ElinaStigma

„Legen Sie die Waffe runter“, schrie die junge Polizistin laut genug, sodass ihre Worte an den Wänden abprallten und in der großen Tiefgarage widerhallten.
Ihre eigene Pistole hielt Monica auf den Mann keine zehn Meter von ihr entfernt gerichtet, der mit dem Rücken zu ihr stand und ein Messer in der Hand hielt.
Obwohl sie die Situation nervös machte, blieb ihre Stimme fest.
„Legen Sie das Messer weg, habe ich gesagt, und zwar sofort!“ Sie wurde drohender, während sie langsam auf den Mann zuschritt. Hinter sich konnte sie die Schritte ihres Kollegen hören, machte jedoch nicht den Fehler sich umzudrehen, sondern hielt den Blick starr auf ihr Ziel gerichtet.
Sie hatten es mit einem Autodieb zu tun und die Polizei war schon eine ganze Weile hinter dem Kerl her, aber ihn zu schnappen war schwieriger als gedacht, denn der Typ hatte es geschafft sogar sein Gesicht vor den Behörden zu verbergen. Zumindest bis jetzt.

Die Anspannung lag drückend in der Luft. Monica trennten nur noch wenige Schritte von dem Mann, der sich noch immer nicht gerührt hatte.
„Ich komme jetzt zu Ihnen, aber wagen sie es ja nicht auf dumme Ideen zu kommen, ich habe eine Pistole in der Hand und…“ Bevor sie ihren Satz beenden konnte drehte der Mann sich zu ihr um. Ein dreckiges Lächeln zog sich über seine Lippen und offenbarte eine Reihe gelbstichiger Zähne.
Sie erstarrte. Die sicheren Züge, die sie wie eine Maske über dem Gesicht trug entglitten ihr und sie blickte den Mann erschrocken an, unfähig sich zu bewegen.
Sie kannte dieses Gesicht.
Sofort blitzte das Bild ihrer kleinen Tochter vor ihrem inneren Auge auf. Leah war gerade einmal vier Jahre alt geworden.
Und dieser Mann war verantwortlich für ihren Tod gewesen.
Sie hätte ihn unter tausenden wiedererkannt, als hätte sich seine hässliche Fratze tief in ihr Gedächtnis gebrannt.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Das konnte nicht wahr sein.
All die Gefühle, die sie seit dem Tag des Unfalls beiseitegeschoben hatte trafen sie mit voller Wucht, rissen sie beinahe von den Füßen.
„Wie…“, stammelte sie vor sich hin.
Nie hatte sie sich gefragt, was passieren würde, wenn sie dem Mörder ihres Kindes noch einmal gegenüberstehen würde, aber jetzt wusste sie es.
„Monica, geht es dir gut?“ Die Stimme ihres Kollegen drang zu ihr durch, aber sie ignorierte ihn.
Und noch bevor sie überhaupt realisierte, was sie da tat hatte sie bereits den Abzug ihrer Pistole heruntergedrückt.
Ein Schuss löste sich, wie in Zeitlupe zerschmetterte die Kugel die Luft und traf ihren Gegenüber mitten in die Brust.
Sie konnte ihren Blick nicht von ihm lösen, sah wie das Lächeln auf seinen spröden Lippen erstarb und erst als der Mann zu Boden ging nahm sie die Welt um sich herum wieder wahr.
„Monica!?“ Sie wurde hart an der Schulter gepackt und herumgerissen, sodass sie in das erschrockene Gesicht ihres Kollegen blickte. Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.
„Was hast du getan?“
Sie musste nicht einmal ein Hüter des Gesetzes sein um zu wissen, dass das, was sie gerade getan hatte gegen alle Regeln verstoßen hatte, aber sie war keine Mörderin.
Sie hatte einen Mann erschossen, der den Tod verdient hatte.
Sie war unschuldig.
Dass sie weinte bemerkte sie erst, als ihr die Tränen vom Kinn herabtropften.
Sie drehte sich um, sah zu dem toten Körper nur wenige Meter vor ihr, aber sie weinte nicht um ihn, sondern um Leah. Ihre Tochter, die vor so langer Zeit bei einem Unfall ums Leben gekommen war.
Und genauso würde das hier auch immer ein Unfall bleiben.
Denn sie war keine Mörderin, sie war unschuldig.

 

 

5 Jahre später…

Es war noch früh am Morgen als Monica von der Nachtschicht nach Hause kam. Die kleine Wohnung, in der sie nun schon seit ein paar Jahren lebte war nur ein paar Blocks von dem Präsidium entfernt, aber nach den zähen Nächten fühlte sich die Strecke wie ein endloser Fußmarsch an.
Sie hatte noch nie gerne in der Nacht gearbeitet, aber sie war auf die Schichtzulagen angewiesen, also hatte sie keine andere Wahl.
Die Müdigkeit zerrte an ihr, als sie endlich den Eingang des großen Mehrfamilienhauses erreichte. In Gedanken lag sie schon längst in ihrem Bett.
An der Reihe von Briefkästen im Flur hielt sie kurz inne. Es war eine Gewohnheit nach dem kleinen Schlüssel zu kramen und den Kasten mit ihrem Namen zu öffnen, auch wenn sie nur selten Post bekam und wenn, waren es nur Rechnungen. Umso verwunderter war sie jedoch, als sie ein kleines Päckchen entdeckte. Hatte sie etwas bestellt?
Nein, dass sie im Internet einkaufte geschah nur selten, sie hatte ja noch nicht einmal einen Account auf Amazon.
Sie griff nach dem Päckchen, dass schwerer war, als sie erwartet hatte und suchte nach einem Absender, aber da war nichts. Eigenartig.
Sie runzelte die Stirn, nahm das Päckchen mit und schleppte sich hinauf in den dritten Stock. In der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung angekommen schmiss sie Jacke und Tasche achtlos in den Flur bevor sie langsam begann das Päckchen aufzureißen. Jetzt war ihre Neugierde geweckt. Es brauchte noch nicht einmal ein Messer um den Klebestreifen, mit dem es verschlossen wurde abzukratzen.
Behutsam schüttete sie den Inhalt auf den Küchentisch.
Ein Handy.
Es sah noch neu aus, glänzte mattschwarz und auf dem dunklen Bildschirm spiegelte sich ihr verwirrtes Gesicht.
Warum schickte ihr jemand ein Handy? Vorsichtig fuhr sie mit dem Finger über den Bildschirm und als sie den Home-Button berührte leuchtete das Gerät hell auf. Die Frontkamera erkannte ihr Gesicht und das Smartphone entsperrte sich.
Sie legte die Stirn in Falten. Die Müdigkeit war mittlerweile in den Hintergrund gerückt. Das Gerät hatte mehrere vorinstallierte Apps, denen sie kaum Beachtung schenkte. Viel mehr interessierte sie das kleine, blinkende Symbol in der unteren Ecke. Sie hatte eine neue Nachricht. 
Das Fenster ließ sich öffnen und sie gelangte auf einen Chatverlauf. Kein Absender, nur eine anonyme Nummer.
>ICH KENNE DEIN GEHEIMNIS< Stand dort in Großbuchstaben.
Dann folgten Bilder, viele Bilder. Fotos von ihr beim Einkaufen, Bilder von ihrer Wohnung, die eindeutig durch das Fenster geschossen wurden und Aufnahmen von ihr auf der Wache.
Vor Schreck ließ sie beinahe das Handy fallen.
Da stalkte sie jemand.
Sie scrollte weiter nach unten.
>ICH WEIß, DASS DU IHN UMGEBRACHT HAST UND DU WIRST DAFÜR BÜßEN! <
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie die letzte Nachricht von Unbekannt las. Ohne, dass sie es verhindern konnte machte sich die Panik in ihr breit. Das konnte gar nicht wahr sein, redete sie sich ein, keiner wusste davon, aber ihre Worte beruhigten sie nicht. Da war ihr jemand auf die Schliche gekommen.
Ihr Atem wurde schneller, flacher. Plötzlich waren da so viele Emotionen, dass sie selbst nicht mehr wusste, wie ihr geschah.
Angst, Ratlosigkeit und Wut, über sich selbst und den Unbekannten, der ihr auf die Schliche gekommen war. Sie war Polizistin, praktisch dazu ausgebildet mit schwierigen Situationen umzugehen, aber im Moment war es, als wäre alles, was sie in den vielen Jahren im Dienst gelernt hatte wie entfallen. Stattdessen herrschte die Panik in ihr.
Sie brauchte einen Plan, sofort, doch ihr wollte einfach nichts einfallen.
Sie musste hier weg. Zumindest bis sie eine bessere Lösung gefunden hatte. Denn wenn jemand wusste, dass sie einen Mann getötet und es wie einen Arbeitsunfall aussehen lassen hatte war es nur eine Frage der Zeit bis die Behörden davon Wind bekamen. Dann war sie nicht nur ihren Job los, sondern auch ihre Freiheit. Und das für eine ganze Weile.
Aber das würde sie nicht zulassen, sie würde verschwinden bevor sie gefunden werden konnte, und das am besten sofort.
Sie hoffte inständig, dass nicht schon längst ein Streifenwagen auf dem Weg zu ihrer Wohnung war, während sie panisch versuchte eine Lösung zu finden.
Doch wo sollte sie hin? Sie hatte ja noch nicht einmal ein Auto.
„Ahgggg!“ Es war aussichtslos. Wütend schmiss sie das Smartphone gegen die Wand. Es landete mit dem Bildschirm nach oben auf dem Boden. Das empfindliche Glas hatte einen hässlichen Riss bekommen, aber kaputt war das Ding noch lange nicht.
Sie versuchte sich zu beruhigen, wollte ihre Möglichkeiten in Betracht ziehen, aber sie hatte keine.
Bis ihr eine Idee kam. Sie hatte kaum Familie und mit ihrer Mutter war sie schon lange zerstritten, aber wenn sie dringend weg musste war das vielleicht ihre einzige Möglichkeit. Ihr Stalker würde sie sicher nicht bis hinauf in den Norden, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, verfolgen, und wenn sie Glück hatte würde ihre Mutter nicht nur eine Entschuldigung annehmen, sondern sie wäre dort auch vorerst in Sicherheit.
Die Idee stand auf wackligen Beinen, aber für den Moment musste es genügen. Sie klammerte sich daran.
Also kramte sie ihr eigenes Telefon aus der Handtasche und tippte mit zittrigen Händen auf den einzigen Kontakt, den sie unter den Favoriten eingespeichert hatte.
„Monica?“, meldete sich die nur allzu bekannte Stimme nach dem zweiten klingeln.
„Tim, ich brauche deine Hilfe.“

Eine knappe halbe Stunde später hielt das Auto ihres besten Freundes vor dem Eingang des Mehrfamilienhauses. Sie hatte nicht viel Zeit gehabt, gerade genug um ein paar Sachen in die dunkle Sporttasche zu packen. Das musste reichen.
Gerade als sie die Wohnung verlassen wollte leuchtete der Bildschirm des fremden Smartphones erneut auf. Es lag noch immer auf dem Boden.
> DU KANNST NICHT FLIEHEN! < Eine weitere Nachricht ihres Stalkers. Sie wollte die Worte ignorieren, konnte es aber nicht verhindern, dass ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Die Situation war mehr als nur bizarr.
Dann zog sie sich die Kapuze ihres dunklen Sweatshirts tiefer ins Gesicht und schlug die Tür hinter sich zu. Das Handy ließ sie liegen.

Tim wartete in dem alten Ford, den er direkt vor der Eingangstür abgestellt hatte.
Monica und er kannten sich noch nicht allzu lange. Sie hatten sich kurz nachdem sie in die Stadt gezogen war in einer Bar getroffen und nach der darauffolgenden gemeinsamen Nacht entschieden, dass es wohl besser war, wenn sie es bei Freundschaft beließen.
Monica vertraute ihm. Sie hatte nie viele Freunde gehabt, aber er war anders, das spürte sie.
Er hatte nicht viele Fragen gestellt, als sie ihn darum gebeten hatte ihr zu helfen die Stadt zu verlassen, und sie war ihm dankbar dafür.
„Danke, dass du gekommen bist“, sagte sie als sie die Beifahrertür öffnete und sich in das Auto quetschte. Die dunkle Sporttasche warf sie auf die Rückbank.
„Du musst dich nicht bei mir bedanken. Es ist selbstverständlich, dass ich dir helfe.“ Er drehte sich zu ihr. Ein Schwall brauner Ringellocken quoll aus der Beanie, mit der er versuchte seine wilde Frisur zu bändigen, und fiel ihm über die Stirn. Er hob die Hand und zog ihre schwarze Kapuze ein Stück nach hinten, sodass er ihr Gesicht sehen konnte.
„Was ist passiert?“ fragte er sanft. „Du bist ganz blass.“ Seine Stimme war wie Honig, süß und warm und der Klang seiner Worte fühlte sich so vertraut an.
Zaghaft schüttelte Monica den Kopf.
„Ich habe einen Fehler gemacht.“ Und damit meinte sie nicht die Tatsache, dass sie einen Mann getötet hatte. Eher war es ein Fehler gewesen sich dabei erwischen zu lassen, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, wie es überhaupt möglich war dahinter zu kommen. Es war ein Arbeitsunfall gewesen.

„Kannst du mich zum nächsten größeren Bahnhof fahren?“
„Und dann? Wo willst du bitte hinfahren?“
Sie seufzte. „Ich muss hier weg, zumindest vorerst. Ich bin im Norden aufgewachsen und meine Mutter lebt noch immer dort. Bei ihr kann ich erst einmal bleiben.“
Sein Blick lag noch immer auf ihr und er nickte nachdenklich.
„Gut, dann bringe ich dich zu ihr.“
Sie benötigte ein paar Sekunden um zu verstehen, was er da gerade gesagt hatte.
„Warte, aber…“
„Keine Widerrede!“, unterbrach er sie. Seine Lippen verformten sich zu einem warmen Lächeln und sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie dahin geschmolzen war, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte. „Ich bin nicht blind. Du bist auf der Flucht vor irgendetwas und ich lasse dich so ganz sicher nicht alleine.“
Sie schloss die Augen, nur für einen kurzen Moment. Das war mehr Zuneigung, als sie verdient hatte.
„Danke“, flüsterte sie und auch wenn sie es nicht sah, konnte sie spüren wie seine Mundwinkel noch ein Stück höher rutschen.
Womit hatte sie jemanden wie ihn nur verdient?

Die nächste Stunde herrschte eine angenehme Stille in dem kleinen Auto. Wieder und wieder ging Monica in Gedanken das Geschehene durch. Es war so surreal.
Jemand war dahintergekommen, dass ihr vermeintlicher Arbeitsunfall nie ein tragisches Unglück gewesen war und jetzt drohte ihr dieser anonyme Stalker mit seinem Wissen.
Aber wusste er auch, dass dieser Mann, den sie umgebracht hatte, selbst ein Mörder war? Und ein gesuchter Autodieb?
Also hatte sie der Welt eher einen Gefallen getan, indem sie ihn erschoss. Sie war Polizistin, verantwortlich für die öffentliche Sicherheit, und in dem sie Leute wie ihn aus dem Weg schaffte, gewährleistete sie doch die Sicherheit der Bevölkerung, oder etwa nicht?
Und trotzdem durfte das alles nicht herauskommen.
Nur, erschloss sich ihr noch nicht, welches Ziel der anonyme Stalker verfolgte. Kein Täter handelte ohne Motiv, doch was brachte es ihm, wenn er sie hinter Gitter brachte?
Sie wusste nicht, ob das für sie überhaupt eine Rolle spielte, schließlich musste sie eher eine Möglichkeit finden den Unbekannten zum Schweigen zu bringen, aber diese Frage ließ sie trotzdem nicht los.
Die wirren Gedankenschlieren wurden zu dichtem Nebel und sie verlor sich so sehr darin, dass sie gar nicht bemerkte, wie sie die Augen schloss und erst als sie mit dem Kopf hart gegen die kühle Fensterscheibe prallte realisierte sie, dass sie wohl weggedämmert sein musste.
Sofort war sie wieder hellwach.
„Wie lange habe ich geschlafen“, fragte sie während sie müde die Augen auf blinzelte. Sie hörte Tim leise lachen.
„Keine Sorge, du hast nichts verpasst.“
Sie nickte matt und rieb sich mit dem Handrücken über die Lider. Neben ihr räusperte sich Tim, seine Miene wurde ernster.
„Weiß er, dass du auf der Flucht bist?“ Er redete von dem Unbekannten, ihrem Stalker. Monica zögerte und nickte erneut. „Ich denke schon.“
„Bist du bei deiner Mutter überhaupt sicher? Was, wenn du weiterhin in Gefahr schwebst?“
Sie ignorierte diesen Gedanken. Tims Zweifel waren logisch, aber ihr war die Lust vergangen sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen.
„Ich weiß es nicht“, murmelte sie vor sich hin. Dann wurde sie stutzig. Sie hatte Tim nichts von dem anonymen Verfolger erzählt. Er konnte gar nichts von dem Handy wissen, oder davon, dass sie jemand stalkte.
Sie hatte nicht darüber gesprochen. Ganz sicher.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie begann eins und eins zusammenzählen.
Sie hatte mit niemandem über das Handy gesprochen.
Tim wusste von ihrem Stalker.
Ihr wurde übel. Nein, das konnte nicht sein. Sie vertraute Tim, sie kannte ihn, niemals konnte er hinter all dem stecken.
Verdammt, das durfte einfach nicht sein!
Aber hatte er sich nicht gerade selbst verraten?
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, so schnell, dass ihr davon schwindelig wurde und alles kreiste um diese eine Frage.
Konnte Tim es gewesen sein? Ihr bester Freund?
Und vermutlich auch ihr einziger.
Auf einmal war es viel zu heiß in dem kleinen Innenraum des Autos, und das trotz der kühlen Luft, die ihr die Klimaanlage ins Gesicht bließ.
Monica wagte es einen kurzen Seitenblick zu ihrem besten Freund zu werfen. Er sah konzentriert auf die Straße, die markanten Züge wirkten entspannt, nirgends ein Anzeichen, das darauf hindeutete, dass er in Wahrheit der sein konnte, der sie zu dieser Flucht getrieben hatte.
„Kannst du an der nächsten Raststätte anhalten?“, fragte sie, bemüht, ihre Stimme normal klingen zu lassen. „Ich muss mal auf die Toilette.“
„Klar.“ Er hatte nicht mitbekommen, wie angespannt sie plötzlich war. Oder er konnte es gut verbergen. Monica hoffte, dass dem nicht so war, aber ihre plötzliche Erkenntnis ließ sie panisch werden.
Sie brauchte einen Plan. Zum zweiten Mal an diesem Tag.
Ganz sicher würde sie nicht ins Gefängnis gehen und erst recht nicht, weil Tim hinter ihr Geheimnis gekommen war. Denn egal wie viel ihr dieses verdammte Leben noch nehmen wollte, wenn es sich sogar ihre Tochter gestohlen hatte, ihre Freiheit ließ sie sich nicht entreißen.
Nur über ihre Leiche.

Wenige Minuten später lenkte Tim den Wagen auf den Parkplatz einer nichtssagenden Autobahnraststätte.
Das war ihre Gelegenheit, sagte sie sich.
„Ich warte hier auf dich.“
Monica versuchte sich nichts anmerken zu lassen, als sie mit zitternden Händen die Tür aufdrückte.
„Kein Problem, ich beeile mich.“ Sie stieg aus und bahnte sich einen Weg durch die parkenden Autos. Sie kämpfte gegen das Verlangen an einfach über den Parkplatz zu rennen, nur weg von hier, aber das wäre zu auffällig gewesen.
Die Raststätte umfasste eine Tankstelle, ein schäbiges Schnellrestaurant und ein Kiosk. Sie stieß die breite Glastüre auf und sofort stieg ihr der Geruch von Frittierfett und Fertigessen in die Nase. Ein großes Schild, dass auf die Toiletten aufmerksam machte, zeigte nach links, aber sie bog nach rechts und steuerte den kleinen Minimarkt an. Die Auswahl war nicht groß und nervös lief sie die wenigen Regale ab, ohne zu wissen, nach was sie überhaupt suchen sollte.
Schließlich griff sie nach einer Bierflasche aus dem Kühlregal, kramte nach dem bisschen Kleingeld, dass sie in die Tasche ihres Kapuzenpullis gesteckt hatte und ging zur Kasse.
Ihre Idee war nicht gut und sie wollte gar nicht darüber nachdenken, ob das Ganze funktionieren würde. Das hier war ihre einzige Chance.
Denn wenn Tim wirklich hinter alles gekommen war, musste sie einen Weg finden ihn zum Schweigen zu bringen. Eine andere Wahl hatte sie nicht.
Ihr Herz schlug viel zu schnell gegen ihren Brustkorb als sie sich auf den Weg zurück zum Auto machte. Der Mittag brach gerade erst herein, doch auf dem Parkplatz befand sich außer ihr niemand. Sie behielt Tim durch die Fensterscheibe im Blick während sie sich langsam dem Wagen näherte und betete, dass für die nächsten Sekunden niemand auf den Parkplatz kommen würde. Das Imbissrestaurant war zu weit weg, als dass einer der Gäste sie sehen konnte, das redete sie sich zumindest ein.
Tim hatte sein Handy in der Hand und sah konzentriert auf den Bildschirm, sodass er sie nicht bemerkte, als sie näherkam. Dass war ihre Chance.
Blitzschnell riss sie die Fahrertüre auf und bevor ihr bester Freund die Gelegenheit hatte aufzusehen zog sie ihm die volle Bierflasche über den Kopf. Es klirrte unangenehm und Tim gab ein erschrecktes Stöhnen von sich während er zusammenbrach. Sie war selbst ein wenig überrascht zu sehen, wie einfach es ihr gefallen war, ihn nieder zu schlagen. Natürlich war er nicht tot, nur bewusstlos, und das sicher auch nicht allzu lange. Sie musste sich also beeilen. Ächzend hievte sie ihn auf die Rückbank, wobei sie immer wieder zu Fluchen begann. Er war schwerer als erwartet.
Nur leider fehlte ihr etwas um ihn zu fesseln. Ihr Blick fiel auf den Gurt, aber sofort verwarf sie den Gedanken wieder. Sie brauchte eine bessere Lösung. Also lief sie um das Auto herum und öffnete den Kofferraum. Vielleicht würde sie dort etwas brauchbares finden. Und tatsächlich stieß sie auf einen Jutebeutel, den Tim in der hintersten Ecke verstaut hatte. Darin befand sich nicht nur ein Prepaid-Handy, sondern auch eine Pistole. Sie bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken daran, dass er diese Pistole vermutlich wegen ihr dabeihatte. Und sie hatte ihm tatsächlich vertraut.
„Dann drehen wir den Spieß eben um“, murmelte sie vor sich hin während sie nach der Pistole griff, den Kofferraum wieder schloss und es sich auf dem Fahrersitz gemütlich machte. Dass das Polster von dem Bier durchtränkt war, störte sie genauso wenig wie der Geruch, der sich nun in dem gesamten Innenraum ausgebreitet hatte.
Sie schmiss die Waffe auf den Beifahrersitz, drehte den Schlüssel in der Zündung und startete den Wagen.
Gerade als sie zurück auf die Autobahn gefahren war hörte sie, wie Tim hinter ihr langsam wieder zu sich kam.
Sie warf einen knappen Blick nach hinten.
„Wage es ja nicht dich zu rühren. Wenn du versuchst mich anzugreifen und ich einen Unfall baue, sind wir beide erledigt. Und dazu habe ich dein kleines Spielzeug gefunden.“ Zum Beweis hielt sie die Pistole in die Höhe, wobei sie den Lauf direkt auf Tim richtete. Ihre Stimme war eiskalt und sie konnte nicht verhindern, dass sich ihr ein schmales Lächeln auf die Lippen drängte. Die Situation hatte etwas seltsam Befriedigendes an sich.
Sie setzte den Blinker und nahm die Ausfahrt von der Autobahn. Zwar wusste sie nicht wirklich, wo sie überhaupt hinwollte, aber sie war sich sicher, dass es einfacher wäre Tim im Auge zu behalten, wenn sie nicht ihre ganze Konzentration dazu benötigte die Straße im Blick zu behalten.
„W… Wie…hast du…?“, ächzte Tim. Das er Schmerzen hatte war unüberhörbar. Geschah ihm Recht.
„Wie ich herausgefunden habe, dass du derjenige warst, der mir das Handy zugeschickt hat?“ Sie stieß ein freudloses Lachen aus. „Vielleicht hättest du besser auf deine Wortwahl achten sollen.“ Über den Rückspiegel beobachtete sie, wie er sich den Kopf rieb. Blut tropfte ihm aus der Nase. Anscheinend hatte ihr Schlag gesessen und ein wenig erfüllte sie der Gedanke mit Genugtuung.
Tim hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich im Spiegel.
„Du bist verrückt.“ Es war eine Feststellung.
„Das sagt ja der Richtige.“
Die Gegend, in der sie sich nun befanden wurde ländlicher und es kamen ihnen immer weniger Autos entgegen.
„Du hast mich gestalkt, mir Nachrichten auf ein Handy gesendet, dass du mir heimlich zugeschickt hast. Und ich dachte tatsächlich ich könnte dir vertrauen – ich habe es sogar getan!“ Sie spuckte ihm die Worte geradezu entgegen. „Du Arschloch!“
„Du hast meinen Vater umgebracht“ Tims Augen verengten sich. „Und mir war von Anfang an klar, dass das kein Arbeitsunfall war. Aber du bist damit durchgekommen, mit deiner dreckigen Masche und bist noch nicht einmal auf Bewährung, obwohl du dafür für den Rest deines Lebens eingesperrt gehörst.“
Monica brauchte einen Moment um seine Worte auf sich wirken zu lassen. War der Mann, den sie vor fünf Jahren erschossen hatte Tims Vater gewesen?
„Dann hast du es von Anfang an nur darauf abgesehen dich an mir zu rächen?“ Dieser Gedanke machte sie wütend. „Zwei Jahre lang, in denen du es geschafft hast mein engster Vertrauter zu werden, hast du mich einfach nur belogen? Du Miststück!“
Ihr Blick zuckte zu der Pistole und für den Bruchteil einer Sekunde kam dieses Verlangen nach Vergeltung, dass sie auch schon damals, fünf Jahre zuvor verspürt hatte, erneut in ihr hoch. Sie schob die Wut zur Seite und bog von der Landstraße auf einen Kiesweg, der an einem Feld entlangführte. Nach der Pistole griff sie rein aus Vorsicht, zumindest in ihrer Vorstellung, während sie Tim weiterhin über den Rückspiegel im Blick behielt.
„Ich habe die ganze Zeit gewusst, dass du ihn ermordet hast, aber ich kannte dein Motiv nicht, bis ich auf die Verbindung zu deiner Tochter gestoßen bin.“ Monica zuckte zusammen, als er Leah ansprach. Sofort sah sie das Gesicht ihres kleinen Mädchens vor sich, ihr Lächeln und die hellen blonden Haare, die sie eindeutig von ihrer Mutter hatte. Und die Erinnerung an sie ließ ihren Zorn nur noch weiterwachsen.
„Ein vierjähriges Mädchen, dass bei einem tragischen Unfall ums Leben kam“, sprach er weiter. „Sie sprang auf die Straße, leichtsinnig und unvorsichtig und dabei wurde sie von einem Raser erwischt. Der Wagen war gestohlen und der Mann hinter dem Steuer war mein Vater. Er hat einen großen Fehler begangen, indem er sofort von dem Unfallort geflohen war während das kleine Mädchen noch am selben Tag starb. Doch in Wahrheit trug er nicht die alleinige Schuld an dem Tod des Mädchens, sondern genauso die Mutter, die ihr Kind nur einen Moment aus den Augen gelassen hat während…“
„Halt den Mund!“, schrie Monica. Er musste aufhören, sofort. Ihre Stimme wurde hysterisch. Das konnte sie sich nicht anhören, und das wollte sie auch gar nicht. Abrupt trat sie die Bremse durch, sodass sowohl Tim als auch sie mit voller Wucht nach vorne geschleudert wurden während der Wagen zum Stehen kam. Sie hatte das Glück, dass der Gurt sie abbremste wogegen Tim mit einem Dumpfen Knall gegen die Vordersitze prallte. Schützend hielt sie die Pistole vor sich als er sich erstaunlich schnell wieder aufrappelte. Aus seiner Nase quoll ein weiterer Schwall Blut, den er mit dem Handrücken verwischte. Nun war ihm auch noch die Lippe aufgeplatzt.
Er sah grauenvoll aus, doch trotzdem gelang es ihm den Mund zu einem kleinen, warmen Lächeln zu formen. Aber davon würde sie sich nie wieder um den Finger wickeln lassen.
Monicas Hände zitterten während sie den Lauf der Pistole immer noch auf ihn richtete, aber Tim ließ sich davon kaum einschüchtern.
„Meine Eltern haben sich getrennt als ich noch klein war. Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen, meinen Vater kannte ich nie wirklich, genauso, wie ich nichts von seinen kriminellen Machenschaften wusste. Aber ich war dabei ihn kennen zu lernen. Wir haben uns zweimal getroffen, bevor er starb. Ich habe immer gehofft ihn einmal wirklich kennen lernen zu können, aber diese Möglichkeit hast du mir genommen.“
Sein Lächeln erstarb nicht, aber seine Augen wurden eiskalt, die Züge wie eingefroren.
„Er hat seinen Tod verdient!“, zischte Monica.
„Er hat vielleicht Fehler gemacht, aber das hat dir trotzdem nicht das Recht dazu gegeben ihn umzubringen!“
„ER HAT MEINE TOCHTER ERMORDET! ER HAT SEINEN VERDAMMTEN TOD VERDIENT!“ Tränen brannten in Monicas Augen.
„Nein, du bist wahnsinnig und merkst es noch nicht einmal“ Tim hingegen blieb überraschend ruhig. „Und ich werde dafür sorgen, dass du dafür büßen musst. Du kommst ins Gefängnis, oder vielleicht auch in eine Anstalt – dort bist du vielleicht sogar besser aufgehoben.“
Monica biss die Zähne zusammen. „Ich gehe sicher nicht wegen dir ins Gefängnis. Du kannst mich nicht aufhalten!“
Das Grinsen ihres Gegenübers wurde jedoch nur noch breiter.
„Oh doch. Leider hast du vergessen mir das Handy abzunehmen als du mich zusammengeschlagen hast.“
Triumphierend hielt er sein Smartphone in die Höhe. Und genau in diesem Moment hörte sie das Geheul von immer näherkommenden Sirenen. Er hatte die Polizei verständigt, dieser Mistkerl.
Ein Blick zur Seite genügte. Sie sah, wie die Streifenwagen den Feldweg entlangfuhren und immer näherkamen.

„Leg die Waffe weg, Monica! Es ist aus.“ Tims Stimme nahm sie nur am Rande wahr. Plötzlich übertönten ihre lauten Gedanken selbst die Streifenwagen. Womöglich waren es sogar ihre Kollegen, die darinsaßen.
Aber so leicht würde sie nicht nachgeben. Sie gehörte nicht ins Gefängnis!
Sie ließ die Pistole in ihrer Hand sinken. Die nächsten Momente verstrichen wie in Zeitlupe.
Sie sah wie die Polizisten aus dem Streifenwagen sprangen.
Sie sah Tim, sein vertrautes Gesicht, das doch so fremd war.
Und sie sah den Lauf der Pistole.
„Lassen Sie die Waffe fallen!“, war das letzte, was sie hörte.

 

Ende.

5 thoughts on “Stigma

  1. Hallo liebe Elina,

    der Anfang der Geschichte war schon super spannend und man war direkt im Geschehen. Sehr gute Wahl für den Einstieg!
    Für mich war es etwas vorhersehbar, dass der Freund das Handy platziert hat, aber ich habe mich dennoch gefragt, weshalb er das wohl getan hatte und in welcher Verbindung er zu Monica stand.
    Das Ende ist natürlich krass! Theoretisch hat sie sich umgebracht (so habe ich das Ende auf jeden Fall verstanden), weil sie ihr Kind für einen kurzen Moment aus den Augen gelassen hat.
    Der Text ließ sich auch super gut lesen. Du solltest auf jeden Fall weiterhin schreiben 🙂

    Alles Liebe
    Pauline

    1. Hallo Pauline,

      Vielen Dank für dein Feedback und die lieben Worte. Es hat mich wirklich gefreut zu hören, dass dir meine Geschichte gefallen hat, vor allem, weil ich noch gar nicht so lange schreibe.

      Viele Grüße
      Elina

  2. Moin Elina,

    eine richtig starke Kurzgeschichte die du dir da ausgedacht hast.
    Vom Anfang bis zum Ende echt gut geschrieben. Gut durchdachter Plot. Der mit dem Ende seinen Höhepunkt findet. Gut skizzierte Charaktere die authentische Dialoge führen. Nichts wirkt aufgesetzt!

    Dein Schreibstil ist genauso, wie sich deine Geschichte auch lesen lässt: LOCKER!

    Hat mir gut gefallen.

    Für den Mut an diesem Wettbewerb teilgenommen zu haben und dafür das du deine Geschichte mit uns geteilt hast, lass ich dir gerne ein Like da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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