julezoeeeSymbiose

Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, wir sehen die Dinge wie wir sind.

Die spitze Scherbe bildet einen bizarren Kontrast zu ihren mandelförmigen Augen. Über den hohen Wangenknochen, ihr Gesicht einrahmend, wirkt das  deformierte Stück Glas fast wie eine abstrakte Contouring-Technik, in jedem zweiten Schminktutorial zu finden, aber stets mit demselben Maß an passiv-aggressivem Durchhaltevermögen zu ertragen. 

Die splitterhafte Einbuchtung schmeichelt ihrer Wangenpartie jedoch mehr, als jeder Schminkversuch ihrerseits es je geschafft hatte.

„Scherben bringen Unglück, Kleines.“ Süffisant grinsend hatte ihr Mitbewohner das immer über den Lärm der Musik von der Bar zu gerufen, wenn ihr zu später Stunde mal der ein oder andere Gin Tonic vom Tablett gerutscht war. Und eine Scherbe ihren Finger zerschnitt.

„Nur für die Gäste“, versteht sich. Sie merkt wohl nicht, wie ihr rechter Mundwinkel nach oben zuckt, beim Gedanken an diesen Satz bohrt sich ein kleiner Funken Nostalgie durch den Schmerz mit dem er verbunden ist und erzeugt offensichtlich wider Willen ein pathologisches Lachen. „Nicht nur Scherben“, flüstert Luna, reißt sich so aus ihren Gedanken, fährt mit der Fingerspitze ihres vernarbten Ringfingers über die Kante des zerbrochenen Spiegels, unachtsam gegenüber der noch empfindlichen hellrosa Naht unterhalb des Gelenks. Im dunklen Abendlicht sieht sie aus wie ein dezenter Ring. „Wären es doch nur die Scherben…“ 

Der Wasserkocher pfeift immer lauter, erwartet, dass sie das Wasser abnimmt und den Tee zubereitet. Hagebuttentee mit ein bisschen Pfefferminz und einem Teelöffel Kastanienhonig. 

Von der Tasse gewärmt setzt sie sich ins Wohnzimmer, an die große Fensterfront, einzig erhellt von einer Reihe Kerzen auf der Anrichte. 

Und wartet. Wartet auf ihn. Wann würde er zurückkommen? Würde er kommen? Oder würde er erst bei ihren Nachbarn vorbeischauen? So wird das wohl nichts. Sie steht auf und schlurft zum wandhohen Regal, muss sich trotz ihrer so oft als modelgleich betitelten langen Beine auf die Zehenspitzen stellen, um die Schallplatte mit den Fingerspitzen aus der Ablage ziehen zu können.

Die ersten Klänge des Rammstein-Liedes lassen nicht lange auf sich warten. „…schließt  mich im Zimmer ein, hat eine Puppe mir geschenkt, dann bin ich nicht allein.“

Leicht taumelnd von der Sprungeinlage lässt Luna sich in den Sessel fallen, rückt ihn so, dass sie eine einwandfreie Sicht auf die gesamte Straße hat.

Das rhythmische Flackern der defekten Straßenbeleuchtung hat etwas offensichtlich beruhigendes und Luna fällt in eine Art Trance. Bemerkt weder den sich langsam aber sicher nähernden Schatten noch den sich mehr und mehr verstärkenden Schneeschauer in dieser sonst so milden Februardämmerung, der sich am Klappern des Fensterrollos am geöffneten Terrassenfenster bemerkbar macht. Das Kratzen an der Haustür- dreimal,  lässt sie zusammenzucken. Wird er jetzt kommen? Kommt er endlich zu mir?

„Ihr Schaffensplatz ist gar nicht weit. Ist gleich im Zimmer nebenan“, summt der Leadsänger, begleitet von sich steigernden Gitarrenklängen.

Gelöst aus dem apathischen Zustand geht sie an den gefliesten Wänden vorbei, um die schwere Ebenholz-Tür mit beiden Händen zu öffnen. 

Ohne Vorwarnung stürzt er sich mit seinen achtzig Kilo auf sie. Luna liegt am Boden, riecht Kastanien und Schweiß. „Buddy! Du glaubst nicht, wie allein ich mich heute gefühlt habe.“ Ihr Harzer Fuchs Buddy hechelt.

„So ein dicker Verband? Wollen wir doch mal sehen“, spricht sie mehr zu sich selbst, streicht sich dabei eine verirrte Strähne aus den strahlenden Augen.

Die Freude und das Gefühl der Geborgenheit weichen Schauer und Unbehagen in ihrer Mimik. Scharlachrot strahlt es aus dem unbefleckten Verband. „Was zum…?“ wispert sie. Behutsam wickelt sie den Verband ab, ungeachtet Buddys dennoch flehentlichem Wimmern.

 

Das rote Handy in ihrer Hand ist nicht ausgeschaltet, es ist bloß im Sperrmodus. Doch der intensive Rotton der Ummantelung strahlt. Blutrotes Licht spiegelt sich auf ihren zarten Wangenknochen. Was sie in den nächsten Minuten zu Gesicht bekommen wird, soll ihr Leben, ihre Weltansicht verändern. 

Endlich. Nach all den Jahren. Sie wird mich verstehen. Sie wird mein Leid erfahren, so wie ich es erfahren musste, als sie ,ich verließ. Damals, als sie mir noch etwas bedeutete. Damals, als meine Identität mir noch etwas bedeutete.

Das Handy wird sich leicht entsperren lassen. Ich habe es auf ihre Face ID programmiert, ihre scharfen Gesichtszüge als unser ganz persönlicher Schlüssel in die Welt der Erkenntnis. 

Luna braucht wohl erst einmal einen Moment. Aber den gebe ich ihr. Da muss sie mich gar nicht darum bitten. Ist doch selbstverständlich. 

Zögernd bewegt sie ihren Finger über das Handy. Der Ringfinger mit der verräterischen Narbe fällt mir sofort ins Auge. Hat der kranke Bastard sie damals gebrandmarkt wie einen Gaul. Er war nicht gut für sie. Sie hätte es wissen müssen, aber Luna hat mir ja keinen Glauben geschenkt. Umso besser, dass sie jetzt noch verwirrter guckt als ich, als sie mir damals von ihrer Beziehung erzählte. Vorschwärmte und schönredete. Mir bildhaft in die Gedanken brannte, bis mir das Gefühl, überflüssig zu sein, bis Oberkante Unterkiefer stand. „Das bin ja ich. Aber wer… wer ist das neben mir?“ wispert sie. Sie schaut offensichtlich gerade die Galerie durch. Unfassbar, sie erkennt ihre eigene bessere Hälfte nicht mehr?! Vermutlich schaut sie gerade ein anderes Foto an. Ich liege richtig. Nur das Gruppenfoto vor der Feier. Ihr Lächeln lässt ihre Nachbarinnen plump und unbedeutend aussehen. Nun aber schnell, Luna. Such mich. Erkenn mich. Definiere mich. Ihr Atem geht schneller, bis ich mir sicher bin, ich kann ihren Herzschlag spüren. Ich fasse mir an die linke Brust. Rhythmisch und aufgeregt. Ich bin mir sicher, unsere Herzen schlagen parallel in diesem Moment. Unser erster Moment der Einigkeit nach all den Jahren. Die Verbundenheit ist wirklich immer noch da. Ich spüre sie. Streiche mir durch die Haare, wie sie es grade getan hat. Nur, dass meine Haare mir nicht in voluminösen Locken um die Schultern fallen, nicht meine anmutig herausstehenden Schlüsselbeine betonen, sondern kurz und flaumig über meinen Ohren abstehen. Langsam lasse ich meinen Finger sinken. Apathisch streiche ich mit dem Fingernagel über meinen linken Ringfinger, bekräftige das Anschwellen der rosa Wunde unterhalb des Gelenks. Es schmerzt, hat aber eine betäubende Wirkung, hilft mir, mich auf das wesentliche zu konzentrieren. Luna. Sie muss doch mittlerweile schon mehrere Bilder gesehen haben. Sprich mit mir, Luna. Sag mir, an was du dich erinnern kannst. Wer bin ich für dich?

„Das muss ein schlechter Scherz sein. Hier taucht ein Handy auf, mit Bildern. Von uns damals. Wer jubelt mir so etwas unter? All die Jahre. Ich habe doch keinerlei mehr Verbindung zu diesen Menschen. Jeder hat seinen Weg eingeschlagen, hat eine eigene Identität entwickelt und Familie. Wie kommen die Bilder auf einmal zu mir? Besorgniserregend, wirklich. Nein, Mama, ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern.“ -„Stopp“, denke ich. „Wieso, Luna, wieso zerstörst du unseren Moment? Telefonierst, obwohl das ein Moment der Zweisamkeit sein sollte? Gerade wenn wir in die damalige Zeit eintauchen wollen und zusammen die Erlebnisse wiederbeleben wollen. Guck dir das Foto an. Guck schon. Bitte.“ 

Ich merke, wie sich das gewohnte Gefühl der Enttäuschung augenblicklich vom niederschmetternden Gefühl der altbekannten Verdrängung erstickt wird. „Das war eine oberflächliche Schulbeziehung, irgendwann ist Schluss, Mama. Man lebt sich auseinander, voneinander weg, teilt auch keine Erinnerungen mehr. Ob ich meine Originale noch habe? Nein, natürlich nicht. Wieso sollte ich es auch aufheben? Er bedeutet mir rein gar nichts mehr. Bis dann. Nein, wirklich gar nichts. Bis grade habe ich keinen Gedanken an ihn verschwendet. Wozu auch? Ich bin ein anderer Mensch geworden.“ Mit diesen Worten legst du auf. Gut so. 

„Am Himmel dunkle Wolken ziehen“ dringen die sanften Töne aus der Anlage zu mir herauf. Ich blicke in die klare Nacht, der Himmel ist gespickt mit Sternen und merke, dass es eine der Nächte ist, die sie so mochte. Ihre Parties  damals waren exklusiv, sie war einfach perfekt. Beliebt, hübsch, sportlich und eine coole WG mit ihrer Mutter, ohne nervige Geschwister oder einen Vater. Deswegen war ich ihr auch nicht böse, dass ich nicht immer eingeladen wurde. Wir teilten ja eine ganz besondere Beziehung. 

Offensichtlich hat Luna in diesem Moment andere Bedürfnisse, als in bittersüßen Erinnerungen zu schwelgen. Den Köter zu verarzten nämlich. Ich mochte Hunde ja schon immer lieber als Katzen, sie erzählte damals auf dem Schulflur immer von ihren wochenendlichen Erlebnissen und welchen Hunden sie diesmal geholfen hatte. Sie arbeitete nämlich im Tierheim. So ein herzensguter Mensch. Lichtherzig, wie die Engländer sagen würden. Ich sehe, wir teilen immer noch gemeinsame Interessen, ein Teil unserer Identität wird bis heute durch dieselben Farben gemalt, als wäre unser Leben ein Gemälde.

Diesen Moment stelle ich mir weinrot vor. Weinrot, wie die Partybecher rundum Lunas Pool bei ihren Parties. Ich tunke den Pinsel tief in die Dose neben mir. Der Pinsel in meiner Hand streicht über die Leinen, die dickflüssige Farbe wird aufgesaugt, fließt ein Stück runter, nur ein kleines Stück runter, bis mein Finger den Fluss aufhält. Das Resultat ist ein kleines Strichmännchen auf der breiten Leinwand vor mir im Gras. Die Fingerkuppe färbt sich weinrot, rinnt unter meinen Fingernagel.  Ich führe den Finger zum Mund, meine Zunge nimmt die Flüssigkeit auf. Verteilt sie in meinem Mund. Der Geschmack nach Eisen füllt meine Geschmacksknospen, lässt mich wieder deutlich sehen. Blut rinnt zwischen meine Zähne und meine Lippe hinunter, aber das stört mich nicht, im Gegenteil. Es beflügelt mich. Ich meine, ich habe vorher natürlich schon gesehen, aber jetzt, Luna, jetzt sehe ich dich. Meine Gedanken sind eins mit meiner Optik. Verschmelzen zu einem Bild. Zu unserem ganz individuellen Bild. Wieder.

Mit dem Verstummen der musikalischen Klänge verstummt auch mein Gedankenfluss. Lasse den Pinsel sinken. Lege ihn neben mich. 

Ordne meine Gedanken, lege meinen Fokus. 

Luna ist mittlerweile fertig damit, den Hund zu verarzten. Geschickt wie eh und je. Gutmütiger als der treue Begleiter zu ihren Füßen. Der sich damals ganz offensichtlich für sie entschieden hat. Gegen mich. Aber das war schon ok, ich habe Buddy ja heute Abend wieder zu ihr gebracht, denn er soll sie an mich erinnern. Nachdem sich das arme Ding sich verlaufen hatte, konnte ich nicht anders, sonst ist sie noch ganz einsam. Gut, dass ich immer aufpasse. Immer beobachte.

Sie hält das Handy fest in der Hand, prüft zweimal, ob die Haustür verriegelt ist. „Vergiss nicht das Dachfenster“, denke ich. „Sonst bricht noch irgendein Irrer bei dir ein.“ Ein Schreien erstickt im Husten dringt zu mir. Sie hat wohl das Foto gefunden. Unser Foto. Endlich. Der Spaß geht los. Aber was tut sie denn da. Das Handy angewidert weggestreckt  von sich drückt sie auf den „Löschen“-Schriftzug oberhalb des Bildes. Wie kann sie nur unser gemeinsames Foto, unsere letzte Erinnerung löschen? Hat sie somit auch mich gelöscht? Was ich sehe, gefällt mir auf einmal ganz und gar nicht mehr.

Ihre Gesichtszüge sind unruhig geworden, ihre Augen verdunkeln sich, keine Spur mehr von den ruhigen mandelförmigen vertrauenserweckenden „Sternen, die vom Himmel gefallen sein müssen.“ Damals hatte sie über diesen Satz nur lachen können, hatte aber trotzdem eingewilligt, nach dem Unterricht mit mir einen Kaffee trinken zu gehen. Ich bin mir sicher, ich sehe die Sterne strahlen bis heute in ihren Augen- ich hatte das damals übrigens genauso gemeint wie ich es sagte- aber jetzt hat sich eine Wolke vor die Sterne geschoben, ihre Augen huschen hin und her. „Hier bin ich“, flüstere ich. Am Himmel ziehende Wolken verdecken ebenfalls die Sicht auf den Sternenhimmel. „Ich gebe dir deine Sterne.“ Das hier gerade ist ein scharlachroter Moment in meinem ganz persönlichen Gemälde für dich.

Tief tunke ich den Pinsel in die etwas kleinere Dose. Die rote dickflüssige Substanz riecht leicht metallisch, ich habe lange nichts mehr gegessen. Wir werden gleich zusammen essen. Ich lasse den Pinsel selbst den Weg über die Leinwand bestimmen. Ich betrachte das zweite Strichmännchen, genauer gesagt, Strichfräulein auf der Leinwand neben dem schon erschaffenen Strichmännchen. Sie stehen nebeneinander neben einem Pool unter einem Baum. Irgendwas stimmt nicht. Hier ist eine Distanz, die nicht sein sollte. Der Fehler ist schnell behoben. Ein Strich und zwei Halbkreise später zeigt mein Gemälde zwei Menschen nebeneinander. Händchenhaltend jetzt. Mit einem Herz über ihren kleinen Köpfen. „Sag mir, dass wir das sind.“ 

Ich bin bereit und hoffe, du bist es auch.

Mit diesen Worten -an mich selbst gerichtet, man könnte meinen ich sei etwas von der Rolle- greife ich mir den Papyrus unter den Arm, bedacht ihn nicht zu beschädigen, wenn ich langsam aber bestimmt durch das Gebüsch auf deine Wiese krieche.

Wenn du es nicht so erkennen möchtest, zeige ich es dir eben. Gar kein Problem. Ich versuche, mich nicht ruckartig zu bewegen, verschmelze mit den Schatten, tauche ein in die Nacht. Du merkst es nicht, Luna, du bist zu sehr damit beschäftigt, Buddy zu verarzten. Er blutet stärker als zuvor, der dunkle dickflüssige Saft beißt sich mit seinem fuchsfarbenen Fell, sickert auf den teuren Parkettboden. Es ist auch etwas auf deinen Ärmel getropft. Ich blicke erneut auf mein Werk in meinen Händen. Verwische ein paar Pinselstriche am Arm des einen Männchens, bis auch an dessen Arm eine zarte Blutspur verläuft. Jetzt hast du auch hier Buddys Blut am Arm, realitätsgetreu bin ich, das muss ich mir lassen. Dass Tiere so dickflüssiges Blut haben, wusste ich auch vorher noch nicht, aber man lernt nie aus, so als Künstler. Außerdem leuchtet es im fahlen Licht der Poolbeleuchtung so schön. Extravagant. Jetzt aber weiter, ich will deine Reaktion sehen. 

Bedacht, nicht den Bewegungsmelder einen knappen Meter entfernt von mir auszulösen, wie dein Hund es abends so oft tut, balanciere ich zwischen Rasen und Zaun auf dein Fenster zu. Stolpere fast über meine eigenen Füße, als ich das beinah lautlose Öffnen der Schiebeterrassentür bemerke. 

Mein Puls beschleunigt sich unkontrolliert, ich habe das Gefühl er sitzt direkt oberhalb meiner Lungen. Das Pochen wird begleitet von einer Hitzewelle, die meinen Nacken hinauf steigt, meine Ohren werden ganz warm. Die klassische Kampf-Flucht Reaktion. Doch für das, was ich diese Nacht geplant habe, ist keine Flucht vorgesehen. Wer wagt, gewinnt. 

Gleißend sticht mir das Licht in die Augen als ich nun den entscheidenden Schritt in den Radar des Bewegungsmelders mache. Mir ist bewusst, wie ich aussehen muss für dich, wie ein Einbrecher, der dir deine Ringsammlung entwenden will oder ein Irrer an Halloween, der den Bogen überspannt hat.

Du sagst ja gar nichts. Hast mich noch nicht einmal bemerkt. 

Stehst da, im Schein des in Chlor getränktem Spiegelbild des Sternenhimmels und dem Handy in der Hand. Nein! Wortlos lässt du es fallen. Nein nein nein! Wie kannst du mich einfach so wegwerfen? Löschen und dann wegwerfen? Gerade als ich dich auf unser offensichtlich fatales Beziehungsproblem ansprechen will, drehst du deinen Kopf in meine Richtung. Wenn ich nach unten sehe, da unten im Wasser sieht es aus als seien deine wallenden Haare ein Heiligenschein um deinen Kopf herum. Den Blick nach oben gerichtet sehe ich, siehst du mir nun in die Augen. Es ist, als würde die Zeit stehenbleiben. Was dir wohl durch den Kopf geht? Sag doch was, sprich zu mir!

Wie gelähmt vom Schrei siehst du mir entgegen. Mit aufgerissenen tränengefüllten Augen sprichst du auch wortlos zu mir, ich verstehe schon. Du hast Angst hier draußen, ich würde auch lieber reingehen. Meine entgegengestreckte Hand, nimm sie und wir gehen zusammen in dein sicheres Haus. Doch als ich einen weiteren Schritt vortrete, kreischst du nur auf einer Tonlage, die mir einen kurzzeitigen Tinnitus bereitet, was Zeit genug für dich ist, mit Buddy auf dem Arm durch die Tür ins Innere zu rennen. 

Warte doch! In wenigen langen Schritten stehe ich vor euch, bekomme die Hand noch zwischen die Scharniere, ich hab es doch fast geschafft ich bin gleich bei dir.

Mit geweiteten Augen starrst du mich an, durch das Glas hindurch und direkt in mein Herz. Knack. Taub gegenüber dem ersten zersplitterten Knochen, als die Tür sich wider meines Willen schließt. Knack. Dann ein heißes Auflodern in meinem rechten Handgelenk.  Mein Blut tropft auf das Porträt für dich, welches nun am Boden liegt. Ich wollte es dir doch zeigen. Ergießt sich auf ihre Gesichter, bis ihre Augen nur noch als zwei dunkelrote Flecken zu identifizieren sind. Zitternd, ohne auf das Jaulen des dämlichen Köters zu achten, beuge ich mich nach unten, greife nach der Leinwand. Mein rechter Daumen ist taub, hängt nur noch an Sehnen, nutzlos. Mit der anderen Hand drücke ich in einem Anflug der Verzweiflung mein Werk an die Scheibe. 

Verwirrt siehst du mich an, aber du musst dich ja auch erstmal beruhigen, einatmen und ausatmen nicht vergessen. Sonst kannst du ja keinen klaren Gedanken mehr fassen, ich bitte dich. Ja so ist gut, Haare aus dem Gesicht und dann noch einmal konzentriert gucken. Was siehst du? Wen siehst du? Gib den Figuren eine Identität. Sag mir, wer ich bin.

Ohne deine Lippen zu bewegen, lässt du Buddy langsam runter, der legt sich erschöpft neben dich. Volle Konzentration. 

Du scheinst noch nicht ganz zu verstehen. Ich werde dir helfen, dich unterstützen, so wie man das in einer funktionierenden Beziehung auch macht. Langsam schlurfe ich Richtung Pool, sehe schon aus wenigen Metern Entfernung das Handy am Grund des Bodens. Scharlachrot schlägt mir entgegen. Die Farbe der Liebe. Es schmerzt nicht, als ich mich kopfüber fallen lasse. Mit leichten Bewegungen halte ich das Gerät zwischen meinen geschädigten Fingern, bemerke fast gar nicht die dunkelrote Wolke vor mir im Wasser, als eine Naht weiter einreißt und die Blutgefäße sich pulsierend entleeren. 

Sieht irgendwie schön aus, hat etwas beruhigendes. Stelle erleichtert fest, dass das Foto noch im Unterbewusstsein des wasserfesten Geräts, im „zuletzt gelöscht“ Ordner auffindbar ist. Öffne es erleichtert.

Jetzt stehe ich wieder vor dir, mit dem Handy in der rechten Hand, dem Gemälde in der anderen Hand. Siehst du es endlich? Ich habe uns gemalt. Das sind wir, Luna. Du und ich. Wie damals. Ich habe es nicht vergessen und du bestimmt auch nicht. „Sag mir, dass ich noch jemand für dich bin“, fordere ich dich auf. Du sagst ja nichts. Kommst ganz nah an die Scheibe. Unsere Augen auf einer Höhe, kastanienbraun trifft stechend blau. Ich lege meine Hand auf die Spiegelung, neben dein Gesicht. Du kommst noch näher. Und schlägst mit voller Wucht auf die Spiegelung meines Gesichts und spuckst in meine Richtung. Zweimal. Dreimal. 

„Ich rufe jetzt die Polizei!“ Mit diesen Worten verschwindest du. Warte! Das Dachfenster ist doch offen! Jemand könnte einbrechen, bevor die Polizei hier ist, wovor auch immer du dich fürchtest. Nun ja, du bist allein zuhause, das kann ich schon verstehen. Ich werde eben für dich nachsehen. Das Dach ist schnell erklommen und das Fenster liegt knappe zwei Meter über dem Fußboden. Also reicht ein leichter Sprung und ich bin zur Stelle. Die Treppe in Richtung Wohnzimmer knarrt nur an der letzten Stufe, schon stehe ich auf dem karierten Teppich. Den Blick durch das Wohnzimmer schweifend suche ich dich, möchte zu dir, dich berühren, möchte bei dir sein. Neben dem Plattenspieler.

Ich lege die  Gabel wieder auf. Die Töne der Musik steigern sich, geben mir etwas Beruhigendes in meinem Unbehagen über deine Sicherheit. „Und warte hier im Daunenbett, bis die Sonne untergeht“, ertönt es aus der Anlage. Die Sonne ist ja bereits untergegangen, also worauf noch warten? Wo bist du? Ich komme zu dir!

Da stehst du wieder vor dem Spiegel, zerbrochen wie eh und je. Hast die Augen geschlossen. Langsam gehe ich auf dich zu, das Bild in meiner Hand. Aber was tust du da? Wieder und wieder schreibst du mit knallrotem Lippenstift auf den Spiegel, merkst gar nicht, wie er langsam abbröckelt. 

„Ich bin nicht allein, ich bin nicht allein, ich bin nicht allein“, lese ich. 

Gerade als ich dich fragen möchte, wie ich das verstehen soll, drehst du dich ruckartig um.

Siehst mich vor dir stehen. Schon jämmerlich irgendwie, du hast ja Recht. Dein Blick ist irgendwie wirr, deine Augen sind so fokussiert. Aber nicht auf mich. Du schaust an mir vorbei. Die Scherbe in der Hand drückst du immer fester zu während du auf die Terrassentür zuläufst. Direkt zu Buddy.

Kniest dich vor ihn. Siehst ihm mit diesem gefrierenden Blick in die Augen. „Und dann reiß ich der Puppe den Kopf ab, ja dann reiß ich der Puppe den Kopf ab…“ lösen kreischende Töne die Gitarrenklänge ab, während du ganz ruhig, mit Blick auf deine Spiegelung im Fenster die blutgetränkte Scherbe durch sein Fell und seine Kehle ziehst. Das Jaulen wird leiser, erstickt gurgelnd in den abschließenden Klängen der Musik, verstummt schließlich und eine Stille übermannt uns beide.

Wortlos richtest du dich auf, greifst nach meiner geschundenen Hand. Unsere Finger verschließen sich, dein Blut in meinem Blut. Wir sind ein zum Leben erwachtes Gemälde. Wir lieben uns. Ich habe es immer gewusst, wer ich bin und wer du bist. Du hälst die Scherbe vor uns, dass wir uns zur Hälfte darin spiegeln.

Die spitze Scherbe bildet eine perfekte Harmonie mit deinen mandelförmigen Augen. Über den hohen Wangenknochen funkeln deine Augen regelrecht und spiegeln die Reflexion des zerbrochenen Spiegels.

Du lässt deinen Blick von unten nach oben schweifen, bis sich deine Lippen zu einem fanatischen Lächeln verziehen. „Scherben bringen wohl doch Glück. Wir sind, wer wir zusammen sind.“

 

 

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