionen, Bewegung, Körperfunktionen. 

Warum tut dir das jemand an? Ich helfe dir auf die Sprünge. Es geht um deinen Klinikaufenthalt auf Burg Eberstein. Im Anschluß hast du diesen Aufenthalt auf dem Bewertungsportal für Ärzte und Kliniken als „mangelhaft“ bewertet. Außerdem hast du ein kritisches Interview gegeben, das in den Suchanfragen inzwischen deutlich höher angezeigt wird als die Homepage von Burg Eberstein.

Mit diesen Aktionen hast du das Projekt gefährdet, der Behandlungsalgorithmus steht in Wissenschaftskreisen in der Kritik. Es melden sich immer weniger Probanden für das Programm an und der Algorithmus arbeitet suboptimal.

Du wirst den Behandlungsalgorithmus rehabilitieren, dazu löschst du die negative Bewertung und sorgst dafür, dass das Interview offline genommen wird. 

Sophie wartete einen kurzen Moment, ob noch Nachrichten dazukommen würden. Forschend blickte sie das Gerät an, ihr Foto lächelte zurück. Um sich aus der Anspannung zu lösen, tigerte sie nervös in der kleinen Diele auf und ab. Sie versuchte einzuordnen, ob es sich um einen geschmacklosen Scherz handelte oder ob sie die Klinik auf diese Art zu einer positiven Bewertung nötigen wollte. Sie fragte sich, ob sie in einem Albtraum gefangen war. Alles in ihr sträubte sich gegen diese Erpressung. „Verdammt!“, fluchte sie und massierte sich ihren kribbelnden Nacken.

Einem Impuls folgend nahm sie das fremde Smartphone, ihre Autoschlüssel und stürzte die Treppe hinunter in die Tiefgarage. Zur Klinik Burg Eberstein waren es bei gutem Verkehr etwa zwei Stunden Fahrt, jetzt, am Freitagabend würde sie eine halbe Stunde länger aus der Stadt heraus benötigen. Sie durfte keine kostbare Zeit verschwenden. 

Während sie fuhr, sah sie immer wieder auf das Display des Smartphones. Sie hatte die Signaltöne auf maximale Lautstärke eingestellt, um keine Nachricht zu verpassen. Trotzdem musste sie sich in regelmäßigen Abständen vergewissern, dass der Fahrtlärm nicht doch eine Kontaktaufnahme des Erpressers übertönt hatte. 

In der Zwischenzeit lief ihre Story wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab. Sie hatte seit dem tödlichen Autounfall ihrer Eltern vor sechs Monaten mit Depressionen gekämpft, kein Antidepressivum hatte angeschlagen. Nach einem gescheiterten Suizid-Versuch war sie in der Klinik auf Burg Eberstein gelandet, wo man sie schließlich als perfekten Teilnehmer für die PsychMed Studie identifizierte. Das PsychMed Institut der Klinik Burg Eberstein hatte sich darauf spezialisiert psychische Krankheiten nicht medikamentös, sondern technologisch zu behandeln. Der Kern der Behandlung sah vor, die Depressionen über ein temporäres Implantat via Software zu deinstallieren. Sophie war am ultimativem Tiefpunkt gewesen und daher ließ sie sich darauf ein. Ihre Schwester Lucia zeigte als Redakteurin im Wissenschaftsressort höchstes Interesse daran und wollte unbedingt einen Artikel darüber veröffentlichen. Dazu lieferte ihr Sophie Insiderwissen über Behandlungsmethode, Algorithmus, Stand der Forschung. Sophies Depressionen verschwanden, insofern war der Ansatz nicht erfolglos. Aber sie litt unter Nebenwirkungen, auf die man sie nicht hingewiesen hatte, weshalb sie die Behandlung im Nachhinein kritisch bewertete. Lucias Artikel mit Sophies Interview schlug in der wissenschaftlichen Community ein wie eine Bombe. Sie hatte zum richtigen Zeitpunkt ein neues Thema aufgegriffen und durch das Interview mit der authentischen Perspektive eines Patienten aufgewertet. Sophie überlegte fieberhaft welches Magazin Lucia danach abwerben wollte, konnte sich jedoch nicht mehr an den Namen erinnern. War dies bereits das Werk des Codes, der ihr ihre Erinnerungen nahm? 

Die letzten wenigen Kilometer folgte Sophie den Schildern, die zur Klinik führten. Ihr war heiß und ihr Kopf dröhnte von all den unbeantworteten Fragen. Sie fühlten sich an wie Pfeile, die ihr Ziel verfehlten und mit schmerzenden Stichen hinter ihrer Stirn abprallten. 

19:13 Uhr

Sophie hielt direkt vor dem Haupteingang der Klinik. Die Besuchszeit war vorüber, das Wochenende stand bevor und Burg Eberstein lag ruhig in der Dunkelheit. In nur wenigen Zimmern war Licht zu sehen. Sophie stieg aus und sog eifrig die kühle Februarluft ein, dann eilte sie auf das massive Gebäude zu.

Die Automatiktür des Besuchereingangs öffnete sich surrend und Sophie trat in die große Empfangshalle, die um diese Zeit von der Notausgangsbeschilderung beleuchtet wurde. Der Empfang war unbesetzt. Sie kannte den Weg in das Institut für PsychMed nur allzu gut und wusste auch, wie sie sich trotz der Uhrzeit als nicht authorisierte Person Zutritt verschaffen würde. Sie klingelte, wartete bis eine Stationsaufsicht nachsehen kam und verbarg sich im Treppenaufgang. Sobald die Aufsicht unverrichteter Dinge zurückging, blieben Sophie gut 20 Sekunden, um die nur langsam zufallende Tür aufzuhalten und selbst hindurch zu schlüpfen. Sie hatte diese Methode während ihres Aufenthaltes perfektioniert, wenn sie für Lucia wegen nächtlicher Rechercheaufträge heimlich im Haus unterwegs gewesen war. Jetzt musste sie sich nur noch in einen der beiden Behandlungsräume durchschlagen, die wie eine Mischung aus Serverraum und Büro aussahen, nicht wie ein medizinisches Behandlungszimmer. Dort würde sie an einem der Arbeitsplätze versuchen, sich in ihrem Gehirn einzuloggen und die schädliche Software zu entfernen. Der Plan war vage und unsicher, aber Sophies einzige Chance. Sie schlich sich in den ersten der beiden Räume, den sie erreichte. Ihr Herz pochte und das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie war vom Parkplatz aus gerannt und ihre Kondition nicht die beste. Zitternd schloss sie die Tür hinter sich.

„Hast du dich verlaufen?“ Sophie erstarrte, wie in Zeitlupe drehte sie sich zu der männlichen Stimme um, die von einem der Rechner aus zu kommen schien. Dahinter saß ein junger Mann im schwarzen Kapuzenpulli, der Sophie irgendwie bekannt vorkam. Sie konnte jedoch nicht einordnen, woher. Kein Arzt oder Mitarbeiter des Pflegepersonals, oder doch? Sie war so perplex um diese Zeit hier jemanden anzutreffen, dass die Zweifel an ihrer Mission, die sich seit der Autofahrt leise eingestellt hatten, lauter wurden. Für einen Sekundenbruchteil wog sie ab zu flüchten, aber dann hätte sie womöglich gar keine Chance gegen die Software in ihrem Kopf. Verzweifelt entschied sie sich für Angriff und ging auf den Unbekannten zu: „Du musst mir helfen. Mein Name ist Sophie und irgendjemand in dieser Klinik will mich umbringen, wenn ich nicht meine Bewertungen auf dem Ärzte und Klinikportal lösche.“ Noch während sie sprach kam es ihr vor, als hätte sie ihren Körper verlassen und würde sich von außen zuhören, so surreal war die Situation. „Bitte nicht“, stöhnte der Mann, „du bist die Irre mit dem Interview und dem Zeug. Weisst du wieviel Wirbel das hier gerade macht?“ Er rollte mit den Augen. „Sorry, aber ich muss den Sicherheitsdienst benachrichtigen. Du darfst dich hier nicht aufhalten.“ Sie stürzte sich auf seine Hand, als er sein Smartphone aufnahm, umklammerte sie und sah ihm in die Augen „Die Polizei wird mir nicht glauben, sie werden mich festnehmen und ich werde in…“, sie suchte seinen Bildschirm nach der Uhr ab, „Scheiße, weniger als drei, vier Stunden … nicht mehr leben.“ Als sie es aussprach, spürte sie, wie sich ihre wachsenden Zweifel manifestierten. Eindringlich schaute sie ihn an, Tränen der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen, ihre Atmung war stoßweise. 

Genervt schüttelte er den Kopf und atmete tief durch. „Ok, von mir aus, aber schnell. Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit. Was soll ich aufrufen?“ Sophie diktierte ihm mit belegter Stimme ihre Daten und er wählte sich in die Datenbank ein. Er scrollte durch die Einträge, anhand derer man nachvollziehen konnte, welche Aktionen an Sophies Gehirn vorgenommen worden waren. „Sieht alles ganz ok aus, wenn du mich fragst.“

Beide starrten gebannt auf die Liste mit den Einträgen, als das fremde Smartphone in maximaler Lautstärke eine Nachricht ankündigte. Sophie hielt den Atem an. Sie lauschten. Auf dem Gang waren deutlich Schritte zu hören. Die Gummiclogs des Pflegepersonals erzeugten auf dem Kunststoffboden ein Schrittgeräusch wie klebrige Sohlen. Es kam näher, verharrte. Sie wagten nicht sich zu bewegen. Wenn noch eine Nachricht einginge, säßen sie in der Falle. Sophie starrte mit weit aufgerissenen Augen zur Tür. Zwei, drei Sekunden vergingen, Sophie presste die Hand vor den Mund, um nicht vor Anspannung loszuschreien.  Adrenalin peitschte durch ihren Körper, ihr Puls vibrierte. Dann entfernten sich die Schritte. Sophie schnappte nach Luft als wäre sie unter Wasser gewesen. Fahrig regelte sie die Signaltonlautstärke herunter und öffnete die Nachricht.

20:18 Uhr

Von: Unbekannt

Clever, du versuchst dich ins System zu hacken. Doch dieser Plan wird nicht aufgehen, Sophie. 

 

Sie las die Nachricht mit heiserer Stimme vor. „Irgendjemand weiß, dass ich hier bin.“ Sie klappte den Laptop zu, nahm ihn und ging zur Tür. „Wir können hier nicht bleiben“, erklärte sie. Der Unbekannte zögerte. Sophie bemerkte es und wandte sich zu ihm: „Du kannst jetzt warten, dass sie dich hier finden und mit der Polizei abführen oder mir helfen mein Leben zu retten. Bitte.“ Er zuckte mit den Schultern, dann schnappte er sich seine Sachen und folgte Sophie nach draußen. Vorsichtig lotste er sie über die inzwischen ruhige Station bis zur Feuertreppe. Da einige Kollegen vom Pflegepersonal diese regelmäßig nutzten, um zu rauchen, war der Alarm der Tür dauerhaft deaktiviert. Sie hatten Glück, gerade war niemand zu sehen und sie schlichen unbemerkt hinaus und stiegen nach unten.   

Als sie sich gerade in Sophies Auto gesetzt hatten, bemerkten sie Blaulicht am Horizont, das immer näher kam. „Irgendwer hat die Polizei gerufen. Wenn die mitkriegen, dass ich Geräte mitgenommen habe, landen wir beide in U-Haft heute Nacht und dann kann dir und deiner Software niemand mehr helfen.“, maulte der Mann. Sophie startete den Wagen und trat aufs Gas. „Kannst du dafür sorgen, dass wir über den Firmenlaptop nicht geortet werden“, ihre Stimme war zittrig, der Schockmoment hallte noch in ihr nach. Er biss sich auf die Lippe und tippte wild auf dem Laptop herum. „Keine Ahnung warum ich das hier mache, aber ich bin gerade dabei. Für das Smartphone richte ich einen Störer ein, selbst wenn sie dahinter kommen, wird es uns zeitlich genügend Aufschub verschaffen, bis sie uns darüber orten können.“ Sophie fuhr die letzten Meter über den Parkplatz ohne Licht, dann nahm sie den holprigen Weg durch den Wald, ein Umweg, der sie wertvolle Zeit kostete. Aber über die Hauptzufahrt würden sie der Polizei direkt in die Arme fahren. Sie betete, dass der Waldweg zur Straße nicht blockiert war, sondern nur jene sichtbaren Einsatzfahrzeuge auf sie angesetzt waren. Sie folgten dem Weg bis sie zu einer Gabelung kamen, wo sie abrupt hielt. Der Fremde sah auf: „Was ist los?“ Sophie schüttelte mit dem Kopf, ihre Stimme klang schrill als sie antwortete: „Ich habe vergessen, wie es weitergeht, ich habe vergessen wo es zur Straße geht.“ Tränen stiegen in ihr auf, ihr Herz schlug bis zum Hals. „Das ist die Software, die mein Gehirn zerstört.“, flüsterte sie kaum hörbar. Er zeigte nach rechts und sobald sie die aufkeimende Panik heruntergeschluckt hatte, startete sie den Motor. Er sah nach vorn und sagte: „Ich bin dran, ok? Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren.“ Dann widmete er sich wieder dem Laptop. Sophie konzentrierte sich auf den Lichtkegel, den ihre Scheinwerfer in die Dunkelheit warfen. Es fiel ihr schwer, sich an den Weg zu erinnern also startete sie die Navigations-App und ließ sich anleiten. Um sich von den Gedanken, die chaotisch in ihrem Kopf pochten, abzulenken, fragte sie: „Warum hilfst du mir?“ Er schaute auf, zögerte. „Ich kenne deine du weißt schon, Lucia, ganz gut. Ich heiße übrigens Tobi.“ Sophie war überrascht, Lucia hatte ihr nie von Tobi erzählt. Oder hatte sie es vergessen? Er war ihr von Anfang an bekannt vorgekommen, aber die Nennung seines Namens hatte keine Erinnerung in ihr ausgelöst. Inzwischen konnte sie Dinge, die sie nicht wusste oder nicht mehr wusste, kaum noch voneinander unterscheiden. „Haben wir uns schon getroffen?“ Tobi sah nachdenklich zu ihr herüber. „Oh, ich weiß nicht, ob…“, er stockte und lenkte ab: „Hey, wir haben die Polizei abgehängt.“ Sophie ließ nicht locker: „Aber du weißt von mir?“ Tobi atmete tief durch und grinste, dabei schüttelte er leicht den Kopf: „Oh ja, ich weiß von dir.“ Sophie konnte Tobis Reaktion nicht einordnen, es wirkte, als wüsste er etwas über sie, dass ihn amüsierte.   

Freitag, 23:01 Uhr

„Verdammt!“, fluchte Tobi und stoppte damit Sophies Fahrt im Gedankenkarussell. „Der Algorithmus lässt sich nicht mehr stoppen.“, erklärte er seinen unvermittelten Ausbruch. Sophie fuhr an den Straßenrand. „Wie meinst du das?“, fragte sie während sich der kalte Februarabend von außen gegen ihr kleines Auto presste. Tobi war immer noch vertieft in den Code: „Du sagst, du hast Nachrichten bekommen?“ Sophie zeigte sie ihm auf dem Smartphone. „Ich sehe keinen Benutzer, der sich zuletzt eingeloggt hat. Es sieht so aus, als hätte der Algorithmus sich automatisiert an dich gewandt.“ Zwischen seine letzten Worte setzte er ungewöhnlich lange Pausen, so als würde er sie selbst nicht glauben. Das Grauen dieser Erkenntnis schlich sich mit jedem Atemzug näher an Sophie heran. Sie erschauderte. Wenn Tobi recht hatte, hing ihr Leben von einem Algorithmus ab, der sich an ihr rächen wollte. Und über den kein Mensch mehr Kontrolle hatte. „Was mach ich jetzt?“ flüsterte sie tonlos in die Nacht. „Tu was von dir verlangt wurde. Die Bewertungen gegen dein Leben.“, Tobi zuckte hilflos mit den Schultern. Zitternd nahm sie das Smartphone und öffnete die App des Bewertungsportals für Ärzte und Kliniken. Mit der Gesichtserkennung loggte sie sich binnen Sekunden ein. Sie löschte den negativen Eintrag, den sie über die PsychMed und Klinik Burg Eberstein abgegeben hatte. Als sie widerwillig die neue positive Bewertung eintippte, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Um sich wieder zu fangen, lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und schloß die Augen. Der schrille Alarmton des Smartphones beendete die kurze Verschnaufpause, eine neue Nachricht:

23:16 Uhr

Von: Unbekannt

Gut gemacht, Sophie! Jetzt fehlt nur noch der Artikel mit dem Interview. Noch 44 Minuten.

Sophie sah in Richtung des Smartphones und las die Nachricht. „Arschloch“, schnaubte sie verächtlich. Tobi nahm ihr das Smartphone ab und sah nachdenklich ihr Foto auf dem Startbildschirm an. „Schönes Foto“, kommentierte er. „Eine Scheiß-Falle.“ erwiderte Sophie bitter. Dann gab Tobi eine neue Adresse in die Navigations-App ein: „Wir fahren in die Redaktion, ich texte Lucia, uns dort zu treffen.“

Sophie hatte gehofft, dass sie sich sicherer fühlen würde, wenn sie aus dem dunklen Nichts der kahlen Februarlandschaft wieder die Lichter der Großstadt erreichten. Doch sie erkannte keine der Gebäude und Straßenzüge, an denen sie vorbei rasten. Sie fühlte sich verloren und deplatziert. Endlich erreichten sie die Tiefgarage des Redaktionsgebäudes. Sie rannten zum Aufzug, in dem Lucia bereits auf sie zu warten schien. Sophie berichtete hastig von dem Smartphone im Briefkasten, zeigte Lucia die Nachrichten und fasste die letzten Stunden seit ihrem Eindringen in die Klinik zusammen. Ihre Stimme wurde dabei immer hysterischer und schriller. Lucia sah sie mitfühlend an. Als sie eine Pause machte, um durchzuatmen, legte Lucia ihre Arme um sie und küsste ihre Stirn, eine seltene Geste zwischen den Schwestern. 

Der Aufzug erreichte das Stockwerk, in dem sie arbeiteten, und der emotionale Moment war vorbei. Lucia gab sich kämpferisch: „Da hat sich der Algorithmus mit den Falschen angelegt. Gut, dass ihr hierher gekommen seid.“ Sie rannte voran zu ihrem Schreibtisch. Die Redaktion war um diese Zeit menschenleer, nur die Notbeleuchtung und das Summen der Server erfüllten das Großraumbüro. Sie standen an Lucias Arbeitsplatz, laut überlegte sie: „Ich würde mir das Smartphone gerne mal etwas genauer ansehen, vielleicht lässt sich doch noch etwas herausfinden.“ Tobi reichte es ihr. „Dieser Code frisst gerade mein Gehirn auf, bitte unternehmt etwas, ich kann nicht mehr!“, bettelte Sophie. Es war das einzige, woran sie noch denken konnte. Der Algorithmus hatte ihr alles andere genommen. Nur die Angst war ihr geblieben, sie bestand nur noch daraus. Mit großen gläsernen Augen schaute sie abwechselnd von Lucia zu Tobi. Nach einer Pause fügte sie mit rauer Stimme hinzu: „Es frisst mich auf.“ In diesem Moment meldete sich das Smartphone, eine neue Nachricht:

 

23:50 Uhr

Noch zehn Minuten, Sophie.

Ein Timer sprang an, sie schauten wie paralysiert darauf. Dann gab Lucia es zurück an Tobi, loggte sich ins Redaktionssystem ein und nahm den Artikel mit dem Interview über den PsychMed Algorithmus offline. Tobi lehnte sich erleichtert auf seinem Stuhl zurück. Der Signalton erklang, eine weitere Nachricht:

23:51 Uhr

Von: Unbekannt

Sehr gut, Sophie. Schade, dass du nicht etwas schneller reagiert hast, dann würde es dir jetzt besser gehen.

Für einen Moment herrschte Stille. Dann durchschnitt hysterisches Lachen den Raum. Sophie drehte sich auf Lucias Drehstuhl um, sie wirkte wächsern und hohl. Ihr Blick war ins Ungewisse gerichtet, nur ihr verstörendes Lachen wies darauf hin, dass sie noch am Leben war. Lucia und Tobi sahen sie verängstigt an. Dann durchbrachen sie ihre Starre und rollten Sophie mit dem Schreibtischstuhl in Richtung Aufzug. Sie mussten sie so schnell wie möglich in die Klinik bringen, um ihr Leben zu retten. Doch sie kamen nicht weit. Als sich die Türen des Aufzugs öffneten, stürmten Polizisten, Wachleute des Redaktionsgebäudes und medizinisches Personal der Klinik heraus auf sie zu. Ein Mann im Anzug? Der Leiter des PsychMed Instituts? Sophie wurde zu Boden gerissen und alles um sie herum verschwand. Stimmengewirr. Stille. Die kalte schwarze Februarnacht hatte sie verschlungen.

Samstag

00:00 Uhr

Happy Birthday to you! Happy birthday to you! Happy birthday liebe Sophie, happy birthday to you! Applaus. Musik. 

Sophie öffnete irritiert die Augen, sie blinzelte und da standen sie: Tobi, ihre Schwester Lucia, ihre Freunde und die Kollegen aus der Redaktion. Der vermeintliche Institutsleiter im schwarzen Anzug entpuppte sich als Moderator und schrie durch ihre kreischenden Freunde hindurch: „Das war ein Geburtstagsevent von PsychGAMES! Wir hoffen, wir konnten ihre schlimmsten Träume wahr werden lassen“. 

Sophie brauchte einen Moment, um zu realisieren was passiert war. Währenddessen sahen sich die Partygäste grölend die Ausschnitte von ihrem emotionalem Höllentrip an. Das Smartphone hatte Videoaufnahmen gespeichert sobald Sophie Augenkontakt hatte. Sie lehnte etwas abseits im Türrahmen und beobachtete die Gesichter ihrer Gäste. 

00:32 Uhr 

Nachdem er die Videosequenzen gezeigt hatte, bat der Spielleiter Sophie ihn zum Ausgang zu begleiten. Zum Paket gehörte eine App, mit deren Hilfe sie später ihre Psyche updaten sollte, um Folgeschäden wie Angststörungen zu vermeiden. „Es sei denn, Sie möchten das.“ Er zwinkerte ihr zu, „Einige Kunden von uns…“, Sophie unterbrach ihn: „Wie funktioniert es?“ Er sah sie vielversprechend an „Natürlich können wir nicht die Grundlage unseres Geschäftes preisgeben, aber sagen wir, das meiste tun Sie selbst. Wir triggern akustisch und optisch durch das Gerät, das Sie erhalten haben, was bereits in Ihnen steckt. Albträume, Ängste usw. – der Algorithmus kreiert daraus ihren individualisierten Albtraum, inklusive passende körperliche Reaktionen.“ Und nach einer kurzen Pause ergänzte er nachdenklich: „Wenn Sie mich fragen, da wollte Sie jemand mit Nachdruck überraschen.“ Das Wort überraschen setzte er dabei verschwörerisch mit seinen Fingern in Anführungszeichen. Dann gab er ihr das Smartphone zurück: „Die PsychCleaning App ist installiert.“ Nachdenklich drehte sich Sophie zum Gehen, dann zögerte sie und wandte sich noch einmal um: „Haben Sie eine Karte?“ Er lächelte: „Kontaktdaten finden Sie in der App.“ Sophie las: PsychGAMES – echte Spannung, echte Angst, echte Emotionen. „Sie werden von mir hören“, rief sie ihm nach. Dann schlossen sich die Türen des Aufzugs und er fuhr nach unten. Sophie zog eine Augenbraue nach oben, dann lächelte sie und tanzte mit leichten Schritten zurück zu ihrer Party.   

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