Nicky DeMellyTotgesagt

 

Völlig erledigt von seiner kräftezehrenden Doppelschicht schlich Detective Dean Morelly über den Parkplatz des NYPD. Er wollte nur noch nach Hause, Sohnemann Mitch einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn drücken und sich mit Penny einen gemütlichen Fernsehabend machen. Wobei er garantiert auf dem Sofa einschlief.

   Scheinbar war man heutzutage mit 43 Jahren schon zu alt für diesen Knochenjob.

   Die untergehende Oktobersonne blendete ihn. Er bemerkte den hageren Kerl, der auf ihn zukam, erst, als er schon fast vor ihm stand. Dean schätzte ihn auf achtzehn Jahre. Seine fettigen, blonden Haare fielen ihm strähnig in die Augen. Die Klamotten, die er am Leib trug, waren zerlumpt und dreckig. Offensichtlich war er obdachlos.

   Der Gestank von kaltem Schweiß stieg Dean in die Nase, als der Junge ihm ein Handy hinhielt. „Hier, hab ich dahinten gefunden.“

   Sobald er es entgegengenommen hatte, rannte der vermeintliche Obdachlose eilig in Richtung Innenstadt davon.

    „Hey, warte, wo hast du das gefunden? Was …“, rief Dean ihm hinterher und überlegte kurz, ihm zu folgen. Doch der Kerl war schon in der Menschenmenge verschwunden.

   Dean war nicht böse drum, er war heute schon mehr als genug gerannt. Trotzdem musste er dieses Ding loswerden.

 Seufzend wandte er sich dem schwarzen Smartphone zu. Es schien neu zu sein, nirgends war ein Kratzer zu sehen. Es war auch nicht übersät von Fingerabdrücken. Ob es eingeschaltet war? Dean drückte eine seitliche Taste und hatte Glück, der Bildschirmschoner leuchtete auf. Er zeigte eine idyllische Holzhütte inmitten eines Fichtenwaldes.

   Für einen kurzen Moment wünschte sich Dean dorthin. Er war definitiv urlaubsreif.

   Aber für solche Träumereien hatte er keine Zeit. Wenn er endlich nach Hause wollte, sollte er zusehen, dass er den Handybesitzer ausfindig machte.

   Er wischte den Schoner zur Seite. Zwar ging er nicht davon aus, dass das Smartphone allein dadurch entsperrt sein würde, aber einen Versuch war es wert.

   Erstaunlicherweise war kein Sperrbildschirm eingerichtet. Die Freude hielt nicht lange an.

   Als er das Hintergrundbild sah, erstarrte er. Sein Herz raste. Die Beine drohten unter ihm nachzugeben, aber er schaffte es noch, sich an das nächstbeste Auto zu lehnen.

   Fassungslos starrte er auf das Foto. Wie konnte das sein? Das war doch gar nicht möglich!

   Langsam ließ er sich am Kotflügel hinabgleiten, fuhr sich mit der freien Hand über das schweißnasse Gesicht. Schloss die braunen Augen und versuchte, seine wirren Gedanken zu sortieren.

   Das konnte unmöglich wahr sein. Er hatte es sich eingebildet. Definitiv.

   Unsicher sah Dean nochmal hin. Wieder versetzte ihm der Anblick einen Stich.

   Es war real. Wie auch immer das möglich war.

   Das Foto hatte eine uralte Geschichte aus irgendwelchen Untiefen seines Gehirns wieder hochgeholt.

   Verflucht, die durfte niemals zur Sprache kommen!

   Die Person auf dem Foto war er selbst. Dean Morelly als Zwölfjähriger. Auf einem fremden Handy. Doch das war nicht das Schlimmste.

   Am Schlimmsten war, dass sein schrecklicher Fehler von damals eindeutig darauf zu erkennen war.

   Verzweifelt knallte Dean die Faust auf die harten Pflastersteine, lehnte den Kopf an den Wagen und schloss erneut die Augen. Er musste nachdenken! Wie konnte er nur verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kam?

   Sollte er einen Kollegen um Hilfe bitten?

   Fassungslos über sich selbst schüttelte er den Kopf. War er eigentlich bescheuert? Wenn herauskäme, was damals geschehen war, wäre er die längste Zeit Cop gewesen!

   Wieder blickte er auf das Smartphone, wobei er krampfhaft das Foto zu ignorieren versuchte. Er musste schleunigst herausfinden, wem dieses Mistding gehörte.

   Wer von seiner Vergangenheit wusste!

   Er suchte, nutzte alle Möglichkeiten, die ihm einfielen: Anruflisten, Adressbuch, Textnachrichten … Ohne Erfolg. Es war gar nichts auf dem Handy. Nur dieses verfickte Foto!

   Schlagartig wurde ihm klar, dass er das Bild finden sollte. Dass es keinen Besitzer für das Handy gab. Irgendjemand wollte ihn fertig machen. Der Obdachlose war nur der Überbringer gewesen, da war er sich sicher.

   Dean musste herausfinden, von wem er den Auftrag erhalten hatte! Wäre er doch nur hinterhergerannt! Wie sollte er den Kerl jetzt noch finden? Die meisten Obdachlosen hielten sich in den U-Bahnhöfen auf. Dort sollte er anfangen.

   Unterwegs zu seinem Auto überlegte Dean fieberhaft, wer es auf ihn abgesehen haben könnte. Es hatte definitiv mit der Sache von früher zu tun. Aber das Opfer war doch … Er konnte es nicht zu Ende denken.

   Niemand hatte damals mitbekommen, was er getan hatte. Dessen war er sich hundertprozentig sicher. Auch das Opfer konnte nichts mit diesem Scheiß hier zu tun haben. Wer war es also dann? Es blieb niemand übrig, verdammt!

   Dean spürte, wie seine Knie nachgeben wollten, hatte sein Auto aber glücklicherweise endlich erreicht. Zitternd ließ er sich auf seinen Sitz fallen und raufte sich verzweifelt die dunklen Haare. Sein Herz raste immer noch.

   Plötzlich klingelte das Handy. Erschrocken fuhr er zusammen, fast hätte er es fallen lassen.

   Jetzt würde sich wohl klären, wer hinter dieser Sache steckte. Doch Dean wollte es plötzlich gar nicht mehr wissen. Denn wenn er die Wahrheit erst kannte, war es zu spät. Zu spät, um auf einen irren Alptraum zu hoffen, aus dem er jeden Moment erwachen würde.

   Wenn er abhob, hatte er Gewissheit, dass er gnadenlos verschissen hatte.

   Machte er es aber nicht, konnte er nicht verhandeln, dass die Geschichte nicht an die Öffentlichkeit kam.

   In seinem Kopf herrschte Chaos. Er versuchte, das drückende Gefühl in der Magengegend weg zu atmen, während das Handy nervtötend weiterklingelte.

   Er musste es tun.

   Mit schweißnassen Fingern hob Dean ab und hielt sich das Smartphone zögernd ans Ohr. Versuchte, etwas zu sagen, bekam aber keinen Ton heraus.

   Dafür sprach der Kerl am anderen Ende.

   Nein. Kein Kerl. Die Stimme klang mechanisch und verzerrt. Wie eine Bandansage. „Erinnerst du dich? Du schuldest mir eine Erklärung. 21 Uhr an der Hütte im Wald auf dem Foto. Als Bulle wirst du wohl herausfinden, wo die ist!“ Ein Tuten ertönte.

   Dean ließ den Hörer sinken. Er spürte Schweißperlen an seiner Wange hinablaufen und wischte sie mit einer hektischen Bewegung weg. Sein Gehirn fuhr Achterbahn. Er hatte nicht den Hauch einer Chance, einen klaren Gedanken zu fassen. Verzweifelt krallte er die zitternden Finger in seine schweißnassen Locken und zog daran. Als wollte er das Chaos in seinem Kopf herausreißen.

   Jetzt komm runter!, fuhr er sich innerlich selbst an, doch es half alles nichts. Wieder und wieder hallte die Bandansage durch seinen Kopf, vermischte sich mit dem Foto, auf dem er … den verflucht nochmal größten Fehler seines Lebens begangen hatte! Dean war zu feige gewesen, um dazu zu stehen. Stattdessen hatte er zugesehen, wie Larrys Familie verzweifelt um ihren Sohn geweint und ihn monatelang, nein, jahrelang, gesucht hatte. Bis heute hatten sie keinen Schimmer, was mit ihm geschehen war.

   Vielleicht war es an der Zeit, es ihnen zu sagen. Oder besser: Larrys Dad. Die Mom war, vermutlich vor lauter Frust und Trauer, ein Jahr nach seinem Verschwinden an einem Herzinfarkt gestorben.

   Somit hatte Dean wohl zwei Menschen auf dem Gewissen.

   Bei dem Gedanken zogen sich seine Eingeweide zusammen. Tränen schossen ihm in die Augen. Eilig bedeckte er sie mit den Fäusten, als das Handy erneut klingelte.

   Er hob zögernd ab und lauschte.

   Wieder eine Bandansage. „Hatte ich erwähnt, dass du deinen Arsch hierher bewegen sollst? Sonst wird dein Sohn leiden!“ Tut.

   Dean riss die Augen auf, sein Herz setzte einen Moment lang aus.

   Nein! Alles, nur das nicht! Nicht Mitch! Er hatte doch nun wirklich nichts mit der Geschichte zu tun!

   Durch das ganze Chaos schoss ein einzelner fraglich sinnvoller Gedanke in sein Gehirn. Was, wenn es Larrys Dad war, der irgendwie herausgefunden hatte, was wirklich geschehen war? Oh Gott, der würde Mitch vor seinen Augen … 

   Fuck! Nein! Niemals!

   Er musste die Hütte finden, und zwar schnell!

   Hektisch sah er auf die Uhr. Es war 18:28 Uhr. Ihm blieben zweieinhalb Stunden. Höchstens.

   Ja, er musste sich beeilen, sein Junge durfte auf keinen Fall noch länger leiden.

   Ihm war klar, dass er sich selbst in die Scheiße ritt, wenn er doch einen Kollegen um Hilfe bat. Aber jetzt ging es nicht mehr um ihn, sondern einzig und allein um Mitch.

   Dean stürmte in das Revier, auf direktem Weg zu seinem Partner Duncan. Der konnte dichthalten und hatte Ahnung von Technik. Wenn ihm einer helfen konnte, dann er.

   Wird er es für sich behalten?, schoss ihm durch den Kopf. Dann würde er sich auch strafbar machen. Konnte er das von seinem Partner verlangen?

   Nein, aber das machte jetzt keinen Unterschied mehr.

   Er erwischte Duncan an seinem Schreibtisch, packte ihn wortlos am Arm und riss ihn einfach hinter sich her.

   Sein Partner fluchte und riss sich schnell los, folgte ihm aber kopfschüttelnd in die Teeküche, die im Moment glücklicherweise menschenleer war.

   Kaum war die Tür hinter ihnen verschlossen, donnerte Duncan los. „Alter, tickst du noch ganz frisch? Was soll der Scheiß?“ Als er in Deans Gesicht sah, hielt er stirnrunzelnd inne. „Was ist passiert?“

   Dean konnte nicht mehr stehen. Er kauerte sich auf einem Stuhl zusammen und verschränkte die Hände im Nacken. Nach einigen Sekunden sah er auf. „Ich brauche deine Hilfe. Unbedingt. Aber niemand darf davon erfahren.“ Er hielt inne, starrte den Fußboden an und fügte leise hinzu: „Noch nicht.“

   Duncan atmete tief durch und setzte sich ihm gegenüber. „Du bist ja völlig aufgelöst! Was ist los?“

   „Die haben Mitch! Du musst für mich herausfinden, wo dieser Wald ist!“ Damit hielt er dem völlig verwirrten Duncan das Foto mit der Hütte unter die Nase.

   Sein Partner hob abwehrend die Hände. „Moment, ganz langsam. Eins nach dem anderen. Wer hat deinen Sohn? Warum?“

   Dean raufte sich die Haare und warf ihm einen gehetzten Blick zu. „Bitte, frag nicht. Versuch einfach herauszufinden, wo diese beschissene Hütte steht!“

   Duncan musterte ihn gedankenverloren, nahm dann aber das Handy und sah sich das Foto an.

   „Sind da noch mehr Bilder?“, fragte er und wischte den Bildschirmschoner zur Seite.

   „Nicht!“ Dean schoss nach vorn und riss ihm das Handy aus der Hand. Was er aber nur schaffte, weil sein Gegenüber wie versteinert dasaß. Langsam blickte Duncan auf und starrte seinen Partner an, die stahlblauen Augen schreckgeweitet.

   Dean konnte dem Blick nicht standhalten. „Ich erkläre es dir später. Jetzt geht es um diese Hütte. Um meinen Sohn!“

   Duncan brauchte noch einen Moment, dann lehnte er sich langsam zurück und fuhr sich mit beiden Händen über das blasse Gesicht. Atmete erneut tief durch und zuckte schließlich resigniert die Schultern. „Okay. Ich helfe dir. Aber du schuldest mir eine Erklärung.“

   Dean stieß erleichtert die Luft aus. „Bekommst du, versprochen. Danke, Mann!“

   Duncan nahm ihm das Handy wieder aus der Hand. Einen kurzen Moment verharrte sein Blick auf dem Foto. Dann schüttelte er den Kopf und tippte etwas darauf herum. Schließlich veränderte sich seine Miene. Angewidert sah er auf, sah Dean an, dann wieder auf das Handy.

   Dean spürte seine Innereien Tango tanzen. „Was siehst du? Zeig her!“, brüllte er ihn aufgebracht an, doch Duncan drückte sich kopfschüttelnd das Smartphone vor die breite Brust.

   Dean war am Rande der Verzweiflung. Was zur Hölle sah er auf dem verfluchten Mistding? Er knallte die Faust auf den Tisch und sprang ungehalten auf. „Rede, verdammte Scheiße! Oder zeig es mir wenigstens!“

  Duncan schien mit sich zu ringen. Er blinzelte einige Male, sah ihm nicht mehr in die Augen. Eher durch ihn hindurch. Als er das Handy endlich von seiner Brust nahm, sah Dean, dass seine Hand zitterte.

   Wieder wurden seine Knie weich. Er ließ sich auf den Stuhl fallen und sah Duncan verzweifelt an. „Was ist da zu sehen, Mann?“

   Erneut dauert es schier endlose Sekunden, bis Duncan ihm das Handy kommentarlos hinhielt.

   Dean nahm es, atmete tief durch, wischte den Bildschirmschoner zur Seite – und erstarrte.

 

 

   Zwanzig Minuten später saß Dean neben seinem Partner in dessen Ford Ranger auf dem Weg zum Wald. Duncan hatte drauf bestanden, zu fahren, denn Dean zitterte dermaßen, dass er schon zwei Mal das Handy fallen lassen hatte. Bis zum Auto war er mehr gestolpert als gegangen, weil seine Knie immer wieder nachgaben.

   Glücklicherweise hatte Duncan den versteckten Hinweis auf dem Foto – ein kleines Schild mit den Koordinaten an der Tür der Hütte – schnell entdeckt, sonst wäre Dean garantiert zusammengebrochen. Denn das Bild, das Duncan vor ihm versteckt hatte, zeigte nicht nur Mitch, sondern auch Penny. Beide gefesselt und geknebelt. Eine auf sie gerichtete MG machte den Anblick ähnlich verstörend wie die panische Angst in den Augen der beiden. Dafür würde Dean ihm so richtig den verfluchten Arsch versohlen!

   Wenn er doch nur wüsste, wer dieser verfickte Pisser war!

   Mittlerweile war es 19:13 Uhr. Sie hatten eine halbe Stunde Fahrt vor sich. Zeit genug für Duncan, eine Erklärung von Dean zu verlangen. „Erzähl mir von dem Foto.“

   Dean wedelte nervös mit den Armen. Er hatte absolut keinen Nerv, jetzt zu reden. „Du hast es doch selbst gesehen! Da saßen Mitch und …“

   „Du weißt, welches Foto ich meine“, unterbrach Duncan ihn mit ruhiger Stimme.

   Jetzt schwieg Dean. Natürlich war ihm klar, wovon er redete. Aber er schaffte es nicht, zu erzählen, was früher abgelaufen war.

   Kopfschüttelnd starrte er aus dem Fenster. Die vereinzelten Bäume am Straßenrand flogen förmlich an ihnen vorbei, im ständigen Wechsel fielen Sonne und Schatten ins Auto.

   Doch all das registrierte er nicht. In seinem Kopf vermischten sich längst vergessene Bilder der Tat mit dem Foto seiner Familie. Von seinen Liebsten, die gerade Todesängste durchstehen mussten. Seinetwegen! Allein dieser Gedanke versetzte seinem Herzen einen schmerzhaften Stich. Dann sollte er noch von früher erzählen? Niemals!

   Dean spürte Tränen in seinen Augen. Die Erinnerungen und das schlechte Gewissen, das er über all die Jahre in sich hineingefressen hatte, waren wieder voll da und machten ihn fertig.

   Aber wozu sollte er noch schweigen? Es kam jetzt ohnehin raus. Er war sich sicher, seine Familie nur retten zu können, wenn er dem Entführer die Wahrheit über seine Tat sagte.  Was auch Duncan mitbekommen würde. Bevor sein Partner durchdrehte, wenn er ihn brauchte, erzählte er es ihm doch besser vorher.

   Dean atmete tief durch und räusperte sich, dann fing er endlich an. „Mit zwölf Jahren hatte ich noch eine Rechnung mit Larry, einem Vierzehnjährigen aus meiner Schule, offen. Hab ihn zum alten Steinbruch bestellt, wo er mich sogar schon erwartet hat. Eigentlich wollte ich nur mit ihm reden, doch irgendwann fing er an, mich zu schubsen. Ich wurde sauer, denn er hatte absolut kein Recht dazu! Er sollte sich entschuldigen für das, was er mir ein Jahr zuvor angetan hatte. Doch sowas hatte Larry nicht nötig. Im Gegenteil, er wollte mir noch die Schuld an seinem Verhalten geben. Ich bin ausgerastet. Hab den erstbesten Stock neben mir aufgehoben und ihm über den Schädel gezogen. Larry fiel um. Blieb liegen. Ich hab Panik bekommen. Bin einfach abgehauen. Ich meine, ich war zwölf! Wenn man in dem Alter einen zwei Jahre älteren …“ Er stockte und sah Duncan verzweifelt an. „Fuck, Mann, ich hätte Hilfe holen müssen. Das ist mir heute auch klar. Ich hab eine Riesenscheiße gebaut!“

   Duncan atmete tief aus. „Wann haben sie ihn gefunden? Wie geht’s ihm heute?“

   Dean starrte seine Füße an. „Man hat ihn nie gefunden. Ich denke, er ist im Steinbruch verrottet.“

   Duncan fuhr herum. „Du meinst, du hast ihn erschlagen?“
Wie schrecklich das klang! Doch es war die fürchterliche Realität.

   Dean nickte nur und lehnte den Kopf ans Fenster. Er war ein Mörder. Jetzt war es raus. Erstaunlicherweise fühlte er sich trotz aller bevorstehenden Konsequenzen erleichtert. Er hätte viel eher reden müssen.

   Duncan fuhr sich mit der Hand über den Mund. „Du hast es niemandem erzählt?“

   „Nein“, murmelte Dean.

   „Wofür sollte Larry sich entschuldigen?“, erkundigte sich Duncan nach kurzem Zögern. „Vor allem, warum erst ein Jahr später?“

   Dean schielte zu ihm rüber, verwundert, wie cool er reagierte. Auch, wenn er ganz schön blass geworden war, wirkte er gefasst. Was Dean erleichterte – es reichte völlig, wenn er durchdrehte.

   „Tut nichts mehr zur Sache“, murmelte er. Duncan musste nicht wissen, dass er das Jahr genutzt hatte, um sich ordentlich Kraft anzutrainieren. Genauso wenig musste er von seiner jahrelangen Therapie erfahren, die er dank Larry hatte durchstehen müssen. Jetzt gab es Wichtigeres zu besprechen. „Viel interessanter ist die Frage, wer es gesehen hat und warum sich dieser Jemand erst jetzt meldet.“

   Duncan nickte nachdenklich. „Das wäre wirklich interessant zu wissen. Wir werden es gleich erfahren. Übrigens: Ich werde mich irgendwo im Hintergrund halten und nur im Notfall eingreifen. Er wird nicht mit mir rechnen, so haben wir dann das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Ist das okay für dich?“

   „Ja, macht Sinn“, nickte Dean, froh darüber, dass er nicht weiter nachhakte.

   Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Dean versuchte die Zeit zu nutzen, um seine Gedanken etwas zu sortieren. Wenn er seine Familie heile daraus holen wollte, musste er einen halbwegs klaren Kopf haben.

 

 

   Kurz vor dem Ziel parkte Duncan den Ford unweit des offensichtlich kaum genutzten Pfades. Verdeckt von einigen Bäumen war das Auto auf den ersten Blick nicht zu sehen.

   Sie durchquerten den dichten Wald zu Fuß. Dabei hielten sie sich immer abseits des Weges, damit sie nicht doch noch frühzeitig entdeckt wurden.

   Die Luft war herrlich frisch, die Vögel zwitscherten ihre schönsten Lieder. Hier und da setzte die Sonne einen angenehm wärmenden Strahl auf den feuchten Waldboden. Etwas entfernt lugte ein Reh zwischen zwei Bäumen zu ihnen herüber und verschwand dann nahezu lautlos. Ihre Stiefel hingegen zerbrachen Zweige am Boden, wenn sie nicht im Moos oder aufgehäuften Fichtennadeln einsanken.

   All das hätte bei Dean normalerweise eine tiefe Entspannung ausgelöst. Er liebte die Natur. Die Ruhe, das Gefühl der Geborgenheit.

   Heute nahm er nichts davon wahr. Er starrte stur geradeaus, wartete ungeduldig auf den Anblick der Hütte.

   Als die endlich in sein Blickfeld kam, blieb er unentschlossen stehen. Einerseits fühlte er sich nahezu gehetzt von dem Wissen, dass seine Familie darin gerade Todesängste litt. Andererseits würde er sich jetzt seiner lange verdrängten Vergangenheit stellen müssen. Was eine Heidenangst in ihm auslöste. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

   Er warf Duncan einen verzweifelten Blick zu, wobei er gerade wirklich dankbar war, ihn an seiner Seite zu wissen.

   Sein Kollege erwiderte den Blick stirnrunzelnd. „Was ist los?“

   Dean öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Resigniert wandte er sich ab.

   Duncan drückte ihm aufmunternd die Schulter. „Hey, sieh mich an.“

   Es fiel ihm unglaublich schwer. Das Gefühlschaos in ihm machte ihn fertig. Ihm fehlte die Kraft, sich jetzt noch kluge Sprüche anhören zu müssen. Andererseits war er froh, es nicht allein durchstehen zu müssen.

   Er gab sich einen Ruck und hob den Blick.

   Duncans Miene war ernst, als er mit sanfter und doch fester Stimme sagte: „Du schaffst das, klar? Denk dran, in diesem Moment zählen nur Mitch und Penny. Die holen wir jetzt gemeinsam da raus. Um dich kümmern wir uns später, wenn die zwei in Sicherheit sind.“

   Dean nickte, unfähig zu antworten. Aber er ging weiter, gefolgt von Duncan, der wenig später zwischen den Bäumen verschwand und sich daran machte, die Umgebung zu checken.

   Dean zog seine Waffe aus dem Holster und überprüfte sie grob. Dann sog er tief den frischen Sauerstoff in die Lungen und schlich schließlich langsam zur Hütte. Im Schutz der Bäume umrundete er sie. Menschen waren nicht zu sehen, aber er entdeckte eine Vorder- und eine Hintertür sowie zwei Fenster. Ob er in eins hineinsehen konnte, ohne entdeckt zu werden?

   Blieb ihm eine andere Wahl?

   Er seufzte, straffte die Schultern und stahl sich geduckt zum Haus. Dicht an die Holzwand gepresst arbeitete er sich langsam bis zum Fenster vor und schielte vorsichtig hinein. Die Sonne reflektierte an der Scheibe, drinnen war es fast dunkel. Er sah gar nichts.

   Verdammt!

   Dann musste er eben die andere Seite probieren. Als er die Hütte an der Rückseite umrundete, fiel ihm eine Bewegung im Wald auf. Reflexartig riss er die Waffe hoch und zielte.

   Es war Duncan. Vor Erleichterung sackte er etwas in sich zusammen. Idiot!, rief er seinem Kollegen in Gedanken zu. Er musste wirklich besser aufpassen!

   Aber um ihn konnte er sich jetzt nicht auch noch kümmern. Kopfschüttelnd wollte er um die Ecke biegen, als er aus den Augenwinkeln sah, wie Duncan wild mit den Armen gestikulierte. Das war doch nicht zu glauben! War er jetzt unter die Anfänger gegangen, oder was?

   Wütend fuhr er herum, doch jetzt war Duncan verschwunden.

   Als er nun den kalten Lauf einer Pistole im Genick spürte, wurde ihm klar, dass Duncans Gesten ihm gegolten hatten.

   Fuck!

   „Waffe weg“, erklang eine tiefe, ruhige Stimme hinter ihm.

   Dean zögerte. Wenn er jetzt nachgab, war seine Chance, die beiden schnell befreien zu können, dahin! Aber er hatte keine Wahl. Langsam senkte er die Glock.

   „Weg damit.“

   Dean schloss die Augen und warf seinen tödlichen Freund ein stückweit von sich in das Moos.

   „Hände hinter den Kopf.“

   Er presste die Kiefer hart aufeinander, befolgte aber auch diesen Befehl. Seine Hände wurden nacheinander heruntergerissen und mit Kabelbindern hinter dem Rücken gefesselt.

   Widerstandslos ließ Dean sich zum Hintereingang schubsen. Wenigstens würde er jetzt sehen, wie es seiner Familie ging.

   Die Tür war nur angelehnt. Der nächste Stoß von hinten ließ ihn in den Raum stolpern. Der Geruch von gebeiztem Holz stieg ihm in die Nase. Unruhig sah er sich im Dämmerlicht der wohnlich eingerichteten Hütte um.

   Keine Spur von Mitch und Penny!

   Sofort flatterte es wie wild in seiner Magengegend, er begann unkontrolliert zu zittern. „Wo sind sie?“, brüllte er, suchte jede Wand nach einer versteckten Tür ab.

   „Nicht hier.“

   „Das war nicht die Frage!“ Ungehalten fuhr er herum – und erstarrte. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen fixierte er sein Gegenüber. Der Versuch, nachzudenken, scheiterte kläglich. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere. Dafür rebellierte sein Magen. Würgend wich er einen Schritt zurück, ohne den Blick von dem Kerl zu lösen.

   Der grinste ihn belustigt an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Na, hast du mich erkannt?“

   Wie in Zeitlupe schüttelte Dean ungläubig den Kopf, unfähig zu antworten. Das war nicht möglich! Wie konnte bitte Larry vor ihm stehen? Der Larry, den er vor Jahrzehnten erschlagen hatte!

   „Wie …“, presste er hervor. Mehr kam nicht aus ihm heraus.

   Larry lachte kalt, wurde dann aber schlagartig ernst. Langsam kam er näher, blieb direkt vor ihm stehen. „Ich will, dass du der ganzen Welt da draußen sagst, was du mir angetan hast.“

   Klar. Aber … „Wo ist meine Familie?“

   „Das verrate ich dir, wenn du geredet hast. Live vor dieser Kamera.“ Er deutete zum Schreibtisch, auf dem ein Laptop stand.

   Dean überlegte fieberhaft. Er glaubte nicht, dass er Penny und Mitch so einfach zurückbekommen würde. Irgendwas musste er aushandeln. „Okay. Ich erzähle alles. Aber wenn du mir danach nicht sofort sagst, wo sie sind, oder wenn die beiden auch nur einen Kratzer haben, werde ich auch den Grund für meine Tat nennen! Klar?“

   Larry schnaubte. „Wenn du versuchst, irgendwelche Lügen zu erzählen, wirst du es bitter bereuen.“ Ein eisiges Grinsen verzerrte sein Gesicht. „Aber erst, nachdem mein Kumpel deine liebe Familie abgeschlachtet hat.“

   In Dean zog sich alles schmerzhaft zusammen, fast hätte er sich gekrümmt. Doch er durfte seine Schwäche nicht zeigen. Schlimm genug, dass ihm der Angstschweiß von der Stirn lief!

   Hoffentlich hörte Duncan mit!

   Er holte tief Luft und sah Larry an. „Wieso lebst du noch?“

   Larry verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hättest fester zuschlagen sollen. Ich bin aufgewacht, hatte aber keine Ahnung, wo oder wer ich war.“ Er hob drohend die Faust. „Kannst du dir vorstellen, wie es ist, sein Gedächtnis zu verlieren? Wenn man sich selbst nicht mehr kennt?“

   Dean schüttelte stumm den Kopf. Dabei fragte er sich, ob das vielleicht sogar die richtige Strafe gewesen war, für das, was Larry ihm angetan hatte.

   Dieser fuhr unbeirrt fort. „Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Hab irgendwie die Straße erreicht und bin bei einem vorbeifahrenden Trecker auf den Anhänger geklettert. Der ist dann ne Stunde lang irgendwohin gefahren. Ich hatte keinen Plan, wo ich war und wo ich hingehörte. Kannte nicht mal meinen Namen! Fuck! Weißt du, was das für eine gottverdammte Scheiße ist?“

   Dean spürte eine leichte Schadenfreude in sich aufsteigen. Das, und nichts anderes, hatte er verdient. Er unterdrückte ein Grinsen und hörte weiter zu.

   „Erst letztes Jahr waren alle Erinnerungen wieder da. Du hast mir einunddreißig Jahre meines Lebens genommen! Dafür wirst du bezahlen, das schwör ich dir!“

   Dean sah sich unauffällig nach einem scharfen Gegenstand um, mit dem er seine Hände befreien konnte. Vergeblich.

    Er musste auf Duncan hoffen. Unauffällig sah er aus beiden Fenstern, konnte ihn aber nirgends entdecken. Vielleicht war er ja schon an der Tür …

   Larry holte ihn aus seinen Gedanken. „Die Kamera läuft. Erzähl der Welt, was du mir angetan hast!“

   Dean warf einen prüfenden Blick auf die kleine Linse am Laptop. Tatsächlich, sie leuchtete.

   Er wandte sich wieder Larry zu. „Das hast du doch gerade gemacht.“

   „Wie es mir ging, hab ich erzählt! Du sagst jetzt, wie du es geschafft hast, mich so leiden zu lassen!“

   Dean sah ihm kalt in die Augen. „Ich habe dich in den Steinbruch bestellt, damit du dich bei mir entschuldigen konntest.“

   „Wofür hätte ich mich entschuldigen sollen?“

   Dean lachte bitter auf. „Bist du sicher, dass ich das vor laufender Kamera erzählen soll?“

   Stirnrunzelnd starrte Larry ihn an. „Was hab ich denn gemacht?“

   „Ach, das hast du noch vergessen?“

   „Was meinst du?“ Larrys Stimme nahm eine höhere Tonlage an, scheinbar wurde er nervös.

   Dean grinste, wodurch er aber nur seine Frustration überspielen wollte. Larry hatte ihm als Kind fürchterliche Dinge angetan und er hatte überhaupt keine Lust, die jetzt öffentlich zu machen. Aber wenn er es doch durchzog, nannte er auch gleich den Grund für seine Tat. Und das war ein Grund. „Du willst es wirklich, oder? Aber zuerst sagst du mir, wo meine Familie ist. Ich komme hier doch sowieso nicht weg, also kannst du es mir doch verraten.“

   „Deine Familie ist da, wo du mich fast umgebracht hättest. Ein Freund von mir passt auf sie auf.“

   „Also am alten Steinbruch?“ Dean betete, dass Duncan alles mit anhörte. Wobei – sie waren ja live. Wenn Duncan irgendwas davon mitbekommen hatte, war der Captain schon lange informiert. Er würde vor dem Bildschirm sitzen und genau jetzt seine Leute losschicken, um Mitch und Penny zu retten. Da hatte Larry, der Idiot, wohl doch einen Dachschaden zurückbehalten, wenn er sowas nicht bedachte!

   Larry nickte. „Ja, am Steinbruch.“

   „Geht’s ihnen gut?“

   „Solange du kooperativ bist, wird ihnen nichts passieren.“

   Dean atmete erleichtert aus. „Gut.“

   „Dann schieß mal los!“

 

 

   Diese Erinnerungen wieder hochzuholen war die Hölle. Es war nicht nur so, dass Larry ihn täglich quer über den Pausenhof gejagt, seinen Tornister in den Schlamm ausgeleert und dann in die Dornenhecke geworfen, oder seinen Kopf in die Kloschüssel gesteckt hatte. Nein, sogar das waren Peanuts gewesen im Gegensatz zu …

 

   Die Schule war aus. Wie jeden Tag fuhr Dean allein mit seinem alten Damenrad nach Hause und grübelte fieberhaft nach einer Ausrede für seine Mom, warum sein Hemd mal wieder zerrissen war. Sie hatten nicht viel Geld, vor allem nicht, seit sein Dad vor drei Jahren gestorben war. Sie konnten nicht jeden Tag etwas Neues kaufen! Also musste Mom es wieder nähen, wofür sie mit ihren zwei Jobs aber keine Zeit hatte. Sie würde unglaublich enttäuscht von ihm sein.

   Plötzlich hörte er Larry und drei seiner Kumpels. Er brauchte sich nicht mal umdrehen, um zu wissen, dass sie schon fast neben ihm waren. Verdammt, er hatte nicht aufgepasst!

   Es war zu spät für eine Flucht. So sehr er sich bemühte – er hatte keine Chance gegen die teuren Mountainbikes der Jungs. Nach wenigen Sekunden wurde er in einen Dornenbusch am Straßenrand geschubst. Die Stacheln drangen durch seine Klamotten bis tief in die Haut. Er schrie auf vor Schmerzen, was die Jungs nur noch mehr zum Lachen brachte. Sie packten ihn an den Beinen und rissen kräftig an ihm herum, bis er der Länge nach auf die Straße knallte. Dornen rissen tiefe Kratzer in seinen Rücken und Nacken, doch diesmal verkniff er sich mühsam einen Schmerzlaut. Diese Arschlöcher lachten ihn schon mehr als genug aus!

   Er versuchte aufzustehen, wurde aber von Larry heruntergedrückt. Dann setzte sich dieser Widerling auch noch auf seinen Bauch!

   Dean spürte Panik in sich aufsteigen. In seinem Inneren verkrampfte sich alles, Schweiß brannte in den frischen Wunden. Verzweifelt versuchte er, ihn von sich herunterzuschieben. Doch der Pisser wog sicher zwanzig Kilo mehr als er.

   Larry lachte gehässig. „Was? Mehr hast du Memme nicht drauf? Keine Muckis, was? Klar, wenn man kein Fleisch auf den Rippen hat … zeig mal her deine Hühnchenbrust!“

   Er packte das Hemd und riss es nun ganz entzwei. Dean schloss die Augen. Seine Mutter würde wieder heimlich weinen. Wegen ihm! Das war doch scheiße!

   Urplötzlich überkam ihn ein ungeheurer Hass auf die Jungs. Mit all der Energie, die er aus diesem ungewohnt starken Gefühlsausbruch gewann, schaffte er es endlich, Larry von sich zu stoßen. Schnell rappelte er sich auf und rannte los. Bloß weg von diesen Monstern!

   Er kam nicht weit. Alle vier stürzten sich auf ihn und prügelten auf ihn ein. Bis Dean wie ein Häufchen Elend schluchzend zusammengerollt auf der feuchten Erde lag.

   Larry stellte sich breitbeinig vor ihn hin und spuckte ihm ins Gesicht. „Das wirst du bereuen, du Wichser!“ Er nickte seinen Leuten zu.

   Zitternd versuchte Dean von ihnen wegzurutschen. Die würden ihn ganz sicher umbringen! „Bitte!“, presste er hervor, hob abwehrend die Hände. „Lasst mich in Ruhe!“

   Nein. Ließen sie nicht.

   Sie packten ihn an Armen und Beinen und zogen ihn bis auf die Unterhose aus.

   Dean wimmerte, versuchte sich zu wehren. Doch er hatte zu viel damit zu tun, ihre Schläge abzuwehren.  

    Larry trat zwischen die Jungs, grinste kalt – und riss ihm auch die Unterhose weg.

   Dean spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er versuchte sich zu bedecken, wurde aber von den anderen festgehalten. Sein Herz raste. Schamesröte erhitzte sein Gesicht.

   Larry stellte sich vor ihn und begutachtete sein bestes Stück. Lange. Dean zitterte immer mehr, er wollte im Erdboden versinken. Tränen liefen ihm über die Wangen.

   Jetzt kam Larry mit dem Gesicht ganz nah an seins. Dean konnte seinen stinkenden Atem riechen, als er zischte: „Mit dir sind wir noch lange nicht fertig!“

   Sie hoben ihn hoch, stießen ihn ein paar Meter weiter bis zu einem hohen Baumstumpf und warfen ihn bäuchlings drauf. Hielten ihn fest. Rissen brutal seine Beine auseinander.

   Dean brüllte und wand sich, heulte und flehte. Doch sie ließen nicht von ihm ab.

   Larry brauchte eine geschlagene Stunde. Dann fesselten die anderen Dean splitterfasernackt und blutend an einen Baum, wo er erst nach vier Stunden gefunden wurde.

 

   Dean war schweißnass, als er fertig erzählt hatte. Das Herz pochte hart gegen seine Brust, er atmete stoßweise.

   Larry hingegen starrte ins Leere. Ob er diese Geschichte wirklich vergessen hatte?

   Der Schweiß brannte Dean im Auge. Er wischte ihn mit der Schulter weg.

   Endlich regte sich etwas in Larrys Gesicht. „Musst du jetzt flennen, oder was?“

   Das war unglaublich! Es ging ihm am Arsch vorbei! Fassungslos schüttelte Dean den Kopf. „Du bist und bleibst ein widerwärtiges Arschloch! Warum hab ich dich damals eigentlich nicht verpfiffen? Nein, ich Idiot hab behauptet, dass ich die Täter nicht gekannt hätte. Hab dir sogar die Chance gegeben, dich zu entschuldigen! Aber was hast du Wichser gemacht? Du hast alles abgestritten und mich durch die Gegend geschubst. Mir die Schuld in die Schuhe geschoben! Weißt du was? Ich wäre froh, wenn ich damals noch ein paar Mal öfter zugeschlagen hätte!“

   Larry stürzte auf ihn zu, das Gesicht wutentbrannt. Ohne zu zögern rammte er die Faust in sein Gesicht. Drei Mal.

   Dean hatte den metallischen Geschmack von Blut im Mund. Er spürte, wie sein Jochbein anschwoll. Seine Nase pochte derart, dass ihm die Tränen in die Augen schossen.

   Trotzdem grinste er. „Du hast dich kein Stück verändert. Der gleiche beschissene Feigling wie eh und je. Auf einen gefesselten Mann einzuschlagen ist echt das Letzte.“

   Dafür kassierte er noch einen Schlag. Auch den nahm er hin und fragte dann: „Fertig? Was ist jetzt? Die Menschheit hat gehört, dass mein Schlag gegen deinen Kopf berechtigt war, also kannst du mich doch jetzt losbinden. Und deinem Kumpel Bescheid geben, dass der meine Familie frei lässt.“

   Sein Widersacher musterte ihn. Lange. Wie damals. Dean lief es eiskalt den Rücken herunter, er zitterte am ganzen Körper.

   Plötzlich war er sich sicher, dass es noch nicht vorbei war.

   Larry zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. „Weißt du, ich habe gelogen. Die Kamera nimmt auf, ist aber nicht live. So hab ich das auch früher schon gemacht. Deine Tat habe ich ebenfalls gefilmt. Als mir die Szene nach all den Jahren wieder einfiel, hab ich hier nach der Kamera gesucht und sie tatsächlich wiedergefunden. Zwar kaputt, aber der Film darin war völlig in Ordnung. Super, oder? Aber ich schweife ab. Jedenfalls weiß niemand, was hier drin gerade abgeht. Oder gleich. Ich habe nämlich eine grandiose Idee. Ich lasse deine Familie hierherbringen. Dann werden wir denen vorführen, was ich damals im Wald mit dir gemacht habe. Natürlich vor laufender Kamera. Anschließend werden wir uns das Video gemeinsam ansehen.  Wir werden es schneiden und die Teile veröffentlichen, die mir gefallen. Dann kannst du dein Leben als Bulle vergessen, denn niemand wird dich mehr ernst nehmen. Ist das nicht eine tolle Idee?“

   Dean konnte nicht antworten. Er war erstarrt. Konnte sich keinen Millimeter rühren. Nicht mal atmen. Er hoffte inständig, dass Duncan seinen Job gemacht und seine Familie gerettet hatte. Dann würde er einfach weiterhin keine Luft mehr holen.

   Wozu auch? Sein Leben war gelaufen. Spätestens, wenn Larry gleich mit ihm fertig war. Es war wohl für alle das Beste, wenn er jetzt und hier draufging.

   Ihm wurde schwindelig und kotzübel, als Larry sich nun an seinen Klamotten zu schaffen machte. Er schloss die Augen und hielt still.

   Dean bekam nicht mal mit, wie plötzlich die Tür aufgerissen wurde.

11 thoughts on “Totgesagt

  1. Mir gefällt die Geschichte ganz gut. Da bleibt noch viel Platz um sie weiter zu erzählen.
    Den Sohn rein zu bringen war eine gute Idee. Das hat plötzlich sehr viel Spannung rein gebracht. Ich war verwirrt, dass Duncan auf einmal aufgetaucht war, obwohl er sagte, dass er sich im Hintergrund hält. Da dachte ich kurz, dass er vielleicht etwas damit zu tun hat.
    Als Larry dann vor Dean steht, erkennt er ihn sofort obwohl so viele Jahre dazwischen liegen? Mit 14 sieht man schon noch ein wenig anders aus. Ich hätte geschrieben, dass man ihn an den Gesichtszügen erkennen konnte. Dass er Ähnlichkeiten mit den Jungen von damals hatte. Aber das ist Ansichtssache. 🙂
    Du hast das gut gemacht. 🙂

  2. Erstmal ein Lob für die Geschichte, die Grundidee ist gut, finde ich.
    Ein paar Anmerkungen habe ich aber :
    – Ich finde den Schreibstil mit den vielen Absätzen etwas sperrig beim lesen
    – Warum spielt das Ganze in NY? Hast Du da einen Bezug zu?
    – Die zeitlichen Abfolgen passen nicht so richtig, am Telefon bekommt Dean die Anweisung in einer halben Stunde an der Hütte zu sein. Mitten in NY! Das wird schon eng, wenn man weiß, wo die Hütte ist, aber er musste ja auch noch ins Revier um seinen Partner um Hilfe zu bitten.
    – Ich finde auch den Plot nicht wirklich schlüssig. Warum ging Dean davon aus, dass Larry tot wäre, wenn doch nie eine Leiche gefunden wurde? Warum machte er sich als Cop darüber Gedanken, das eine Notwehrtat aus der Kindheit sein heutiges Leben zerstören würde?
    Ich denke, da ist noch ganz viel Potential in der Geschichte. Vielleicht hast Du ja die Zeit und Lust, sie nochmal zu überarbeiten?

    1. Hallo (Der) Schweenie!
      Vielen Dank für dein Feedback! Lange Sätze sind tatsächlich mein Problem, daran muss ich arbeiten.
      Zu den USA habe ich wirklich einen Bezug, darum spielen meine Geschichten häufig dort.
      Was die Zeit angeht – eine halbe Stunde wäre tatsächlich knapp geworden, er hat aber 2 1/2 Stunden. Von 18:28 bis 21 Uhr.
      Zum letzten Punkt: Wenn ein Jugendlicher irgendwo im Nirgendwo jemanden verprügelt, bis dieser bewusstlos ist und danach einfach verschwindet – ich glaube, an seiner Stelle wäre ich mir sicher, ein Mörder zu sein. Und wenn ich ein Mörder bin, kann ich meine Karriere als Cop wohl an den Nagel hängen. So war zumindest mein Gedanke bei der Sache.
      Danke dir, ich werde mich trotzdem nochmal dransetzen, um das deutlicher zu machen!

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