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STILLE

Als er am Morgen die Augen aufschlug, fiel ihm zuerst die Stille auf. Sie fühlte sich beinahe erdrückend an, war überall um ihn herum und wurde von der weißen Decke über ihm nur noch verstärkt. Er lag da und versuchte, diese, nach dem gestrigen Abend wohltuende, Stille zu genießen. Doch nur Sekunden später stieg ihm ein fremder Parfümgeruch in die Nase. Während er seine Gedanken in seinem noch dröhnenden Kopf zu ordnen versuchte, hört er kurz darauf den Wasserstrahl der Dusche in seinem Bad. Verwirrt kniff Valentin die Augen zusammen, doch als er sicher war, dass das Geräusch keine Einbildung und seine Dusche in diesem Moment tatsächlich besetzt war, zwang er sich, sie wieder zu öffnen. Glücklicherweise konnte er sich beim Anblick des bordeauxroten Kleides über dem nächsten Stuhl wenigstens schlagartig daran erinnern, wer da in seiner Dusche stand und somit endete sein Panikgefühl, bevor es richtig angefangen hatte. Zufrieden grinsend legte er sich wieder hin und ging den letzten Abend im Kopf noch einmal durch. Die Veranstaltung im Verlag war ein voller Erfolg gewesen und mit etwas Glück und weiterem Verhandlungsgeschick würde er allerspätestens morgen einen Vertrag für eine nächste Lesereise unterschrieben auf seinem Schreibtisch liegen haben.

Plötzlich wurde er von einem lauten durchdringenden Piepton aus seinen Gedanken gerissen. Diesen Ton hatte er für Nachrichten von seinem Verleger eingestellt, daher begann er schnell die Suche nach seinem Handy. Als er es gefunden hatte, blickte er in angespannter Erwartung auf das Display. Doch bei ihm war keine Nachricht angekommen. Valentin runzelte verwirrt die Stirn, bis er das Handy seiner neuesten Eroberung auf einem Schrank in der Nähe liegen sah. Um zu kontrollieren, dass seine Wahrnehmung ihn nicht getäuscht hatte, sah er auch hier nach, ob neue Nachrichten eingegangen waren.

Jemand hatte ihr tatsächlich etwas geschickt. Doch was ihn dann vor Schreck erstarren ließ, war nicht die Tatsache, dass Nadine, Nadja oder wie auch immer sie hieß, diesen Jemand als „Schatz“ eingespeichert hatte. Auch die Nachricht darunter, „Ich bin mir sicher. Du hast den Richtigen erwischt.“, trug eher wenig zu seinem Schock bei. Nein, das Entscheidende war das Bild. Oder eher das, was auf diesem Bild zu sehen war. Valentin Schregel starrte schockiert auf sein Gesicht, das auf dem Bild hinter eine Fensterscheibe ganz knapp zu erkennen war. Er hatte den Kopf ein wenig gesenkt, da er aus seinem neuesten Buch vorlas. Sein neuestes Buch. Plötzlich saß er wieder in der Buchhandlung, auf einem unbequemen Stuhl hinter einem zu niedrigen Tisch, und blickte in die Menschenmasse, die gekommen war, um ihm zuzuhören. Auch jetzt spürte Valentin erneut ein Hochgefühl in sich aufsteigen, während er an seinen Erfolg dachte. Doch es verwandelte sich schnell in etwas anderes.

Erst als das Geräusch des Wasserstrahls aus dem Badezimmer abrupt stoppte, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Plötzlich war ihm ganz kalt. Ihm wurde klar, dass diese Frau in seinem Badezimmer die vergangene Nacht nicht wegen einer glücklichen Fügung des Schicksals mit ihm verbracht hatte. Das Foto auf ihrem Handy bewies ganz klar, dass da eine Absicht dahinter steckte, die ihm noch nicht ersichtlich war. Instinktiv sah er sich in seinem Wohnzimmer nach etwas um, das er im Notfall schnell als Waffe verwenden konnte. Noch während er abwog, wie seine Chancen standen, sich mit seinem neuen Bluetooth-Lautsprecher zu verteidigen, hörte er die Badtür ins Schloss fallen. Er ärgerte sich darüber, dass er das Öffnen verpasst hatte, konnte seine Situation nun aber nicht mehr verändern und wandte sich der schwarzhaarigen Frau zu, die eben aus der besagten Tür getreten war. Aufgrund seiner inneren Unruhe bemerkte Valentin nicht einmal, dass sie nur in einem Handtuch, das um ihren Oberkörper gewickelt war, vor ihm stand.

„Guten Morgen, meine Schöne.“

Er ärgerte sich selbst darüber, dass seine Stimme leicht zitterte, versuchte aber weiterhin, seinen Gemütszustand vor der nahezu Unbekannten zu verbergen. Er war es nicht gewohnt, die Kontrolle zu verlieren und  würde gerade vor einer Frau nicht sehr gern zugeben, dass es sich dieses Mal anders verhielt. Gerade, wenn diese Frau die Ursache für seine Nervosität darstellte.

„Guten Morgen. Hast du auch so gut geschlafen?“

Sie schenkte ihm ein verstohlenes Lächeln und ging betont langsam auf den Stuhl mit ihren darauf liegenden Klamotten zu. Er gab sich die größte Mühe, ihr Lächeln zu erwidern, überlegte währenddessen aber fieberhaft, wie er sie möglichst schnell loswerden konnte. Er musste dringend ein Gespräch mit Martin Svensson, seinem Verleger und Freund, führen. Er war der Einzige, dem er in einer solchen Situation zu vertrauen wagen konnte. Da fiel ihm auch schon eine leichte, aber effektive Lösung ein, wie er seine Wohnung schnellstmöglich verlassen konnte.

„Ja, natürlich. Wie könnte ich nicht? Aber ich muss jetzt leider gleich los. Die Arbeit wartet.“

Er sah sie entschuldigend an und zeigte ihr kurz sein Handy, um den Eindruck zu erwecken, sein Verleger oder irgendwer sonst hätte ihm soeben eine dienstliche Nachricht gesendet.

Sie nickte ihm nur zu. Er glaubte sogar, einen erleichterten Ausdruck über ihr Gesicht huschen zu sehen, aber schon einen Augenblick später zeigte sie sich ehrlich bedauernd.

„Natürlich, das verstehe ich. Und vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“

Sie hob ihr Glas Wein an, das noch vom Vorabend auf dem kleinen Tisch stand, und prostete ihm zu. Bevor sie sich ihr Kleid und ihre Unterwäsche griff, um sich daraufhin im Bad umzuziehen, trank sie es in einem Zug aus und stellte es etwas heftiger als erwartet ab.

Während er allein im Schlafzimmer war, zog Valentin sich ebenfalls an und schrieb eine kurze Nachricht an Martin, in der er sein Kommen ankündigte.

Fast sofort, als Nadja, oder Nadine oder so, aus dem Bad kam, hielt er ihr ihren Mantel hin und zwang sie somit förmlich dazu, die Wohnung zu verlassen. Als er sichergehen konnte, dass sie um die nächste Ecke gebogen war, schnappte er sich ebenfalls seine Jacke und seinen Autoschlüssel und machte sich auf den Weg. Ständig hatte Valentin das Gefühl, die Frau von der letzten Nacht wiederzusehen. Hinter einem Baum, einer Ampel oder einfach zwischen anderen Menschen. Überall schienen Augen zu sein, die ihn beobachteten. Jemand wusste, was er getan hatte und er wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Jemand jeden seiner nächsten Schritte verfolgte. Als er schließlich noch eine zweite Person, dieses Mal aus seiner Vergangenheit, zu erkennen glaubte, war er glücklicherweise nicht mehr weit vom Verlag entfernt.

Dort angekommen, parkte Valentin sein Auto in der glücklicherweise noch fast leeren Tiefgarage und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Etage, in der sich das Chefbüro befand.

Er begrüßte die wenigen Mitarbeiter, die bereits anwesend waren und die er auf seinem Weg antraf, ging allerdings schnurstracks zum Büro seines Freundes und klopfte an die Tür.

„Herein. Tee bitte auf den Tisch stellen und… Ach nein, hallo Valentin. Ich habe deine SMS bekommen, kann mir aber nicht erklären, was du so früh schon von mir willst. Immerhin bist du nach dem gestrigen Abend nicht allein nach Hause gegangen. Also dann, was will der neue Starautor Valentin Schregel von mir?“ Martin zwinkerte und kam auf ihn zu. Nach einem kurzen Handschlag mit Valentin zeigte er mit der Hand auf einen der Sessel an der großen Fensterfront des Büros.

„Setzen wir uns doch. Dann kann ich dir besser zuhören.“

„Danke, Martin, ich…“

„Warte, Val. Erst hinsetzen, dann beruhigen und als nächstes erst reden.“

Valentin atmete tief durch und versuchte, Martins beruhigendem Lächeln auf sich wirken zu lassen. Endlich fand er die Kraft, ebenfalls zu grinsen. Martin lehnte sich zufrieden zurück und wartete nun auf das, was sein neuester Bestseller-Autor ihm zu berichten hatte.

„Also dann, erzähl mal, warum du deine neue Flamme offensichtlich einfach weggeschickt hast.“

„Es liegt an ihr. Also, natürlich nicht direkt an ihr, du hast sie ja gesehen. Aber auf ihrem Handy, da war heute früh so ein Bild. Martin, ich glaube, jemand weiß Bescheid.“

„Val, stopp. Worüber soll wer Bescheid wissen? Willst du nicht einfach mal von Anfang an erzählen?“

„Der Anfang? Oh, das ist einfach. Aber du hast vorher nicht zufällig ein Glas Whiskey für mich, oder?“

„Du weißt, ich kann dir keins geben. Willst du rückfällig werden, du Idiot?“

„Ja okay, ist gut. Also dann, am Anfang war da dieses Manuskript.“

„Welches Manuskript? Aber nicht das für deinen aktuellen Thriller, oder?“

„Nein“, er seufzte, „es geht um das meistverkaufteste Buch der Bücher, von denen die Leute denken, ich hätte sie geschrieben.“

„Du hättest? Willst du mir jetzt etwa erzählen, dass keins von deinen Büchern wirklich von dir stammt? Das ist doch nicht dein Ernst! Hattest du gestern Abend noch etwas anderes als das eine Glas Sekt intus oder ist das ein schlechter Scherz? Valentin, antworte mir! Sofort.“

„Martin, beruhige dich. Bitte, du musst mir helfen!“

„Ja, dann rede doch endlich mit mir!“

„Okay.“ Valentin atmete tief ein und aus. „Erst einmal habe ich natürlich meine neuesten Bücher alle selbst geschrieben. Nach meinem ersten Erfolg war ich wie beflügelt und hatte keine Probleme, meine alten Projekte zu überarbeiten und ebenfalls einzureichen. Mein zweiter Thriller ist, wie du nur zu gut weißt, schon wieder auf den Bestsellerlisten. Und das wird auch mit den anderen Romanen passieren, alle natürlich von mir allein geschaffen. Aber mein Debüt… Ach Martin, ich brauchte einen Durchbruch, hatte aber keinen meiner Romane hundertprozentig fertiggestellt. Und plötzlich lag da dieser Stick vor mir, nachdem Fred so angegeben hat… Ich konnte nicht anders.“

„Wer ist Fred? Und was heißt, du konntest nicht anders? Warst du mal wieder besoffen? Valentin, ich brauche die ganze Geschichte!“

„Ich bin doch schon dabei! So viel mehr gibt es auch gar nicht zu erzählen. Fred war ein Mitstudent. An dem Abend waren wir zusammen feiern. Er hat die ganze Zeit von seinem Manuskript geredet, dass er nur eine einzige Kopie hat und dass er sie am nächsten Tag zum Verlag bringen will. Es war einfach ungerecht. Oder zumindest kam es mir an jenem Abend so vor. Ich, der Alkoholsuchti, der sowieso bald von der Uni fliegt, und er, der tolle Schriftsteller mit den besten Noten. Also habe ich meine Chance genutzt, bin an seiner Stelle mit besagtem Manuskript zum Verlag und habe die Uni geschmissen. Ich habe Fred nach dem folgenden Erfolg nie wiedergesehen. Ich war davon ausgegangen, dass er nach diesem Schicksalsschlag, dass sein Meisterwerk geklaut wurde, seine Pläne von einer Weltreise umsetzen und nicht so schnell wiederkommen würde und hatte mein Vorhaben der Veröffentlichung dementsprechend auch erst nach seiner angeblichen Abreise in die Tat umgesetzt. Dass er schon nach 10 Monaten wiederkommt und mich jetzt offenbar auch noch schnell findet, hatte ich nicht erwartet.“

Jetzt war es an Martin, tief durchzuatmen. Es musste eine Entscheidung getroffen werden. Nach einer Minute Stille, die das ganze Büro ausfüllte und es scheinbar enger machte, sagte er endlich etwas.

„Also gut. Du gehst jetzt wieder nach Hause, schläfst dich aus und wir reden später nochmal darüber. Fred, oder wer auch immer es da aus welchem Grund auf dich abgesehen hat, wird dich schon nicht sofort überfallen. Außerdem haben wir später noch den Verhandlungstermin wegen deiner Lesereise.“

„Das ist jetzt doch nicht so wichtig! Das Manuskript für das Buch, auf dem mein ganzer Erfolg aufbaut, ist von mir geklaut! Martin, gestohlen!“

„Na und? Hauptsache ist doch, dass deine Verkaufszahlen stimmen. Oder hast du nach all den Monaten plötzlich Gewissensbisse?“

„Hast du mir in den letzten Minuten überhaupt zugehört? Natürlich bereue ich es nicht, aber er hat mich höchstwahrscheinlich gefunden! Und ich denke nicht, dass er mich gesucht hat, ohne einen guten Grund dafür zu haben.“

„Natürlich habe ich dir zugehört. Und jetzt wirst du mir gut zuhören. Wir können uns von ihm, deinem Fred oder einem Komplizen, fertigmachen lassen. Oder aber, wir kämpfen. Es gibt keinerlei Beweise, selbst bei einem Indizienprozess hat er nur wenige Chancen. Wahrscheinlich will er im schlimmsten Fall alle Einnahmen aus dem Verkauf als Entschädigung, vielleicht sogar einen Anteil an allen kommenden. Falls es zu so einer Situation kommt, werden wir eine Lösung finden.“

„Denkst du wirklich? Ich kann nicht glauben, dass die Lösung so leicht sein soll.“

„Ich kann dir natürlich nichts versprechen. Aber wenn ich an seiner Stelle wäre, wären das meine Überlegungen.“

„Du meinst also, ich soll einfach erstmal zurück nach Hause und auf seinen nächsten Schritt warten?“

„Ja, ganz genau. Geh nach Hause, dann fällt uns im entscheidenden Moment schon etwas ein. Falls er sich meldet, versprich ihm erst die Hälfte des Gewinns. Nimmt er nicht an, sprich von weiteren Verhandlungen.“ Nach einem Nicken von seinem Gegenüber redete Martin nun nicht mehr aufmunternd sondern etwas ernster weiter. „Val, das wird. Aber du musst auf dich aufpassen und darfst nicht deswegen in alte Gewohnheiten zurückfallen! Das würde alles nur erschweren. Außerdem war das, was du getan hast, selbst wenn es eine Straftat war, dein Weg aus der Sucht. Wirf das nicht unbedacht weg!“

Valentin nickte nur. Obwohl er sich vorhin noch ausgeschlafen gefühlt hatte, war er jetzt plötzlich einfach nur müde. Martin nickte ebenfalls und ging zur Tür, um sie für ihn zu öffnen.

„Geh jetzt nach Hause, ruh dich aus und versuche, nicht mehr darüber nachzudenken. Ich versuche in der Zwischenzeit, meine Tochter zu erreichen. Vielleicht hat sie in ihrem bisherigen Jurastudium schon etwas Brauchbares gelernt.“

„Danke, Martin. Für alles.“

„Das ist schon in Ordnung. Aber los, jetzt geh schon.“ Er machte eine auffordernde Handbewegung. Nun endlich setzte Valentin sich in Bewegung und verließ das Büro seines Verlegers.

Der Heimweg verlief vergleichsweise ereignislos. Vielleicht auch deswegen, weil er seinen Blick starr auf die Straße gerichtet hielt und keine unnötigen Wege nahm. Er wollte nur noch nach Hause und mögliche Verfolger ignorieren. Valentin war nämlich nicht annähernd so beruhigt wie sein Verleger und konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Problem nur mit Geld zu lösen war.

Als er endlich in seinem Wohnzimmer saß, war er zutiefst erleichtert. Die Vorhänge waren noch zugezogen von gestern Abend und dunkelten so das Zimmer angenehm ab. Plötzlich klingelte sein Handy. Derselbe Klingelton wie heute Morgen, nur wesentlich länger. Seufzend nahm er das Gespräch an.

„Was gibt´s?“

„Gut, also bist du heil nach Hause gekommen. Ich habe mit meiner Tochter telefoniert. Sie sagt, sie kann dir nicht wirklich helfen. Wir sollen uns im Zweifelsfall erstmal auf die Schwierigkeit eines Prozesses, der auf ´Aussage gegen Aussage´ beruht, berufen.“

„Stimmt. Ein guter Plan. Aber nur für die ersten fünf Minuten. Was, wenn er am Ende doch deutlich mehr will als nur Geld?“

„Davon gehen wir jetzt einfach mal nicht aus.“ Martins gedämpfte Stimme am anderen Ende bekam langsam einen ungeduldigen Unterton.

„Also gut. Dann danke für den Anruf. Wir hören morgen wieder voneinander, ich schalte mein Handy erstmal aus und lege mich ins Bett.“

„Tu das. Und denk dran, Finger weg vom Alkohol. Du musst morgen zurechnungsfähig sein, damit wir dein Problem lösen können.“

„Ich kann auf mich selbst aufpassen. Aber ja, ist gut. Bis morgen.“

„Gut. Bis morgen.“

Nach einem kurzen Piepton verstummte das Rauschen, das ihr Gespräch die ganze Zeit begleitet hatte und ließ Valentin in einer altbekannten Stille zurück. Dieses Mal starrte er auf den schwarzen Vorhang vor dem Fenster neben dem Kamin, bis er schließlich seine Augen schloss. Er konnte sie fühlen, da musste er  die Stille um sich herum nicht auch noch sehen.

Nach dem Telefonat verharrte er noch etwa fünf Minuten mit geschlossenen Augen auf seinem Sofa, bis er anschließend beschloss, die guten Vorsätze und Ratschläge seines Freundes in den Wind zu werfen. Er stand auf, ging zum naheliegenden Schrank und schenkte sich etwas von der letzten Rumflasche ein, die er noch bei sich zuhause stehen hatte. Nachdem er noch eine Versicherung für den Notfall aus einer Schublade geholt und eingesteckt hatte, ging er mit dem Rum und dem Glas zum Sofa. Der bittere Geschmack des Alkohols hieß ihn nach all den Monaten willkommen und half ihm, sich von den neuesten Geschehnissen abzulenken. Er wusste nicht, wie lang er so dagesessen, sich immer wieder nachgeschenkt und über den bitteren Geschmack sein ebenso bitteres Problem fast vergessen hatte, als es plötzlich an seiner Haustür klingelte. Stirnrunzelnd verließ er das noch immer dunkle Wohnzimmer und öffnete die Tür. Vor ihm stand ein recht großer, blondhaariger Mann, der ihn mit glasigen Augen ansah.

Valentin bemerkte, dass er ein wenig schwankte und hielt sich an der Tür fest. Er wollte das hier so schnell wie möglich hinter sich bringen um wieder in Ruhe in seinen Gedanken versinken zu können. Auch sein Bett kam ihm jetzt, trotz nicht vorhandener weiblicher Gesellschaft, sehr verlockend vor.

„Ja?“

„Valentin Schregel?“

„Ja, was wollen Sie? Ich bin im Moment ziemlich beschäftigt.“

„Beschäftigt mit Trinken, soso. Du hast dich anscheinend nicht groß verändert.“, stellte sein Gegenüber fest.

Valentin versuchte, die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen und betrachtete den Fremden nun etwas genauer.

Nach einigen Sekunden wurde ihm schließlich klar, dass er dieses Gesicht das letzte Mal aus einiger Entfernung in der letzten Vorlesung, zu der er gewesen war, gesehen hatte.

„Fred?“

Er bemerkte, dass seine Stimme ähnlich stark zitterte wie am Morgen und versuchte vergeblich, die Ungläubigkeit aus seinem Gesichtsausdruck zu verbannen.

„Damit hättest du nicht gerechnet, was? Dabei habe ich mich doch sogar angekündigt. Glücklicherweise bist du ja auf meinen Lockvogel hereingefallen.“

„Was willst du hier? Was erhoffst du dir zu erreichen?“ Er unternahm den Versuch, verächtlich zu klingen, scheiterte allerdings jämmerlich.

„Du weißt ganz genau, warum ich hier bin. Aber willst du mich nicht zuerst einlassen? In deinem angeblich so gemütlichem Wohnzimmer kann man bestimmt besser über alte Zeiten reden.“

Ehe Valentin etwas erwidern konnte, war sein alter Studienfreund auch schon in der Wohnung verschwunden.

Er selbst schloss die Tür, wohl wissend, dass er um die nächsten Minuten nicht herumkommen würde. Er zog sein Handy aus der Tasche um Martin eine Nachricht zu schreiben, doch noch bevor er es anschalten konnte, hörte er Fred aus dem Wohnzimmer seinen Namen rufen.

„Wo bleibst du denn? Komm doch endlich. Oder erwartest du noch jemanden?“

Als Valentin wenig später im Wohnzimmer stand, hatte sein ungebetener Gast sich schon auf den Platz auf dem Sofa gesetzt, auf dem er bis vor wenigen Minuten noch seinen Rum getrunken und ins Leere gestarrt hatte. Aus diesem und einigen weiteren Gründen blieb er ein paar Schritte hinter der Tür mitten im Raum stehen.

„Also, was willst du? Willst du Geld? Wenn ja, kein Problem, melde dich einfach die Tage nochmal bei mir. Oder ich gebe dir gleich die Nummer von meinem Verleger.“

„Geld? Oh ja, das klingt schon nach einem guten Angebot. Aber nein, vorher möchte ich mich einfach mit dir unterhalten. Trotzdem danke, dass du gleich zum Punkt gekommen bist. Du weißt also, warum ich hier bin? Erinnerst dich?“

Valentin blieb stumm und starrte in den leeren, stillen Kamin.

„Gut, das nehme ich als ja.“

„Was willst du?“

„Vor allem verstehen. Dich. Deine Gründe. Warum hast du mir das angetan?“

Valentin sah ihn nicht an. Er hatte die Frage aller Fragen gestellt. Warum hatte er es getan?

„Warum ich es getan habe? Weil das Leben scheiße ungerecht ist. Weil es nicht fair war. Weil du alles hattest und ich nichts. Darum habe ich es getan, ich wollte Gerechtigkeit.“

Er geht zum Tisch, nimmt sein Glas, trinkt den Rest aus. Geht wieder zurück und steht nun mit dem Rücken zu seinem Besuch, blickt in die Richtung des Kamins. Er hört es hinter sich gluckern. Weiß, dass sein früherer Kumpel nun ebenfalls Alkohol intus hat. Er nimmt sich vor, die Rumflasche noch an diesem Abend zu entsorgen.

Eine Weile vergeht, in der keiner von beiden spricht. Lediglich ein Gluckern ist gelegentlich zu hören. Die Stille ist wieder da. Sie drückt dieses Mal noch stärker auf Valentins Ohren und zwingt ihn dazu, sich umzudrehen.

Nachdem er das getan hat, wird die Stille beim Anblick des Messers lauter und lauter, irgendwann ist sie zu laut und Valentin umklammert sein Glas noch fester als ohnehin schon.

Plötzlich macht Fred eine Bewegung mit dem Messer in seiner Hand. Valentins Ohren rauschen nicht mehr und er hört statt der bekannten Stille die unregelmäßigen Atemgeräusche, die ihn zusammen mit der drohenden Gefahr abrupt wieder in die Realität zurückholen.

„Nun, du wolltest also Gerechtigkeit, ja? Gut, dann kannst du mich sicherlich verstehen. Denn ich will Rache. Und was ist schon gerechter als das?“

„Ich frage es immer wieder; was willst du von mir?“

„Wie ich bereits sagte, ich will Gerechtigkeit.“ Fred kam mit dem Messer näher, Valentin wich augenblicklich vor der Klinge zurück. „Dabei ist Geld nur die Spitze. Ich will, dass du dieselbe Enttäuschung und Verzweiflung erlebst wie ich. Von allen verspottet oder bemitleidet, weil jeder sich von dir abwendet. Und dafür will ich nicht nur dein Geld. Ich will, dass du öffentlich gestehst und eine Neuveröffentlichung des Thrillers mit meinem Namen darauf erscheint.“

„Du bist doch verrückt.“

„Ja, dank dir bin ich das wahrscheinlich tatsächlich.“

„Ich meine es ernst, warum um alles in der Welt sollte ich auf so eine Forderung eingehen? Das ist Unsinn.“ Er spürte, wie der Alkohol seine Zunge lockerte und dieser Zustand gefiel ihm außerordentlich gut. „Du bist verrückt. Geld geht klar, aber wie willst du den zweiten Teil erreichen? Warum sollte ich freiwillig meine Karriere ruinieren?“

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich nur zum Reden gekommen bin. Nein, da gibt es andere Möglichkeiten. Oder denkst du tatsächlich, ich könnte das Messer nicht auch benutzen?“

„Das nennst du Messer? Ich hab ein Tomatenmesser, das größer ist.“

„Mach dich nur lustig über mich. Du wirst es dir schon noch anders überlegen.“

„Niemals. Warum sollte ich auf deinen Vorschlag eingehen?“

„Ich zeige dich an. So wird die Öffentlichkeit davon erfahren und es wird gegen dich ermittelt.“

„Natürlich. Und hast du auch Beweise? Denn sonst sieht es schlecht für dich aus. Wem würde die Öffentlichkeit denn eher glauben? Mir oder einem neidischen Pseudoautor?“

Valentin sah mit Genugtuung, wie sein Gegner langsam unsicherer wurde. Trotzdem war die Wut in seinen Augen noch deutlich erkennbar. Ein schmales, triumphierendes Lächeln breitete sich auf Valentins Gesicht aus.

Während Valentin noch damit beschäftigt war, das Messer im Auge zu behalten, bemerkte er zunächst nicht, dass sein Gegenüber ihm langsam immer näher kam. Und als er es dann merkte, war es zu spät.

Er spürte plötzlich eine Klinge an seinem Hals und noch während er mit seinem benebelten Gehirn zu begreifen versuchte, was gerade geschehen war, hörte er schon eine Stimme ganz nah an seinem Ohr.

„Na, was sagst du jetzt? Wenn du tot bist, wer hindert mich dann daran, zu deinem Verleger zu gehen und der Öffentlichkeit die Wahrheit zu präsentieren? Vielleicht hast du ja Selbstmord begangen, aus Scham und Reuegefühlen?“

„Aus Scham? Reuegefühl? Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Du traust dich ja doch nicht.“

Obwohl seine Stimme ziemlich gepresst klang, versuchte er, möglichst selbstbewusst aufzutreten. Kurz darauf spürte er etwas seinen Hals hinunterlaufen.

„Ach so? Ich traue mich nicht?“

Dieses Mal blieb Valentin stumm. Er konnte nichts sagen und ließ sich wieder in die Stille hinabsinken, die seine Wohnung nie wirklich verließ. Zunächst war die Stille wie immer erdrückend und engte ihn ein, doch wenig später lichtete sie sich plötzlich. Sie lag nun leichter auf seinen Gedanken und er wusste plötzlich, dass er kämpfen wollte. Im selben Augenblick bemerkte er, dass er sein leeres Glas noch immer in der Hand hielt. Er dachte nicht lang nach und zielte, so gut es unbemerkt ging, auf eine Topfpflanze auf einem nahestehenden flachen Schrank.

Das Scheppern und Klirren, das daraufhin ertönte und für Fred überraschend kam, verschaffte Valentin die nötige Zeit, sich aus der Umklammerung zu lösen.

Nun standen sich die beiden Widersacher erneut gegenüber. Fred, wütend und mit einem Messer in der Hand, und Valentin, schwankend und angespannt. Der einzige Unterschied bestand in der Pistole, die so plötzlich in der Hand des Zweiten aufgetaucht war, als hätte sie jemand hinein gezaubert.

Valentin registrierte erfreut, dass die Hand mit dem Messer jetzt deutlich schwankte. Dann blickten sich die beiden Männer in die Augen.

Wie lang sie so dastanden und sich mit ihren Blicken duellierten, hätte im Nachhinein niemand mehr sagen können. Am Ende war nur ein winziges Zucken der Mundwinkel nötig, um eine Handlung auszulösen.

Auf den Schuss folgte wieder die Stille. Die Stille, die nun nicht mehr erdrückend sondern schlicht befreiend wirkte. Die Stille, die die Wohnung und ihren Bewohner nun allerdings auch nie mehr wieder verlassen würde. Die Stille, die nur kurz von einem Telefonat unterbrochen wurde. „Martin?“ „Ich habe das Problem gelöst.“ „Ob ich ein neues habe? Nicht wirklich, höchstens eine neue Thrilleridee.“ „Nein.“ „Ja.“ „Ja, bis morgen dann.“

Die Stille, die geendet hatte und mit einer neuen Lautstärke zurückgekommen war.

5 thoughts on “Stille

  1. Der/Die Autor_in legt einen sehr authentischen Schreibstil an den Tag. Sie/Er versteht es durch geeignete Wortwahl die Geschichte dem Leser realistisch zu vermitteln. Als Leser ist es möglich sich in die Geschichte hineinzuversetzen und das Geschehen ohne das Langeweile aufkommt mitzuverfolgen. Auch die Dialoge, dass meiner Meinung nach schwerste beim Schreiben einer Geschichte wirken sehr authentisch und realistisch. Der/Die Autor_in zeigt sehr viel Potential und sollte auf jeden Fall dran bleiben und niemals Aufgeben. Dem ist noch hinzuzufügen das der/die Autor_in im Gegensatz zu anderen Autoren sehr penibel auf Rechtschreibung und vor allem auf Kommasetzung achtet was das die Geschichte, durch die Sinnvolle Unterteilung der Sätze leicht verständlich macht und die Worte zum leben erweckt.

  2. Hallo,

    Vielen Dank für deine Geschichte.

    Sie ist spannend, ein tolles Thema, die Absätze sind gut gewählt und sehr flüssig geschrieben.

    Der Titel und wie du die Stille in deinen Text einbaust gefällt mir sehr gut. Du hast auch ein paar tolle Ausdrücke, die mir gefallen. Wie z. B. Das mit den Zucken der Mundwinkel, die eine Handlung auslösen.

    Der letzte Satz gefällt mir gut, beim ersten Lesen war er aber nicht ganz optimal integriert und es hat dadurch kurz gestockt.

    Wo die Waffe so plötzlich herkam, war etwas unglaubwürdig, aber ansonsten fand ich es super, dass es einfach auf den Punkt war und kein ewiges Katz- und Mausspiel. Normal mag ich das, aber hier war es erfrischend anders.

    Die Dialoge zwischen Martin und Valentin waren für mich sehr glaubwürdig.

    Das Handy hätte etwas spannender eingebaut werden können, aber hat seinen Zweck erfüllt.

    Der Titel ist kurz und knapp, passt aber gut dazu. Toll wäre, wenn auch sein Debütroman so heißen würde 😁

    Alles Liebe weiterhin für dich,

    Jenny /madame_papilio

    (Wenn du Lust hast meine Geschichte zu lesen, dann würde ich mich sehr freuen. Sie heißt “Nur ein kleiner Schlüssel”)

    1. Hallo Jennifer,

      vielen Dank für deine lieben Worte und das Feedback! Gerade, weil ich noch nicht viele meiner Texte mit anderen geteilt habe, ist das sehr hilfreich, da ich mir doch noch etwas unsicher bin.
      Es freut mich sehr, dass dir meine Geschichte und der Schreibstil gut gefällt 🙂

      Natürlich lese ich mir auch sehr gern deine einmal durch!

      Viele Grüße
      Alina/librophilesoul

      1. Sehr gerne. Bist du bei Instagram und schon auf wir_schrieben_zuhause? Dort stellen viele ihre Geschichten vor und du bekommst dadurch sicher mehr Feedback. Außerdem ist es eine tolle Community, die meisten Teilnehmer sind von hier😊

        Viele liebe Grüße,
        Jenny

    2. Bin ich tatsächlich noch nicht, aber das klingt toll. Danke für die Info! Ich werde es mir gleich mal anschauen😊

      Deine Geschichte hat mir übrigens wirklich gut gefallen. Besonders den Handlungsverlauf und das Thema fand ich spannend.

      Liebe Grüße
      Alina

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