shantiTodestag

 

Der Herbst des Jahres 2007 tauchte London schon wochenlang in blaugrauen Nebel. Der matte Schein der Straßenlaternen spiegelte sich im klammen Kopfsteinpflaster.

Es war spät Abends, als Michael mit dem Zug in der britischen Hauptstadt am Bahnhof Paddington ankam.

Eine Geschäftsreise führte ihn aus seinem idyllischen Heimatort Plymouth hierhin. Mit seiner Frau und seinen zwei Kindern lebte er in einem liebevoll eingerichteten Haus.

Michael hatte sich mit seinen 45 Jahren in die Chefetage einer weltweit angelegten IT-Firma hochgearbeitet. In London würde er am nächsten Tag wichtige Geschäftsmänner treffen, um ein neues IT-Programm zu besprechen.

Vom Bahnhof war es nicht weit zum Hotel. Obwohl das Wetter nicht dazu einlud, wollte Michael dorthin laufen. Mit seinem kleinen schwarzen Koffertrolley ging er zügigen Schrittes die kleinen vernebelten Gassen entlang. An einer dunkleren Gasse bemerkte er einen Mann, der ihn verfolgte. Er war nicht ängstlich, aber es bereitete ihm ein ungutes Gefühl. Seine Nackenhaare stellten sich auf.

An der nächsten Gasse spürte er einen Schlag auf den Hinterkopf. Blut rann ihm durch das dunkelblonde, kurze Haar. Er spürte den aufkommenden Schmerz. Sein Schädel brummte.

Benommen nahm er seine Aktentasche und schlug um sich. Offensichtlich traf er den unbekannten Angreifer, denn dieser flüchtete. Michael setzte sich auf einen Treppenabsatz. Was war da eben passiert?

Noch schwindelig und mit hämmernden Kopfschmerzen ging Michael langsam zum Hotel. Der Weg war nicht mehr weit, dennoch fühlte es sich für Michael wie eine meilenweite Entfernung an.

Plötzlich hörte Michael im Nebel ein Handy klingeln. Aus Neugier ging er dem Geräusch nach und sah das Telefon auf dem Boden liegen. Gehörte das Handy etwa dem Angreifer?

Das Klingeln hörte nicht auf, sodass Michael abnahm ohne ein Wort zu sagen. Er hörte eine Männerstimme: „Ist der Auftrag erledigt? Haben Sie ihn?“ Michael legte auf.

Was war das? Er schaute sich um. Niemand war zu sehen. Er sah auf das Handy und da war sein Foto auf dem Display.

Was wurde hier gespielt? Wo war er hier nur hinein geraten?

Fragen über Fragen schossen ihm durch den Kopf. Schnell ging er weiter in Richtung Hotel.

Michael checkte bereits online ein, sodass er schnell in seinem Zimmer ankam. Er säuberte zunächst seine Wunde am Kopf und fühlte die wachsende Beule. Mit lauwarmem Wasser spülte er das schon angetrocknete Blut aus dem Haar, bis die rotbräunliche Farbe im Waschbecken verschwunden war.

Seine Gedanken kreisten um den Angriff und das unbekannte Handy. Er musste sich dieses noch einmal genauer ansehen. Neben seinem Foto gab es eine einzige Email auf dem Telefon:

Ankunftszeit: 20:45 Uhr

Paddington Bahnhof

Hotel: Ibis

Foto im Anhang

Lebend!

Keine Gnade!

Wer zum Teufel wollte ihm etwas antun?

Weiter unten stand eine Adresse von von einem Mr. John Myers. Nicht weit vom Hotel. Das musste der Auftraggeber vom Angreifer sein.

Michael ließ es keine Ruhe und packte seine nötigsten Sachen zusammen. Vor dem Hotel nahm er sich ein Taxi, um zu dem Absender zu fahren. Wortlos brachte der Fahrer ihn zur genannten Adresse – ein herunter gekommenes Haus aus frühen Zeiten. Es sah nicht sehr einladend aus.

An den Klingeln zählte er acht Mieter. Tatsächlich wohnte hier ein Myers. Michael nahm seinen Mut zusammen.

Er klingelte. Obwohl es schon nach 23 Uhr war summte der Türdrücker und er betrat den Hausflur.

Aus der ersten Etage ragte ein Lichtschimmer. Das musste die Wohnung des Mr. Myers sein. Vorsichtig ging er die Treppenstufen hinauf und blieb auf dem ersten Absatz stehen. Sein Herz schlug schneller. Michael blickte sich um und sah im Türrahmen einen schemenhaften Mann mittleren Alters stehen.

Der Mann konnte Michael nicht erkennen und fragte, was er wollte. „Sind Sie Herr Myers?“, fragte Michael den Unbekannten. „Wer will das wissen?“, entgegnete der Fremde.

Michael ging langsam weiter und stand dem Mann gegenüber. Jetzt konnte er sein Gesicht erkennen und war sichtlich überrascht. Der Mann glich Michael aufs Haar. Dabei hatte er doch keine Geschwister. Als Einzelkind wuchs er wohl behütet bei seinen Eltern auf.

Was zum Teufel war hier los?! Sein Gegenüber schien überrascht zu sein, Michael vor ihm stehen zu sehen.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren ging Michael die Treppe herunter und verließ das Haus. Wer war dieser Mann? Warum sah er so aus wie er? Und was hatte das mit dem Angriff zu tun? Langsam schlenderte er durch die Nacht zum Hotel und schlief mit lauter Fragen im Kopf erschöpft vor Schmerzen ein.

Am nächsten Morgen bereitete Michael sich auf den Geschäftstermin vor. Um zehn Uhr würden sie sich im Meeting-Raum des Hotels treffen. Bereits um halb zehn war er in dem hübsch angerichteten Raum. Das Hotel stellte für das Meeting Getränke und Snacks. Die Tische waren eingedeckt und ein großer Flipchart stand bereit. Michael verband seinen Laptop mit dem Flipchart und öffnete die Präsentation des neuen IT-Programms. Er hoffte auf die Zusage des großen Konzerns und seine damit verbundene Provision.

Der Kopf schmerzte ihm immer noch und ließ ihn wieder und wieder an den vergangenen Abend denken. Er nahm sich fest vor, seinem Ebenbild heute Abend einen zweiten Besuch abzustatten.

Pünktlich um zehn Uhr trafen sich die Geschäftspartner und waren erfreut Michael zu sehen. Weltweit hatte er sich einen Namen gemacht. Er nahm es in seinem Gedankenkarussell gar nicht wahr und begrüßte sie vor der beginnenden Präsentation. Nach erfolgreichen Stunden bekam Michael den Auftrag und war sichtlich erleichtert.

Zurück im Hotelzimmer klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab und vernahm ein räuspern. „Hallo?“, fragte Michael. Auf der anderen Seite der Leitung knackte es. Dann hörte er eine verzerrte Stimme: „Heute Abend bist du tot!“ Dann verstummte die Leitung und der Anrufer legte auf.

Erschrocken packte Michael seine Sachen und checkte aus. Er nahm sich ein Taxi zum Bahnhof und verwarf den Plan zu Mr. John Myers zu fahren.

Am Bahnhof Paddington musste er nicht lange auf seinen Zug warten. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend stieg er ein und setzte sich in eine leere Viererkabine. Der Zug fuhr pünktlich ab und steuerte seinen Weg nach Plymouth an. Am nächsten Bahnhof stiegen weitere Gäste ein. In der Kabine von Michael setzten sich zwei weitere Männer. Sie hatten eine stämmige Figur und ihre kurzen, dunklen Haare sowie die schwarze Kleidung sahen fast identisch aus. Die Männer unterhielten sich in einer osteuropäischen Sprache. Michael verstand sie nicht.

Plötzlich griff einer der Männer in seine Jackentasche und holte eine Pistole heraus. Der Lauf zielte auf Michaels Kopf „Kein Wort! Mitkommen!“ Michael war zu Tode erschrocken und konnte die Situation nicht einordnen. „Was wollen sie von mir?“ fragte er die Männer, doch er bekam keine Antwort. Sie wiesen ihm den Weg zur Zugtür und warteten auf die Ankunft im nächsten Bahnhof. Die Pistole versteckte der Mann unter seiner schwarzen Jacke; immer noch auf Michael gerichtet.

Bei der Ankunft in Taunton drängten sie Michael in ihrer Mitte aus dem Bahnhof, wo ein schwarzer Lieferwagen mit laufendem Motor wartete. Unauffällig öffnete sich die Schiebetür an der Seite, wo Michael von zwei weiteren Männern mit der gleichen Kleidung und den kurzen Frisuren in Empfang genommen wurde. Sie zerrten ihn in den Wagen, verbanden ihm die Augen und knebelten die Hände. Michael hörte einen der Männer telefonieren. Jedoch verstand er kein Wort.

Was ging hier nur vor sich? Was hatte er falsch gemacht? Er war doch nur ein gewöhnlicher Mann und hatte sich in seinem Leben nie was zu Schulden kommen lassen.

Michael hörte die Schiebetür zuschlagen. Auch die Beifahrertür knallte zu. Der Wagen fuhr los. Einer der Männer sagte etwas mit SWR. War das etwa der russische Geheimdienst? Was wollten sie von ihm?

Nach geschätzten zwanzig Minuten Fahrt hörte er den Wagen in eine Halle fahren. Der Motor wurde abgestellt und es wurde still um Michael. Die Schiebetür öffnete sich und er wurde grob aus dem Wagen geschubst. Geknebelt und gefesselt konnte er sich nicht wehren. Die Männer führten ihn wortlos zu einem Stuhl und setzten ihn dort hin. Man nahm ihm die Augenbinde ab und er fand sich in einer riesigen Lagerhalle wieder. Diese war ausgestattet mit technischem Equipment, mehreren Lieferwagen und einer Laborecke. Soweit Michael es beurteilen konnte, waren die Männer nicht erst seit gestern hier.

Aus der Laborecke kam ein Mann mit weißem Kittel auf Michael zu. Er zückte eine Spritze und setzte sie Michael in den Oberarm. Er spürte einen stechenden Schmerz und die Injektion brannte wie Feuer. Michael merkte, dass er schläfrig wurde. Lange konnte er die Augen nicht mehr offen halten und schlief ein.

Als er erwachte fand er sich auf einer Bahre in der Laborecke wieder. Seine Kleidung hatte man ihm ausgezogen. In seinem Adamskostüm lag er ausgeliefert dar. Eine Infusion tropfte kontinuierlich und führte ihm die Flüssigkeit in den Arm. Auf einer zweiten Bahre neben ihm sah er im Blickwinkel den Mann, den er im Haus in der Nähe des Hotels das erste Mal sah – John Myers. Michael versuchte zu sprechen, doch sein Mund war wie gelähmt. Auch seine Arme und Beine konnte er nicht bewegen.

Der Arzt ging zu John und sagte: „Alles in Ordnung. Es läuft wie geplant. Wir können bald mit der Transplantation beginnen.“

Michael bekam es mit der Angst zu tun. In seiner Bewegungslosigkeit hatte er keine Chance zu entkommen. Der Arzt schaute nach der Infusion. Sie war fast durchgelaufen. Michael fühlte sich immer mehr erstarrt. Dennoch war er bei vollem Bewusstsein.

John starrte ihn erwartungsvoll an. „Mein Bruder! Bald bist du erlöst. Wahrscheinlich weißt du gar nicht, dass du mein Zwillingsbruder bist. Unsere Eltern haben uns nach der Geburt weggeben und wir wurden getrennt. Du hattest immer Alles, ich hatte nichts. Von einer Pflegefamilie zur nächsten musste ich gehen. Geschlagen und gedemütigt haben sie mich. Es war kein schönes Leben! Heute bin ich krank und du wirst meine Rettung sein. So lange habe ich dich gesucht. Jetzt werde ich mir nehmen was mir zusteht!“

Michael war fassungslos. Nie hatten seine Eltern ihm davon erzählt. Geahnt hat er nichts. In seinem Kopf spielte sich sein ganzes Leben ab. Von seinen Eltern bekam er volle Unterstützung. Sie ermöglichten ihm sein IT-Studium. Es fehlte ihm an Nichts… Es waren nicht seine leiblichen Eltern? Das konnte sich Michael nicht vorstellen.

Der Arzt kam näher und zückte ein Skalpell. Michael wollte schreien, konnte es aber nicht. Über seinem Oberkörper gebeugt setzte der Arzt das Skalpell an und machte einen sauberen Thoraxschnitt. Michael spürte den unerträglichen Schmerz. Er konnte sich nicht wehren. Der Arzt legte das Skalpell beiseite und nahm die Knochensäge. Er durchtrennte die Rippen und legte das Herz frei. Was hatte er nur vor? Michael fiel in Ohnmacht. Diesen Schmerz konnte er nicht ertragen.

Als Michael wieder erwachte, hörte er den Arzt mit einem der schwarz gekleideten Männer reden. „Es hat alles geklappt. Der Tausch der zwei Herzen ist vollbracht. Sie können ihrem Chef beim SWR sagen, dass John bald einsatzbereit ist.“

Michael konnte sich wieder bewegen, doch ein stechender Schmerz in seiner Brustgegend ließ ihn zusammenzucken. Eine riesige Narbe zierte seinen Thorax. John lag neben ihm auf der Bahre und war an mehreren Infusionen angeschlossen. Auch er war wach. Michael fragte ihn, was hier eigentlich los sei.

John war sichtlich geschwächt von dem Eingriff. Er erzählte mit zitternder Stimme seinem Bruder die ganze Geschichte:

Als Babys wurden sie von den leiblichen Eltern zu Pflegefamilien gegeben, denn diese waren und sind Mitglieder des russischen Geheimdienstes SWR. Kinder passten nicht in diesen Lebensplan. Sie beobachteten die Zwei in ihrem Werdegang und planten sie eines Tages zum Geheimdienst zu bringen. John wurde krank mit einem Herzproblem. Nur eine Transplantation konnte helfen. Michael hingegen ist erfolgreicher Chef in einer IT-Firma. Genau diese Firma ist im Visier des SWR. Ein Spion in der Chefetage ist unverzichtbar. Die Eltern wussten genau, dass sie Michael nie überzeugen könnten, sein Familien und Berufsleben aufzugeben. Somit haben Sie John beauftragt, ihn mithilfe der russischen Agenten zu entführen und ihm sein Herz und seine Identität zu stehlen. Das war Michaels Todesurteil, denn Johns Herz wird nicht mehr lange schlagen…

Michael war schockiert. Er müsse jetzt sterben und sein Zwillingsbruder würde seine Identität annehmen? Seinen Job, seine Familie? Sein Herz schlug schneller, der Puls raste. Das konnte doch nicht wahr sein. Er versuchte aufzustehen, doch die Wunde in seiner Brust schmerzte so stark, dass er auf dem Boden in sich zusammen sackte. Er robbte sich zur Bahre von seinem Zwilling und wollte sich daran hochziehen.

Genau in diesem Moment schlug das kranke Herz ein letztes Mal…

Michael war jedoch nicht tot. Sein Herz schlug im Körper seines Bruders John weiter. In einem vollkommenen Leben als Familienvater, Chef eines IT-Unternehmens und natürlich Spion des russischen Geheimdienstes SWR.

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