Julia LerchsterTodesnachricht

Prolog

Nico, vor neun Jahren
„Papa du nervst gerade wirklich. Ich leg jetzt auf. Tschüss!“
Im selben Moment legte Nico auf. Sein Vater kann aber auch echt nur nerven. Sicher nicht wird er mit dem heute zu Abend essen. Da verbringt er seine Zeit lieber mit Chrissi! Am Wochenende kann er sie endlich besuchen, zum ersten Mal. Dass er seine Freundin, die er übers Internet kennengelernt hat, allein in Berlin besucht, sagt er seinem Vater lieber nicht. Der soll einfach glauben, dass er mit Freunden dort unterwegs ist.
Nico schaut wieder auf seinen Laptop und bemerkt, dass er eine neue Nachricht hat – von Chrissi.
‚Hey! Sorry, mein Dad hat genervt! Bin jetzt wieder da. Ich freu mich schon so dich endlich zu sehen! Love you <3‘

 

 

Bianca, neun Jahre später, 18:37
Warum ausgerechnet heute? Jeden anderen Tag hätte sie gerne den Ladenschluss gemacht, da sie es eigentlich genießt, allein zwischen den zahlreichen Büchern zu stehen, zwischen hunderten Autoren und tausenden Geschichten. Oft schmökert sie am Abend noch durch ein paar Neuerscheinungen. Am liebsten natürlich durch Bücher der Kriminalabteilung – ihre Abteilung. Sie hatte Glück, dass sie vor knapp einem halben Jahr den Job in dieser Buchhandlung bekam. Erfahrung hatte sie als Laborassistentin natürlich keine im Buchverkauf, aber Jakob Merces, ihr Chef, merkte beim Vorstellungsgespräch an, dass ihm das Interesse an Büchern bei seinen Angestellten wichtiger sei als deren Vorkenntnisse.
Anders als sonst wollte Bianca heute einfach nur schnell fertig werden. Ihre Freundin Hellen, die sie beim Yoga-Kurs kennengelernt hatte, veranstaltete am Abend eine Grillparty und die wollte sie auf keinen Fall verpassen. Am schwierigsten zum Aufräumen ist immer die Leseecke, da man dort meistens Bücher aus allen möglichen Abteilungen findet. Heute sind zum Glück nur Bücher dabei, bei denen Bianca in etwa weiß, wo sie ihren Platz haben. Bei einigen Krimis schmunzelt sie: ‚Habe ich auch schon gelesen. Gute Wahl!‘ Nachdem sie alle Bücher verstaut hatte, richtete sie die Kissen auf den Lehnstühlen. Schließlich sollen die Kunden am Montag auch wieder eine schöne Leseecke vorfinden.
Sonst sitzt sie selbst oft auf einem dieser drei Stühle, aber heute hatte sie Stress. Als sie das eine Kissen aufhob, sah sie etwas im Hohlraum zwischen Sitzfläche und Armlehne des Stuhles liegen. Die Kunden verlieren während dem Schmökern oft Sachen. Brillen, Taschen, Geldbörsen – alles hatte sie schon gefunden. Bei Handys, wie es heute der Fall war, bemerken die Besucher des Ladens den Verlust zum Großteil schon sehr früh, meistens aber bei der Kasse. Genau dort wird die Person ihr Handy, das Bianca gerade vorsichtig aufhob, auch abholen können. Nachdem sie das Licht ausgeschalten hatte, ging sie die Treppe hinunter zur Kassa. Mittlerweile gab es dort auch schon eine Liste, in der man eintragen musste, wann man den Gegenstand wo genau gefunden hatte. Um nicht noch mehr Zeit zu verschwenden und ihr Handy aus der Tasche zu kramen, entschied Bianca sich kurz auf das gefundene Handy zu schauen, damit sie die richtige Uhrzeit eintragen konnte. Unabsichtlich entsperrte sie dabei das Handy. Im nächsten Augenblick zuckte sie zusammen. Da ist ein Foto vom Buchladen und auf dem Foto, die Frau, das ist…sie! Ganz eindeutig. Das ist ihr dunkelbrauner Pferdeschwanz, bei dem sie heute Morgen fast den Geist aufgegeben hätte. Das auf dem Foto ist eindeutig sie beim Bedienen des netten Kunden heute. Warum macht jemand Fotos von ihr? Obwohl die Angst unbegründet war, kauerte sie sich an die Wand um sicherzustellen, dass sich auf keinen Fall jemand hinter ihr befinden konnte. Vorsichtig wischte sie weiter durch die Galerie. Das nächste Bild ähnelte dem ersten sehr. Beim darauffolgendem Foto blieb ihr der Atem weg. Es gibt keinen Zweifel mehr. Bei den Bildern handelt es sich eindeutig um Bianca – Bei diesem sogar um eine Nahaufnahme von ihrem Gesicht! Welches Schwein nimmt bitte solche Fotos von ihr auf? Bianca hatte einfach nur noch Angst. Auf keinen Fall würde sie das Handy hier lassen. Sie atmete tief durch, stand auf und verließ so schnell wie möglich den kleinen Laden. Schon beim Abschließen hatte sie das unangenehme Gefühl, verfolgt zu werden und den Heimweg hielt sie fast nicht mehr aus. Wer macht sowas? Warum macht da irgendein Typ Fotos von ihr? Den ganzen Weg gingen ihr die Gedanken, dass sie während ihrer Arbeit beobachtet und fotografiert wurde, nicht mehr aus dem Kopf und sie begann zu weinen. ‘Heulsuse‘ hätte ihre Mutter sie jetzt wieder genannt. Sie war davon überzeugt, dass ihre Tochter zu viele Thriller lese und deswegen in jeder erdenklichen Situation schon einen Mord vermute. Die andere Seite von ihr kannte die Mutter zum Glück nicht. Seit ihrem Umzug hatte sie mit ihr keinen Kontakt mehr und darüber war sie auch froh!
Zuhause angekommen warf sie die Tür hinter sich zu, schloss ab und sank mit Tränen über das Gesicht verteilt zu Boden. Plötzlich bekam sie starke Kopfschmerzen. Solche wie damals, die sie als Kind immer hatte, wenn ihre Mutter mal wieder einen schlechten Tag hatte. Bianca saß lange Zeit einfach nur erstarrt am Boden, bis sie merkte, dass ihr Handy klingelte. Sie hatte es noch in der Tasche und fand es nicht sofort. Als sie es endlich in der Hand hatte, war das Display schon wieder schwarz, aber das Klingeln hörte nicht auf. Plötzlich zuckte sie zusammen. Es war nicht ihr Handy das läutete, sondern das des Fremden!

Werner, sechs Wochen zuvor
„Hören Sie mir jetzt gut zu! Mein Sohn war erst 18! Auf keinen Fall ist er eines natürlichen Todes gestorben!“
„Herr Hold, ich kann gut verstehen, dass der Tod Ihres Sohnes Sie sehr beschäftigt, aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass es bei Ihrem Sohn keine Anzeichen von Mord gibt. Noch einmal, wir haben weder Hämatome oder Verletzungen gefunden, noch gibt es Anzeichen dafür, dass er vergiftet wurde. Wir gehen mit Sicherheit davon aus, dass es sich um einen natürlichen Tod handelt.“
„Nein! Mit Sicherheit nicht! Oder kennen Sie etwa einen 18-Jährigen, der an einem Herzversagen gestorben ist?“
„Nein, ich kenne keinen! Es tut mir Leid, Herr Hold. Ich würde Ihnen gerne etwas anderes sagen, aber wir haben keine Gründe, den Fall von Nico wieder aufzunehmen. Wir haben das Telefon Ihres Jungen damals auswerten lassen. Er hat mit niemandem über Berlin geschrieben oder telefoniert. Auch in Nicos Zimmer gab es keine Spuren, dass er von jemandem dazu gedrängt oder gezwungen wurde. Hören Sie, der Fall ist mittlerweile fast neun Jahre her und bis jetzt gab es nie Gründe für uns, an einen unnatürlichen Tod bei Ihrem Sohn zu denken. Ich kann Sie verstehen, dass es Ihnen schwer fällt damit umzugehen, dass Ihr Sohn in einem so jungen Alter schon verstorben ist. Ich muss Sie aber trotzdem bitten jetzt zu gehen, ich habe noch einen Termin.“
„Sie verstehen gar nichts! Da wird einem immer gesagt, dass die Polizei dein Freund und Helfer sei und dann so etwas. Sie können sich sicher sein, dass ich nicht aufhören werde, an der Todesursache meines Sohnes zu zweifeln! Wenn Sie den Täter nicht finden, dann werde ich es tun! Wiedersehen.“

Bianca, 19:01
„Hallo?“, fragte sie mit zittriger Stimme.
„Ah, hast du mein Handy also doch gefunden! Wusste ich doch, dass die Stelle beim Lehnstuhl ein gutes Versteck ist.“
„Hallo? Mit wem spreche ich da?“ Bianca hockte immer noch mit angewinkelten Knien am Boden. Mit der einen Hand wischte sie sich die Tränen aus ihrem Gesicht, während die andere fest das Handy umklammerte.
„Bianca? Du weißt also nicht mit wem du sprichst?“ Die Stimme war männlich, kam Bianca aber nicht bekannt vor. Sie warf einen kurzen Blick auf das Display, um zu überprüfen, ob die Nummer angezeigt wurde. Sie war nicht überrascht, dass der Typ mit unterdrückter Nummer angerufen hatte, aber trotzdem etwas enttäuscht. „Mir wem spreche ich? Ich kenne Sie nicht!“
„Bianca, du kennst mich nicht! Zumindest noch nicht. Aber duzen darfst du mich trotzdem. Weißt du eigentlich…“
Bianca lies den Mann nicht ausreden. „Hören Sie zu! Wer auch immer Sie sind: Machen Sie nie wieder Fotos von mir und lassen Sie mich einfach in Ruhe! Ich leg jetzt auf. Ihr Handy können Sie dann nächste Woche im Laden abholen, aber die Fotos lösche ich.“
„Nanana, wenn ich du wäre, würde ich nicht so schnell auflegen. Oder interessiert es dich nicht, wie es Lina geht?“
„Lina? Wer soll jetzt bitte wieder Lina sein???“ Bianca konnte nicht mehr. Warum passiert so etwas genau ihr? Sie ist weggezogen, um ihre Ruhe zu haben und hier geht alles gleich weiter?
„Ahh, so schnell vergisst du also deine alte…“ „Stopp! Woher kennst du krankes Schwein Lina!“
„Du erinnerst dich also wieder. Schön. Lina, deine alte Freundin! Sie hat nur gemeint, dass du dich lange nicht mehr gemeldet hast. Und jetzt hör mir gut zu! Wenn du nicht willst, dass Lina was passiert, folgst du ab jetzt meinen Anweisungen. Wenn nicht…“ Die Person am anderen Ende vom Telefon sprach nicht weiter. Bianca schluckte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Lina war ihre besten Freundinnen aus Berlin. Sie haben sich damals beim Tanzkurs kennengelernt und sich sofort gut verstanden. Seit ihrem Umzug nach Klagenfurt wollte sie mit keinem von damals mehr Kontakt haben. Bei Lina ist ihr das sehr schwer gefallen, da sie früher fast jeden Tag gemeinsam etwas unternommen haben. Sie war immer für Bianca da, egal wann sie sie brauchte. Nach dem Umzug bekam sie oft Nachrichten, warum sie sich nicht mehr melde, aber Bianca wollte ihr ganzes Leben hinter sich lassen. Woher kannte der Typ Lina? Sie war kurz davor aufzulegen, aber dann dachte sie an ihre beste Freundin. „Ok. Was ist mit Lina? Um was geht es überhaupt?“
„Unwichtig! Hast du dir die Fotos schon alle angeschaut? Das glaube ich nämlich nicht. Sonst wüsstest du, was mit Lina ist! Ich melde mich später!“ Bianca wollte gerade antworten, aber da hatte der Typ bereits aufgelegt.
Weinend richtete sie sich auf. Sie schlich ins Bad, immer mit dem unguten Gefühl, dass sie verfolgt werden würde. Dort angekommen schnappte sie sich ein Taschentuch und setzte sich auf den Hocker neben dem Waschbecken. Langsam atmete sie ein paar Mal tief durch, um sich selbst zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Immer wieder musste sie an die Fotos und jetzt auch an Lina denken. Als sie es endlich schaffte, nicht mehr alle 20 Sekunden in einen neuen Weinkrampf zu verfallen, ging sie gemeinsam mit dem Handy des Fremden ins Wohnzimmer. Um ihr Gewissen zu beruhigen setzte sie sich so hin, dass sie sowohl die Tür zum Flur, als auch die zum Balkon im Auge hatte. Wenn da wirklich ein Verfolger wäre, würde sie ihn sofort sehen.
Sie schüttelte kurz ihren Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Warum sollte sowas ausgerechnet ihr passieren? Sie atmete noch einmal tief ein und aus, bevor sie das Handy wieder entsperrte. Da war es wieder: Die Nahaufnahme von ihrem Gesicht im Buchladen. Eigentlich wollte sie die anderen Aufnahmen gar nicht ansehen, aber sie tat es trotzdem – für Lina. Sie konnte ihre beste Freundin jetzt nicht einfach so im Stich lassen. Insgesamt fand sie sieben Fotos. Alle zeigten sie aus einem etwas anderen Blickwinkel. Irgendwas musste an diesen Bildern nicht stimmen. Irgendwo musste sie einen Hinweis auf Lina finden, sonst hätte der Typ es nicht extra erwähnt. Oder wollte er sie einfach nur quälen?
Sie war kurz davor das Handy einfach auf die Seite zu legen und auf seinen nächsten Anruf zu warten, da bemerkte sie, dass es in der Galerie des Handys noch einen weiteren Ordner gab. Sie klickte ihn an und erschrak. Das auf dem Foto ist Lina. Ganz eindeutig!

Lina, 19:13
„Was wollen Sie noch von mir? Ich hab Ihnen doch alles gesagt, was ich weiß. Lassen Sie mich gehen!“ Lina sitzt auf der Rückbank von Werners Wagen. „Du weißt, dass ich das nicht kann. Wenn ich dich jetzt raus lasse, kommt in spätestens einer Stunde die Polizei und Bianca hört dann auch nicht mehr auf mich.“
„Was haben Sie überhaupt mit Bianca vor?“
„Nico ist tot und sie ist daran schuld. Jeder bekommt das, war er verdient!“
„Tun Sie ihr nichts an! Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass Bianca da nichts dafür kann. Für Bianca war die Freundschaft mit Nico einfach ein Spiel. Sie wollte nie, dass es so weit geht. Dass es soweit kommen könnte, hätte ja keiner wissen können!“
„Doch, du anscheinend schon. Sonst hättest du Nico nicht gewarnt, dass er besser Abstand von ihr halten soll. Warum hast du nicht früher eingegriffen?“
„Woher hätte ich wissen können, dass die zwei sich wirklich treffen. Ich wollte Nico nur schützen. Ich hab Bianca oft gesagt, dass sie mit dem Scheiß aufhören und nicht mehr mit Nico schreiben soll. Aber sie hat nicht auf mich gehört! Deswegen habe ich dann Nico geschrieben und ihm erklärt, dass seine Chrissi eigentlich Bianca ist und dass seine Freundin eigentlich fast zehn Jahre älter ist.“
„Jaja, ich muss dir schon dankbar sein. Ohne dich wäre ich nicht auf Biancas Spur gekommen. Schuld an seinem Tod hast du trotzdem!“ Werner schmunzelte.
„Ach ja? Vielleicht hätten Sie sich einfach mal mehr um Ihren Sohn als um Ihre Arbeit kümmern sollen. So wie ich Sie einschätze, haben Sie rein gar nie Zeit für Ihn gehabt!“ Das war Werner zu viel. Das ließ er sich nicht von der 35-jährigen gefallen. Im nächsten Moment zog Werner an Linas Haaren. Sie wollte schreien, aber Werner war schneller und presste ihr die Hand vor den Mund. „Halt deine Klappe, du junge Göre! Das, was Bianca meinem Nico angetan hat, werde ich nie vergessen! Und dafür muss sie büßen. Apropos. Eigentlich wäre wieder der passende Moment, um deine geliebte Freundin anzurufen. Chrissi war doch damals ihr Name im Netz, nicht wahr?“

Bianca, 19:17
Das auf dem Foto ist ganz eindeutig Lina, ihre beste Freundin. Es hat ihr weh getan, sich seit damals nicht mehr bei ihr zu melden, und ihr Herz zerbrach fast, als sie ihre Freundin jetzt auf dem Foto sah. Gefesselt, auf der Rückbank eines Autos! Ihre blonden Haare waren zusammengebunden und nur einzelne Strähnen standen heraus. Das ganze Gesicht war rot angeschwollen und ihre Augen drückten einen Zustand von extremer Angst aus. Wer tut ihr nur sowas an? Sie schaute erneut auf das Foto, als der Bildschirm plötzlich seine Farbe änderte. Ein neuer Anruf, wieder mit unterdrückter Nummer. Wütend drückte Bianca mehrmals auf den grünen Knopf: “Lass sofort Lina frei! Egal, was du kranke Sau willst, Lina hat damit nichts zu tun!“
„He, ganz ruhig Bianca, oder sollte ich dich eher Chrissi nennen?“ Bianca erstarrte für einen kurzen Moment und hielt den Atem an. Langsam sagte sie Wort für Wort: „Woher wissen Sie diesen Namen? Was haben Sie damit zu tun?“
„Deine ach so liebe Freundin Lina war bereit, mir etwas mehr über deine Vergangenheit zu erzählen. Interessiert hat mich aber nur der Teil vor etwa neun Jahren. Kannst du dich erinnern?“
Lina soll was gemacht haben? Niemals hätte sie irgendjemanden von damals erzählt. Sonst fing Bianca immer zu weinen an, wenn sie an diese Zeit zurückdachte. Heute war sie aber wutentbrannt und schrie: „Was wollen Sie von mir? Warum durchsuchen Sie meine Vergangenheit? Wer sind Sie überhaupt?“
„Wer ich bin?“, die Stimme lachte auf. „Ich bin Werner Hold, der Vater von Nico!“
Ohne es zu wollen, schmiss Bianca das Handy auf die Seite, sprang auf und fing an zu schreien. Das konnte nicht wahr sein! Keine einzige Spur führte auf sie zurück! Sie hatte damals alles so gut durchdacht, obwohl es eigentlich nie soweit hätte kommen dürfen! Schnell hob sie ihr Handy wieder auf und schrie: „Was wollen Sie von mir?“
„Jetzt, wo du weißt, wer ich bin, können wir ja ehrlich zueinander sein. Reden! Ich will reden!“
„Reden? Ok! Aber lassen Sie davor Lina frei. Dann mach ich alles!“ Kurz nachdem sie diesen Satz ausgesprochen hatte, bereute sie es auch schon wieder. Früher hätte sie vielleicht alles für Lina getan, jetzt mit Sicherheit nicht mehr.
„Oh nein! Lina kommt danach frei. Versprochen! Schließlich hat sie ja versucht, meinen Sohn vor dir zu retten. Aber jetzt kommt Lina mit! Wo du wohnst, habe ich schon herausgefunden. Wir sind dann so in etwa 10 Minuten bei dir.“
„Es…es tut mir leid, Bianca!“, hörte sie aus dem Hintergrund. Es war Linas Stimme. Im nächsten Moment hatte Werner auch schon aufgelegt und Bianca sah wieder das Foto von Lina. Zehn Minuten also! Das war genug Zeit für Bianca um alles vorzubereiten! Emotionslos stand sie auf, ging ins Bad und öffnete den Apothekerschrank, wie sie es auch schon damals vor neun Jahren in Berlin gemacht hatte.

Werner, 19:24
„Also, erzähl nochmal. Wie haben Bianca und Nico sich kennengelernt?“
„Sie wissen bereits alles.“, antwortete Lina. „Ich weiß, aber ich will es nochmal hören!“ Werner grinste während der Autofahrt. Neun Jahre hatte es gedauert und jetzt ist es endlich soweit. Der Mörder seines Sohnes bekommt die gerechte Strafe.
„Also gut! Bianca und Nico haben sich damals auf einer Internetseite kennengelernt. Bianca stieß nur zufällig auf Nico. Er war eben wirklich nur zur falschen Zeit auf der falschen Website. Und dann hat sich das irgendwie so entwickelt. Bianca hat es Spaß gemacht, sich als jüngeres Mädchen auszugeben.“
„17! Bianca behauptete, sie wäre 17!“, wurde sie von Werner unterbrochen. „Ja genau, 17. Bianca hat gemeint, sie will es ihm nach einer Woche dann sagen, aber irgendwann konnte sie dann nicht mehr anders. Es hat ihr richtig Spaß gemacht, Nico zu belügen. Ein richtiger Catfish eben!“
„Catfish?“
„Ja, das ist wenn man andere Leute im Internet betrügt. Die Leute chatten meistens unter einer falschen Identität und spielen dann mit den Gefühlen von anderen. In dem Fall eben mit Nicos. Sie konnte irgendwann nicht mehr aufhören und als er sie dann auch noch besuchen wollte, wusste sie keinen anderen Ausweg mehr. Sie hatte endlich mal Macht, so wie es damals ihre Mutter über sie und ihren Vater hatte. Das wollte sie nicht verlieren. Sie konnte Nico nicht einfach sagen, dass sie Bianca ist.“
Werner lachte kurz auf. Bianca hat damals ihren größten Fehler gemacht und den wird sie in wenigen Minuten bereuen. „Wir sind da!“ Er stellte den Motor ab. „Dieses Haus muss es sein. Bianca wohnt im dritten Stock. Steig aus!“, sagte er. Er öffnete das Handschuhfach, nahm seine Waffe heraus und richtete sie auf Lina. „Hopp! Du gehst vor!“

Bianca, 19:28
Bianca griff zur Türklinke. Die andere Hand umklammerte fest das Küchenmesser. Sie schloss kurz die Augen, atmete tief ein und aus, dann öffnete sie zügig die Tür.
Lina riss die Hände in die Höhe, als sie das scharfe Messer sah. „Leg sofort das scheiß Messer weg!“, forderte Werner sie auf. Bianca rührte sich nicht. „Leg verdammt nochmal das Messer weg. Sonst knallt‘s!“ Langsam ging Bianca einen Schritt zurück und legte das Messer auf die Kommode neben sich, ohne dabei den Augenkontakt mit Werner zu unterbrechen. „Sehr gut. Und jetzt geh zurück!“ Bianca folgte seinen Anweisungen und ging ohne zu zögern rückwärts bis zum anderen Ende des Flurs. Werner nickte und stupste Lina mit der Waffe an. „Rein da.“ Nachdem alle in der Wohnung waren, stieß er die Tür mit seinem Fuß zu.
„Du willst reden, sagtest du? Da ist das Wohnzimmer!“ Sie öffnete die Tür neben sich und ging seitlich hinein. Werner folgte ihr. Er gab Lina ein Zeichen, dass sie sich auf das Ecksofa setzten durfte, richtete seine Waffe aber immer noch auf ihren Kopf. Bianca stand mitten im Raum.
„Warum hast du mir das angetan?“, frage Werner sie. Für einen kurzen Moment war es still, dann antwortete Bianca: „Es ging dabei nie um dich! Nico hätte mich einfach nicht besuchen dürfen.“ „Jaja, es tut dir leid. Lüg nicht! Sag mir, warum Nico!“ Bianca lachte kurz auf. „Nico war einfach zu naiv. Kein anderer Junge hat so lange mitgespielt. Keiner! Keine Ahnung wieso Nico mir die ganzen Geschichten geglaubt hat.“
„Hör auf! Hör auf so über meinen Sohn zu reden. Wie hast du Nico umgebracht?“
Bianca musste sich dazu überwinden, weiterzureden. Niemandem hat sie jemals davon erzählt. Nur Lina, und die hatte sie verraten. „Ich habe ihn vergiftet…“ „Lüg nicht! Die Polizei konnte kein Gift in seinem Körper nachweisen.“
„Es ist die Wahrheit. Es sollte aber wie ein natürlicher Tod wirken. Wenn du…“, sie richtete ihren Kopf zu Lina. „Wenn du nicht wieder mal die Heldin spielen müsstest, wäre es auch keinem Menschen aufgefallen. Nur du glaubst ja wieder einmal, du bist etwas Besseres und musst die Welt retten!“ Lina fing an zu weinen.
„Nanana, es geht hier immer noch um Nico und nicht um Lina. Wie hast du ihn umgebracht?“ Werner hielt seine Waffe noch immer auf Lina. „Ich habe ihn vergiftet. Mit DDT. Das Gift kann man im Körper nicht lange nachweisen!“
„Du lügst! Bei der Obduktion konnte man bei meinem Sohn keine Einstichspuren feststellen. Sag endlich die Wahrheit!“ „Es ist die Wahrheit. Ich habe es Nico gespritzt. In die linke Brustwarze. Einstichspuren kann man dort keine finden.“ Für eine lange Zeit hörte man nur Linas Schluchzen. Bianca kam einen Schritt auf Werner zu, während dieser sie fassungslos ansah.
„In die Brustwarze? Du hast meinen Sohn in die Brustwarze gestochen und ihn dadurch getötet? Ich glaub dir nicht. Das kann nicht sein.“ Werner wollte immer eine Antwort wissen. In den letzten neun Jahren hat ihn nichts mehr beschäftigt als der Tod seines Sohnes. Jetzt, wo er die Absichten der Mörderin seines Kindes weiß, hätte er am liebsten nie mit den Nachforschungen angefangen.
Bianca nickte. „Es tut mir leid, wirklich, aber ich hätte Nico nicht gehen lassen können. Er hätte es allen erzählen können. Jeder einzelne wüsste, dass ich ihn im Internet mit einer falschen Identität betrogen habe. Wir haben jeden Tag gechattet. Er hätte…“ „Wie?“, unterbrach Werner sie. „Wie habt ihr kommuniziert? Auf dem Handy gab es keine Spuren von dir!“
„Ich weiß. Nico hat mir erzählt, dass er Angst hat, dass seine Familie sein Handy kontrolliert. Er hat sich einen Laptop gekauft, den er überall hin mitnahm, damit sie ihn nicht finden.“ Bianca ging noch einen Schritt auf Werner zu.
„Beweis es! Wo ist sein Laptop?“
Bianca zeigte mit der rechten Hand auf das Regal schräg hinter ihm. Ohne zu überlegen drehte Werner sich um. In diesem Moment schlug Bianca ihm die Pistole aus der Hand und richte sie auf ihren Feind. Das überrumpelte diesen so stark, dass er zu Boden fiel. Er wollte wieder aufspringen, aber Bianca drückte ihn mit eine Fuß zurück gegen den Holzboden. Sie umklammerte mit beiden Armen fest die Waffe und richtete sie auf seinen Oberkörper. „Hop!“, rief sie zu Lina. „Steh auf! Da ist das Klebeband. Du weißt, was du zu tun hast!“ Lina blieb sitzen. Erst jetzt richtete Bianca ihren Blick auf sie. „Hörst du nicht? Mach jetzt, du falsches Schwein, oder willst du etwa auch wie Nico enden?“
Lina schüttelte aufgeregt den Kopf, nahm das Klebeband und fing dann an, Werner mit dem Klebeband zu fesseln. Dieser versuchte sich zu wehren. „Halt still oder du hast eine Kugel im Kopf!“, schrie Bianca. Werner gehorchte, machte es Lina aber dennoch nicht einfach. Nach etwa einer Minute richtete Lina sich auf und nickte Bianca zu. Nicos Vater lag gefesselt und mit einen Streifen Klebeband vor dem Mund am Boden. „Und jetzt hau ab! Denk daran: Ich lass dich nur am Leben, weil wir mal beste Freunde waren. Wehe du erzählst irgendjemandem davon. Ich schwöre es dir, ein Wort und du bist tot. Ich finde dich!“ Lina zögerte kurz, rannte dann aber in den Flur. Bianca konnte nur noch hören, wie sie die Tür hinter sich zu schlug.
Langsam legte sie die Waffe auf die Seite. „So, und jetzt zu dir.“ Sie ging zu der Kommode und öffnete die Schublade. „Du wolltest mir also nicht glauben, dass ich Nico vergiftet habe? Das habe ich mir fast gedacht. Deswegen habe ich eine Kleinigkeit für dich vorbereitet.“ Werner zuckte zusammen, als er in Biancas Händen die Spritze und die Ampulle sah. Sie packte ihn an seiner Schulter und zog ihn auf die Couch. Ruckartig riss sie die Knöpfe seines Hemdes auf, sodass er oberkörperfrei vor ihr lag. Sie stand auf, richtete sich zum Licht und zog die Spritze auf. Danach bückte sie sich wieder zu Werner. Dieser schüttelte verzweifelt seinen Kopf und versuchte sich zu bewegen. Bianca drückte ihn gegen das Sofa und fixierte mit einer Hand seine linke Brust. Er hätte sie nie suchen dürfen, dann wäre das alles nicht passiert. Bianca kam mit der Nadel näher an Werners Oberkörper, der mittlerweile erkannt hatte, dass er wehrlos war und nun nicht mehr versuchte, sich aus Biancas Griff zu befreien. „Jetzt kannst du miterleben, wie ich deinen Sohn umgebracht habe.“ Langsam führte Bianca die Nadel in die Brustwarze ein und drückte das Gift in seinen Körper. Werner hatte währenddessen seine Augen auf Grund der Schmerzen zusammengekniffen. „Ich habe dir gesagt, dass ich so deinen Sohn umgebracht habe, aber du wolltest es ja nicht glauben.“ Aus Erfahrung wusste sie, dass das Gift sehr schnell wirkte. Werner atmete schneller und sie entfernte das Klebeband aus seinem Gesicht. „Warum hast du Nico das angetan?“
„Ich wollte es nicht, aber es musste so sein!“ Sie stand auf und ging Richtung Tür. „Nein! Warte. Du kannst mich hier nicht einfach so liegen lassen!“, keuchte Werner. Bianca drehte sich noch einmal um, hielt ihren Zeigefinger vor ihren Mund und verließ den Raum.

Im Nebenzimmer setzte sie sich zum PC. Eine neue Nachricht von Nando. Süß, der kleine Junge. Sie überflog seinen Text und schrieb: „Ja! Ich kann es auch kaum erwarten, dich endlich persönlich zu treffen!“

9 thoughts on “Todesnachricht

  1. Hey Julia,

    Deine Geschichte hat es tatsächlich noch nicht auf meine To-Do Liste geschafft, hoffentlich hat Dein Post unter dem Video von Sebastian F. noch ein paar Leser wie mich hergebracht! Wenn Du Dich beeilst, lohnt es sich auch noch bei wir_schrieben_zuhause vorbei zu gucken!

    Ich möchte Deine Geschichte schon mit einem Like unterstützen, bevor ich (leider) zum Nachtdienst muss. Am Handy bekomme ich zwar das Lesen, nicht aber das Kommentieren hin. Morgen würde ich noch etwas feedbackiges ergänzen, einverstanden?

    Ich wünsche Dir, dass die Geschichte am letzten Tag des Votings noch viele Leser erreicht!

    LG
    Chris
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/identitaet-6

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