larissamaricTotgeglaubt

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Es klingelte an der Tür und es war einer dieser schwülen Sommertage, an denen man am liebsten seinen Kopf in den Kühlschrank stecken wollte um dort abzuwarten bis er endlich wieder auf humane Temperaturen herunterkühlte. Auf dem Weg zur Haustür dachte Martin, dass der Kühlschrank keine Option war, was würden nur seine Kinder von ihm denken. Aber er beschloss direkt nachdem er die Tür geöffnet hatte ein kaltes Glas Soda gefüllt mit Eiswürfeln zu trinken. Zumal er sich nun sowieso wunderte, wer an einem heißen Sonntagmittag an seiner Tür klingelte. Wahrscheinlich waren es wieder die Nachbarn, die sich beschwerten, dass Mila und Janik zu laut im Pool des Gartens spielten. Er hatte Mila den Pool vor einigen Wochen als Belohnung für ihr tolles Zeugnis geschenkt, das ihr einen Platz auf dem Gymnasium für das nächste Schuljahr garantierte. Janik, der erst seit wenigen Monaten in den Kindergarten ging hatte auch was von dem Pool und somit war das Geschenk wohl eine gewinnreiche Situation für alle, wie es Martin seiner Frau Susanne nach dem Kauf erklärte. Martin liebte die ruhige und wohlhabende Wohngegend, in die es ihn und seine Frau vor neun Jahren verschlug, jedoch nervten ihn die spießigen Nachbarn immer mal wieder. Bereit für eine Entschuldigung und ein nettes Lächeln auf den Lippen gegenüber dem erwarteten Nachbarn, öffnete er die Haustür und sah niemanden. 

Er ärgerte sich schon über den vermeintlichen Streich, doch bevor er die Tür wieder schließen wollte, fiel ihm das Handy ins Auge, welches auf der Fußmatte lag. Er schaute sich noch einmal um und vergewisserte sich, dass wirklich niemand mehr in dem Vorgarten oder auf dem Weg davor zu sehen war. Niemand

Verwundert nahm er das Handy in die Hand und wusste nicht recht was er damit anstellen sollte. Vielleicht einfach liegen lassen und abwarten? Kann ihm ja schließlich egal sein, wenn es dann geklaut wird. Als er aus Neugier an den seitlichen Tasten des Handys drückte, tauchte ein Foto von zwei Kindern als Bildschirmschoner auf. Es traf ihn wie ein Stich in seine Brust dieses Foto auf einem fremden Handy vor seiner Haustür zu sehen. Aus den ersten Sekunden des Schocks wurde dann allmählich Angst. Seine Beine fingen an zu zittern und er kniete sich hin um mehr Gleichgewicht zu haben. Im nächsten Moment schloss er die Tür, nur um sicher zu gehen. 

 

Wie konnte es sein, dass jemand das Foto dieser beiden Kinder in Besitz hatte. Das konnte nicht sein dachte Martin. Ihm liefen Schweißperlen von der Stirn, nicht mehr wegen der unausstehlichen Hitze an diesem scheinbar normalen Sommertag, sondern wegen der Angst. Die Kinder auf dem Foto des Handybildschirms saßen einfach nur nebeneinander auf dem Boden, doch das reichte ihm um in Panik und Schrecken zu verfallen. Er schaute sich das Bild noch einmal an und dachte darüber nach wie alt die beiden Kinder wohl gewesen sein mussten am Tag der Aufnahme. Er wusste es genau, fast auf den Tag genau. Sie waren 10 und 4 Jahre alt. Als ihn die Erinnerungen immer tiefer zogen und er fast nass vor Schweiß auf seinen Knien hockte, weckte ihn eine sanfte Stimme aus seinen dunklen Gedanken. Er brauchte einen Moment bis er verstand. 

„Papi, wer sind die beiden Jungs auf dem Bild?“

Mila wartete mit einem Lächeln im Gesicht auf eine Antwort ihres Vaters. Doch dieser war nicht in der Lage zu antworten. Martin wurde immer tiefer in seine dunklen Gedanken hinabgezogen. Hinabgezogen in eine Welt, in die er nie wieder zurückkehren wollte. Eine Welt, die er aus seinem Leben verbannt hatte und sorgfältig hinter sich gelassen hatte. Als Mila mit ihrem Finger an die Schulter ihres Vaters tippte und die Frage noch einmal wiederholte, „wer sind die denn nun, Papi?“, erwachte er aus seinen abgrundtiefen Gedanken.

Es waren er selbst und sein kleiner Bruder auf dem Foto. Nur war dieses vermeintlich harmlose Foto eine Erinnerung an seine dunkle Vergangenheit und sein noch dunkleres Geheimnis. Niemand, nicht mal seine engsten Freunde und seine Familie wussten, dass Martin einen Bruder hatte. Wie sollten sie auch? Sein Bruder war seit über 25 Jahren tot. Zumindest glaubte Martin das bis heute, als er die Nachricht auf dem Handy las, die in dieser Sekunde eintraf:

„Hast du mich vermisst, großer Bruder?“

Martins Verwirrung stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben, als seine Frau Susanne ihn aus seinen Gedanken riss.                                                    „Martin? Hörst du mir überhaupt zu?“                      Martin versuchte sich die Erlebnisse der letzten Minuten nicht anmerken zu lassen.                                           „Entschuldige, Liebling. Macht ihr euch schon auf den Weg?“ Susanne hielt bereits ihren Koffer und einige Taschen in ihren Händen.                                                        „Ja, wir müssen los, mein Flieger geht schon in drei Stunden. Ich bringe Mila wie besprochen zu Valerie. Sie übernachtet heute dort. Ich melde mich dann, wenn ich in Zürich angekommen bin.“                                                      Martins Frau Susanne ist eine erfolgreiche Finanzberaterin, für die es keine Seltenheit ist zwischen Frankfurt, Zürich und anderen Städten zu pendeln. Wie auch heute, machte sie sich oft schon sonntags auf den Weg um montags früh in den Unternehmen, die sie beauftragten, zu erscheinen. Martin freute es, dass seine Frau so erfolgreich war und unterstützte sie gerne, zumal er als Professor sehr flexibel war und nur Vorlesungen gab, während seine Kinder in der Schule und im Kindergarten waren. Er genoss die Zeit zu Hause und mit den Kindern und dafür wurde er von seinen Freunden und Bekannten oft bewundert. Hausmänner waren selbst im Jahr 2020 noch etwas eher Seltenes, schien es ihm immer wieder.                                             „Okay, dann lasst euch mal drücken bevor ihr geht.“         Martin gab seiner Tochter Mila einen liebevollen Kuss auf die Stirn, bevor er sich dann auch von seiner Frau verabschiedete. „Guten Flug und dir Mila viel Spaß bei Valerie. Aber nicht zu spät ins Bett gehen, morgen ist schließlich Schule.“        Seine Tochter bestätigte dies mit einem Nicken und einem Schmunzeln auf den Lippen. Auch Janik verabschiedete sich nun von seiner Mutter und seiner Schwester. Als die beiden die Einfahrt herunterfuhren und Janik auf dem Arm seines Vaters hinterher winkte, schlug Martin seinem Sohn vor, dass er noch einmal in den Pool gehen könne, was seinen Sohn sehr erfreute. Als Martin sich auf einen Gartenstuhl fallen ließ um ein Auge auf seinen Sohn zu haben, erfasste ihn ein kalter Schauer als er an das Bild und die Nachricht seines totgeglaubten Bruders dachte. Er hatte das Handy in seine Hosentasche gesteckt, jedoch war er noch nicht bereit es wieder herauszuholen. Zu viel Angst hatte er vor weiteren Nachrichten. Wie konnte es sein, dass Henry ihm nach 25 Jahren diese Nachricht zukommen ließ, schließlich war er tot. Er war mit nur vier Jahren an einem Erstickungstod umgekommen. Eine Erstickung durch Martins eigene Hände.

Martin hatte seinem Bruder damals das Leben genommen und er hat den leblosen Körper des vierjährigen gesehen. So schmerzhaft die Erinnerungen auch sind an diese Nacht vor 25 Jahren, er hat die Tat weder vergessen noch verdrängen können, obwohl es das ist, was Menschen Tag für Tag tun. Sie schauen weg und vergessen die schrecklichsten Erlebnisse, anders würden sie ihr Leben gar nicht mehr bestreiten können. Martin verdrängte mit Sicherheit auch das ein oder andere, er sprach sich davon nicht frei, es war etwas das jeder Tat, jedoch war er nie in der Lage gewesen den Mord an seinem kleinen Bruder zu verdrängen, der ihn jetzt mehr und mehr einholte.

Martin saß nun seit fast einer Stunde auf seinem Gartenstuhl und das einzige was sich bewegte, war Janik im Pool und seine Gedanken. Sie drehten sich immer wieder im Kreis, denn Martin war weder in der Lage eine Erklärung für die Nachricht seines Bruders zu finden, noch war er in der Lage die damit verbundene Wiederauferstehung zu verstehen.  Er dachte nun auch an seine Mutter, die letztes Jahr mit der Diagnose unheilbarer Lungenkrebs in ein Hospiz eingewiesen wurde. Sie hatte Martin einen Brief geschrieben und ihn um ein letztes Gespräch vor ihrem Tod regelrecht angefleht, doch Martin hatte auf diese einzige und letzte Kontaktaufnahme nie geantwortet. Diese alkoholkranke Frau war für ihn längst gestorben. Es mag sich für Außenstehende grausam anhören, den letzten Wunsch seiner sterbenden Mutter einfach zu ignorieren, doch Martin hatte nicht einmal überlegen müssen, so sehr hasste er diese Frau, die für ihn noch nie eine Mutter gewesen war. Hass ist ein starkes Wort, jedoch war es genau das, was Martin in Gedanken an seine mittlerweile wahrscheinlich tote Mutter empfand.

Eine Vibration riss ihn aus seinen Gedanken und er brauchte eine Weile bis er bemerkte, dass ein Anruf auf dem Handy in seiner Hosentasche einging. Unbekannter Anrufer. Er überlegte kurz das Handy verschwinden zu lassen und all die Gedanken, die es mit sich brachte, nahm den Anruf dann jedoch entgegen. Er sagt nichts beim Abnehmen. Und sein Gesprächspartner ebenso nicht. Es vergingen einige Sekunden bis er die Stimme eines Mannes hörte, die er noch nie zuvor gehört hatte und doch zu erkennen vermochte.                                       „Bruderherz, ist es nicht ein wundervoller Tag heute? Ich würde es natürlich auch vorziehen im Garten zu sitzen und das Wetter zu genießen, jedoch habe ich heute andere Pläne, wenn du verstehst.”                                               Martin schaltete den Anruf auf stumm und befahl seinem Sohn aus dem Pool zu kommen. Er schaute sich um und sah niemanden, jedoch fühlte er sich plötzlich beobachtet. Er fühlte Augen auf sich gerichtet, so wie Menschen spüren, wenn sie angestarrt werden, obwohl sie die Augen geschlossen haben. Er nahm seinen Sohn auf den Arm und machte sich auf den Weg ins Haus und verriegelte die Terrassentür. Er brachte Janik in sein Zimmer und schaltete seine Lieblingsserie mit Feuerwehrmännern ein. Janik beschwerte sich darüber nicht, er konnte stundenlang dabei verharren den Zeichentrickfiguren zuzuschauen. Danach machte sich Martin wieder auf den Weg ins Wohnzimmer, bevor er die Stummschaltung an dem Handy aufhieb.                      „Es wäre doch nicht nötig gewesen, dass ihr den Garten nur wegen meinem Anruf verlasst.” hörte Martin den Anrufer sagen, der in der Leitung gewartet hatte.

„Was willst du?” Es waren die einzigen drei Worte, die Martin nach einer gefühlten Ewigkeit rausbrachte.                  „Jetzt bin ich enttäuscht. So begrüßt man doch nicht seinen Bruder, der die letzten 25 Jahre totgeglaubt war, aber gar nicht tot ist und auch niemals tot war. Ich kann dich also beruhigen, du bist nicht verrückt und ich bin nicht wieder von den Toten auferstanden. Es war viel einfacher. Dein zehnjähriges Ich hat es vermasselt!”                         Martin war nun wieder starr vor Angst und vor Verwirrung. Er wusste nicht was ihn mehr aus dem Konzept brachte. War es diese hasserfüllte und dennoch ruhige Art wie sein Bruder mit ihm sprach oder was er sagte. Schließlich war Henry vier Jahre alt gewesen als Martin ihm im Schlaf an den Hals fasste und feste zudrückte bis er glaubte kein Atmen mehr zu spüren. Was ihn nun noch mehr irritierte war die Tatsache, dass Henry sich wohl kaum an diese Tat erinnern kann, also woher wusste er, was Martin ihm angetan hatte. Niemand wusste davon. Der Krankenwagen wurde damals nicht gerufen und die Polizei wurde auch nicht informiert. Die Tat wurde vertuscht und vergessen. Vertuscht und vergessen von der Frau, die Martin am meisten hasste.                                                     „Dir müssen gerade wirklich viele Fragen durch den Kopf gehen, Bruderherz. Doch ich habe gehört aus dir ist ein schlaues Köpfchen geworden und ich erwarte da schon ein bisschen mehr von einem Physikprofessor. Du erklärst deinen Studenten jeden Tag die Zusammenhänge von Spannung und Stromstärke, da wirst du es wohl schaffen eins und eins in meinem fehlgeschlagenen Mord zusammenzuzählen.”                                          Nach Minuten der Stille brachte Martin endlich wieder einige Worte heraus. „Wie hast du es herausgefunden?”
„Du meinst wie ich herausgefunden habe wer ich bin und woher ich komme? Oder meinst du, wie ich herausgefunden habe, dass du mich umgebracht hast oder sagen wir eher es versucht hast als ich gerade mal vier Jahre alt war!“ Nach einem kurzen Moment fügte Henry einen Satz hinzu, der Martin nun endgültig aus seinem so friedlichen und normalem Leben riss, das er bis vor wenigen Stunden noch gelebt hatte.                         „Vier Jahre. Wenn ich mich richtig informiert habe, ist auch dein Sohn vier Jahre alt. Was meinst du wie würde er sich fühlen, wenn ich ihm die Luft zum Atmen nehme und ihn dann einfach an einer gottverlassenen Tankstelle ablade?“          Die Angst, die Martin nun zu spüren bekam, war mit nichts anderem zu vergleichen, was er zuvor erlebt hatte. Und die erste Hälfte seines Lebens war nicht gerade lebenswert. Seine Kindheit war erfüllt von Angst und Gewalt, und doch schmerzten ihn die Gedanken daran, dass seinem Sohn etwas zustoßen könnte, mehr als alles andere. Er wollte hoch in das Zimmer seines Sohnes rennen, nur um sicher zu gehen, dass es ihm gut ginge und ihn im Arm zu halten. Dann bemerkte er einen Gegenstand an seinem Hinterkopf. Etwas Hartes berührte ihn nur ganz leicht. Er drehte sich um und sah eine Pistole direkt auf seinen Kopf gerichtet, in den Händen seines Bruders.

„Ich denke es ist nicht der Zeitpunkt um sich irgendwo hinzubewegen! Keine Angst, ich bin kein Psychopath und ich habe es nicht auf deinen Sohn abgesehen, sondern ganz allein auf dich!“                                                     „Bitte nimm die Waffe runter, Henry. Ich weiß nicht, was du alles über meine oder unsere Vergangenheit herausgefunden hast. Aber anscheinend nicht alles, sonst würdest du mir keine Waffe an den Kopf halten.“                                      „Nicht der Zeitpunkt für jämmerliche Bitten deinerseits. Ich weiß alles, Martin. Ich habe mit unserer Mutter vor ihrem Tod gesprochen! Sie wurde mit Lungenkrebs in das Hospiz eingeliefert, in dem ich gearbeitet habe. Nach wenigen Wochen haben wir herausgefunden, dass ich ihr Sohn bin. Nenn es Zufall, Schicksal oder einfach dein eigenes Pech, dass sie mir ihre Lebensgeschichte anvertraut hat, weil ihr Sohn sie nie besuchen kam. Wir sind auf die Parallelen gestoßen und ein Bluttest hat alles bestätigt!“                              Martin hatte vermutet, dass seine Mutter etwas mit dem Ganzen zu tun haben musste, schließlich war sie die Frau, die Martin bei der Erstickung erwischt hatte und dann den leblosen Kindeskörper an einer verlassenen Tankstelle verschwinden ließ. Er dachte daran, dass diese Frau ihm noch nie etwas Gutes gebracht hatte und sogar nach ihrem Tod wird ihm eine Waffe ins Gesicht gehalten – wegen dieser gottverdammten Frau.          „Sie hat mir erzählt, was für ein krankes Kind du warst, Martin. Du warst nie ein normales Kind. Du bist mit vier Jahren an einer Essstörung erkrankt. Schon in der Grundschule hast du angefangen zu zündeln. Mit nur acht Jahren hast du eine streunende Katze getötet! Und als das alles nicht genug war für dein krankes kleines Hirn, musstest du deinen Bruder auch noch umbringen!“                                                  Nun konnte Martin seine Emotionen nicht mehr unterdrücken und seine Tränen fanden einfach nur den Weg heraus aus seinen Augen über sein ganzes Gesicht. Sein Gesicht war überlaufen mit Tränen, so wie fast jeden Tag in seiner Kindheit. Er fühlte sich zurückversetzt in das heruntergekommene zu Hause, in die Ecke des verwahrlosten Kinderzimmers, wo er als Kind weinte und jeden Tag aufs Neue hoffte, dass man ihn erlösen würde. Martin hatte als Kind so oft an Selbstmord gedacht und es sogar versucht, jedoch hatte er es nie geschafft sich selbst das Leben zu nehmen und sein elendiges Schicksal zu beenden. So wie er es anscheinend auch nicht geschafft hatte, seinen Bruder zu töten. All die schrecklichen Erinnerungen und grausamen Taten während seiner Kindheit, die er immer zu versuchte zu verdrängen, waren nun lebendiger denn je und überkamen ihn.   „Du weißt gar nichts! Du nennst diese Frau eine Mutter? Sie war ein alkoholkrankes Wrack, dem ihre Kinder nichts bedeutet haben! Hat diese Frau dir auch erzählt, dass ich es war, der dir Tag für Tag die Windeln gewechselt und dich gefüttert hat, weil sie betrunken in der Ecke lag und es nicht mal selbst auf die Toilette geschafft hat? Und hat sie dir erzählt, dass sie keine einzige Träne verdrückt hat, als ich dich erstickt hatte und du dich nicht mehr bewegt hast? Das einzige was sie getan hatte, war mich zu beschimpfen was für ein jämmerlicher Nichtsnutz aus mir später einmal werden würde. Es stimmt, dass ich dich tot sehen wollte, aber sie war diejenige, die dich wie einen Müllsack am Straßenrand entsorgt hat! Ich wollte dich nur davor bewahren, dass du den gleichen Scheiß durchstehen musst wie ich damals!“                                             Nun überkamen auch Henry die Tränen, als er seinen Bruder diese Worte sagen hörte und spürte darin die Verzweiflung eines Zehnjährigen.                                                  Als Henry herausfand, dass die sterbende Frau im Hospiz seine eigene Mutter war, blieb ihnen nicht viel Zeit. Seine Mutter hatte ihm von Martin erzählt und von den Schwierigkeiten, die er ihr immerzu bereitet hatte, jedoch hatte sie nie über sich selbst gesprochen. Henry hatte immer das Gefühl, seine sterbende Mutter wolle sich das Leid von der Seele reden, so wie es die Menschen vor dem Sterben oft tun. Jedoch hat sie es anscheinend nie zu der gesamten Wahrheit geschafft, bevor sie der Tod überkam.                                             „Du denkst also man sollte allen Kindern, dessen Mütter alkoholkrank sind, das Leben nehmen? Das ist deine Erklärung? Du hast mir das Leben nehmen wollen, damit ich unserer Mutter nicht dabei zusehen muss, wie sie sich vollpinkelt? Hast du eine Ahnung, was ich mein ganzes Leben durchmachen musste während ich von einer Pflegefamilie in die nächste geschickt wurde? Mein ganzes Leben lang habe ich mich gefragt, warum man mich als Kind am Straßenrand entsorgt hat wie Abfall und warum ich keine eigene Familie hatte wie all die anderen Kinder. Ich wusste ja nicht mal wer ich eigentlich war und woher ich kam! Und das alles nur, weil du mich vor meiner alkoholkranken Mutter schützen wolltest?“                                   Was Martin nun seinem Bruder sagen wollte, hatte er noch nie einer Person erzählt. Er hat noch nie darüber gesprochen. Es war sein dunkles Geheimnis, so wie auch der Mord an seinem Bruder. Geheimnisse, die er für immer für sich behalten wollte. „Ich wollte dich nicht vor dem Anblick unserer Mutter beschützen, sondern vor den Handlungen unseres Stiefvaters!“ schrie Martin heraus. „Er hat mich missbraucht, Henry! Tag für Tag und unsere Mutter hat einfach weggeschaut. Sie wusste was er tat, wenn er ins Kinderzimmer kam und die Tür hinter sich schließ. Jahrelang hat dieser Mann mich vergewaltigt und unsere Mutter, wie du sie nennst, saß im Zimmer daneben und hat sich betrunken! DAVOR wollte ich wenigstens dich beschützen, wenn ich mich schon nicht selbst schützen konnte. Ich merkte, dass er mit der Zeit auch an dir interessiert war und ich wollte nicht zulassen, dass du durch die gleiche Hölle gehen musst wie ich!“

Martin konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und ließ sich auf den Boden fallen, so als ob nun all das schwere Gewicht, dass er seit seiner Kindheit mit sich trug, von ihm abfiel. Auch Henry hatte Mühe seinen Körper aufrechtzuhalten. So lange hatte er nach Antworten gesucht und gemeint, dass diese ihm helfen würden seine Vergangenheit zu verarbeiten. Jetzt, wo er die Wahrheit kannte, wünschte er sich, sie nie herausgefunden zu haben. Zu schmerzhaft war der Anblick seines Bruders der Tränen überströmt auf dem Boden lag und sich vor dem Schmerz seiner Vergangenheit wälzte.                     „ICH WOLLTE DICH NUR BESCHÜTZEN.“ schrie Martin immer und immer wieder raus.                                               Henry hatte seinen Bruder heute aufgesucht um sich an ihm zu rächen und nun war es das Letzte, an das er denken mochte. Er schaute auf die Pistole, die immer noch auf seinen Bruder zielte und ließ sie endlich von ihm ab.

Henry lief. Er wollte einfach nur weg. Die Worte seines Bruders trafen ihn tief. Tiefer, als er es gedacht hätte. Es war das letzte womit er gerechnet hatte, zumal er seinen Bruder aufgesucht hatte um ihn zu töten und dafür zu bestrafen, was er die letzten Jahre hatte durchmachen müssen. Den Großteil seines Lebens hat er sich die Frage stellen müssen woher er kam und wer er ist. Wer waren seine Eltern? Wo hat er die ersten vier Jahre seines Lebens verbracht? Und wer war in der Lage einen vierjährigen Jungen zu ersticken und ihn dann einfach auszusetzen? Die Fragen nach seiner eigenen Identität, Herkunft und Vergangenheit hatten ihn sein Leben lang zerrissen. Er war nie in der Lage gewesen ein normales Leben zu führen, selbst eine Familie zu gründen und gar Kinder zu zeugen, so schmerzhaft war die Ungewissheit, die ihn Tag für Tag begleitete.

Er war in seinen Gedanken versunken als ihn die Geräusche von einer Gruppe Jugendlicher wieder in die Realität zurückholten. Es war mittlerweile dunkel und die Hitze hatte sich gelegt. Verwundert darüber wie lange er an dem Ufer, zu dem er gelaufen war, wohl verbracht hatte, überprüfte er die Uhrzeit auf seinem Handy. Es war bereits zehn Uhr abends und mehrere Stunden waren seit seinem Besuch bei Martin vergangen. Plötzlich bemerkte Henry die Übertragung der Kamera, die er bei seinem Bruder im Wohnzimmer angebracht hatte um ihn für seinen Racheakt zu beschatten. Einen Racheakt, den er nun nicht mehr in der Lage war zu realisieren, jetzt wo er wusste warum sein Bruder ihm damals das Leben hatte nehmen wollen. Einzig und allein aus Schutz und Sorge und vielleicht sogar aus Liebe. Die Liebe eines Zehnjährigen. Die Liebe seines Bruders.
Als Henry diese Gedanken durch den Kopf gingen, verspürte er das erste Mal ein Gefühl von Geborgenheit. Er beschloss sich noch einmal auf den Weg zu Martin zu machen, um ihm zu sagen, dass er ihm verzeihen würde. Natürlich nicht auf Anhieb, Henry würde Zeit brauchen die Geschehnisse der letzten Stunden zu verarbeiten. Und natürlich würde er die Kamera aus Martins Wohnzimmer entfernen und gleichzeitig den Racheplan für immer ruhen lassen. Er blickte noch einmal auf sein Handy, wo die Übertragung der Kamera eingeschaltet war. Henry wollte diese gerade ausschalten, als er bemerkte, was sich in dem Wohnzimmer von Martin abspielte. Seine warmen Gedanken um eine Versöhnung mit seinem Bruder wandelten sich innerhalb von weniger Sekunden in eine eiskalte Schockstarre. Ein Schauer überlief Henry beim Ansehen der Bilder. Wie konnte er sich nur so täuschen lassen?

Er griff an seine Pistole, die unter seinem Hosenbund klemmte, und machte sich noch einmal auf den Weg zu dem Haus von Martin. Er war bereit für den Akt, den er schon seit Wochen geplant hatte, nur würde er diesen nun nicht mehr aus Rache vollstrecken. Zumindest nicht mehr als Rache dafür, dass Martin ihm das Leben vor 25 Jahren genommen hatte. Er würde nun aus Schutz zu seinem Neffen Janik handeln. Und nun verstand er Martins Tat vor 25 Jahren, die ihn vor Misshandlungen bewahren sollte. Er war bereit etwas Ähnliches zu tun, nur würde er diesmal richtig handeln und nicht dem Kind das Leben nehmen, sondern dem Vater, der es gerade gewaltvoll missbrauchte.

Martins dunkelstes Geheimnis war nicht der fehlgeschlagene Mord an seinem Bruder vor 25 Jahren, sondern das, was er mit seinem Sohn machte, wenn keiner zuhause war. So wie in diesem Moment.

3 thoughts on “Totgeglaubt

  1. Liebe Larissa,
    du hast dich thematisch an ein Thema gewagt, das ich als “triggernd” bezeichnen würde, ganz schön harter Tobak. Ich finde es interessant, wie du mit den Charakten spielst, denn obwohl Martin die Hauptperson ist, sympathisierte ich zu keinem Zeitpunkt mit ihm (auch nicht vor dem krassen Twist). Es fühlt sich an, als wäre man die ganze Zeit “beim Feind”. Für deinen lebendigen Schreibstil (vor allem zu Anfang) gibt’s ein Herzchen von mir! Viel Erfolg weiterhin,
    Sabrina
    (Ely)

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