Julia RauchTotgeschwiegen

Liebe Ella,

ich weiß wie sehr du mich immer geliebt hast, obwohl ich dich schon so oft verlassen wollte. Jede Woche hast du mich hier besucht. In diesem Gefängnis, wo es mir besser gehen sollte. Aber ich fühle mich jeden Tag schlechter und an meinem Wunsch nicht mehr zu existieren hat sich seither nichts geändert. Ich habe deine Liebe nicht verdient, denn was ich getan habe, ist unverzeihlich.

In den letzten Tagen habe ich viel nachgedacht und es fällt mir schwer dir diesen Brief zu schreiben, in dem Wissen, dass ich nicht mehr da sein werde, wenn du ihn liest.

Du bist jetzt erwachsen und kommst gut ohne mich klar. Die Last auf meinen Schultern wiegt so schwer, dass ich sie nicht länger tragen kann.

Es bringt nichts mein Leben hier eingesperrt zu verbringen, jeden Tag wissend, dass du dich um mich sorgst, aber keine Besserung in Sicht ist. Keine Besserung, weil das, was ich euch angetan habe nicht rückgängig zu machen ist.

Heute Nacht wird es soweit sein und ich werde aufs Dach hinaufsteigen, um noch ein letztes Mal frei zu sein. Im freien Fall, wo alle Last schwindet und es mir besser gehen wird.

Gib dir keine Schuld, denn es ist meine freie Entscheidung und niemand, nicht einmal du, kann mir helfen. Du brauchst dir dann keine Sorgen mehr um mich zu machen und kannst dein eigenes Leben führen.

Du warst immer der wichtigste Mensch in meinem Leben.

Ich liebe dich.

 

In Liebe deine Mama

Gedankenversunken rutschte Ella auf dem Stuhl hin und her. Immer und immer wiederholten sich die Worte in ihrem Kopf. Die letzten Worte ihrer Mutter. Der Abschiedsbrief, den die Pfleger ihr mit traurigem Blick überreichten, am Morgen nachdem es passiert war.

Heute am zweiten Todestag ihrer Mutter fühlte es sich wieder an, als wäre es gerade erst passiert. Der 16.03.2018, dieses Datum hatte sich in ihrem Kopf eingebrannt. Sie fröstelte, als sie an die Nacht dachte in der es passiert war. Um zwei Uhr kam der Anruf aus der Klinik, ihre Mutter sei vom Dach gesprungen. Von dem vierstöckigen Gebäude in dem sie seit Jahren Patientin gewesen war. Geplagt von Selbstmordgedanken, hätte sie hier Hilfe erhalten sollen. Doch letztendlich hatte auch das nicht gereicht, um es zu verhindern.

Sie konnte sich nicht einmal an die Fahrt zur psychiatrischen Klinik erinnern. Oder wie ihre Mutter immer gesagt hatte, zur Irrenanstalt. Alles war so schnell gegangen und sie konnte sich erst wieder an den Moment erinnern, in dem sie auf den großen Hof vor der Klinik gerannt war und sofort von den Pflegern gestoppt wurde. Sie hatte sich gewehrt, aber letztendlich war sie froh darüber, dass sie ihre Mutter so nicht hatte sehen müssen.

Ella konnte bis heute nicht verstehen, warum ihre Mutter in dieser Nacht gesprungen war. Klar, es war kein Geheimnis, dass ihre Mutter schon einige Versuche unternommen hatte, um sich das Leben zu nehmen. In den vergangenen Jahren war sie seit ihrem ersten Selbstmordversuch immer einmal wieder entlassen worden, weil es ihr augenscheinlich besser ging. Doch das stellte sich immer schnell als Trugschluss heraus. Aber damals hatte Ella tatsächlich das Gefühl gehabt ihre Mutter könnte wieder ein normales Leben führen und hatte sich manchmal bei Tagträumen erwischt, in denen alles wieder wie früher war. So wie vor dem Tod ihres Vaters, mit dem alles begann.

Ella war erst acht Jahre alt gewesen, als ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben kam. Er war auf die Straße vor ihrem Haus gelaufen und hatte ein Auto übersehen, das bei schneebedeckter Fahrbahn nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte.

Von da an ging es Helena, ihrer Mutter, immer schlechter, bis es dann zu ihrem ersten Selbstmordversuch kam und die „Irrenanstalt“ ihr neues Zuhause werden sollte.

Plötzlich wurde Ella durch ein Geräusch aus ihren Gedanken gerissen. Erst jetzt nahm sie wieder den altbekannten Duft von frischen Backwaren wahr, den sie so liebte. Deshalb verbrachte sie auch fast jede Mittagspause in dem kleinen Café, wenige Schritte von ihrem Büro entfernt.

Sie drehte sich verwirrt zur Seite, hörte die Glocke, die immer schellte, wenn jemand den Laden betrat oder verließ. Sie schaute zur Tür und sah einen Mann hinausstürmen.

Neugierig, was das Geräusch verursacht hatte, dass sie aus ihren Gedanken gerissen hatte, sah sie sich um. Und tatsächlich, neben ihr auf dem Boden lag ein Smartphone. Es musste dem Mann aus der Tasche gefallen sein, doch von ihm war keine Spur mehr.

Noch in Gedanken, wie sie den Besitzer des Handys ausfindig machen sollte oder ob sie es einfach in dem Café abgeben sollte, vibrierte dieses auch schon in ihrer Hand. Der Bildschirm leuchtete auf und von der Neugier gepackt, öffnete Ella die eingegangene Nachricht. Erstaunt, dass das Smartphone nicht einmal durch einen Code gesperrt war, ploppte die Nachricht auf dem Display auf. Irritiert starrte Ella auf den Bildschirm. Sie musste blinzeln, nur kurz die Augen schließen, um sie dann hoffentlich wieder zu öffnen und festzustellen, dass sie sich täuschte. Das war einfach unmöglich. Aber auch als sie nun wieder angestrengt das Display fixierte, zeigte sich dasselbe Foto wie eben schon. Eine Aufnahme, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ihre Mutter und sie, Arm in Arm. Glücklich, wie sie es früher gewesen waren, was jetzt unglaublich weit entfernt erschien. Aber wie zum Teufel konnte das sein? Sie spürte wie sie ein Schauer überkam und sich jedes Haar an ihrem Körper aufstellte. Dieses Foto hatte sie zum letzten Mal bei ihrer Mutter in der Klinik gesehen. Helena hatte es geliebt, denn auch sie hatte es an glücklichere Zeiten erinnert. Wie konnte diese Aufnahme, die ihr Vater im Sommer ’96 von ihnen beiden gemacht hatte, auf das Handy eines ihr völlig Fremden gelangen?

Während Ella noch fieberhaft nachdachte, was das bedeuten könnte und ihr aber keine sinnvolle Lösung einfiel, piepste das Smartphone auch schon und in der nächsten Sekunde war alles nur noch schwarz. Der Akku musste leer sein, denn das Telefon hatte sich einfach ausgeschaltet und ließ sich auch nicht wieder starten.

Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Es war doch unmöglich, dass gerade dieses Foto auf dem Smartphone erschienen war. Wahrscheinlich nahm sie dieser Tag, die Trauer, doch noch mehr mit als sie gedacht hatte. Ihre Augen mussten ihr einen Streich gespielt haben, anders war es nicht erklärbar.

Sie trank ihren letzten Schluck Kaffee und stellte mit Erschrecken fest, dass ihre Mittagspause schon wieder vorbei war. Sie versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass sie langsam verrückt wurde und ließ geistesabwesend das fremde Handy in ihrer Handtasche verschwinden. Sie trat in die warme Mittagssonne und hastete zurück zu ihrem Büro. Zwei Stunden musste sie sich jetzt noch konzentrieren und die schmerzhaften Erinnerungen aus ihrem Kopf verscheuchen. Normalerweise nahm sie sich an diesem Tag immer frei, besuchte das Grab ihrer Mutter, legte ihr Blumen hin. Um sich dann nachmittags zu Hause zu vergraben und ihren Kummer beim Eis essen zu vergessen. Erdbeereis mit Schokosoße, ihr Lieblingseis, dass sie schon als Kind immer geliebt hatte. Doch dieses Jahr ging das nicht, denn es stand ein wichtiges Meeting an und sie musste die Unterlagen für ihren Chef vorbereiten. Immerhin konnte Ella ihn überzeugen, sie ein wenig früher gehen zu lassen. Dann würde sie direkt nach der Arbeit zum Friedhof gehen.

Es war fast 17:00 Uhr als Ella endlich erschöpft zu Hause ankam. Ein großes Haus, in das sie vor gut einem Jahr mit ihrem Verlobten Ben eingezogen war.

Ben der in einer Firma erfolgreich als Produktmanager arbeitete, hatte ihr schon vorhin eine Nachricht geschickt, dass es heute später werden würde. Und dass, obwohl sie ihn gerade so gern bei sich hätte.

Apropos Handy, Ella erinnerte sich an den merkwürdigen Vorfall heute Mittag und kramte das Mobiltelefon aus ihrer Handtasche. Vielleicht passte ihr Ladekabel und sie könnte sich davon überzeugen, dass das Foto auf dem Handy nie existiert hatte. Und tatsächlich, sie konnte das Kabel problemlos anstecken und das Smartphone fing direkt an zu laden. Jetzt hieß es nur noch abwarten.

Sie wurde vom Geklimper der Schlüssel geweckt, als Ben die Tür aufsperrte. Sie war anscheinend erschöpft auf der Couch eingeschlafen, nachdem sie eine große Portion Eis in sich hinein geschaufelt hatte. Mit einem freudigen „Hallo!“ betrat Ben die Wohnung, dennoch merkte man auch ihm an, dass er einen anstrengenden Tag gehabt hatte. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setze sich neben Ella auf die Couch.

„Wie war dein Tag, Schatz? Tut mir leid, dass ich nicht früher bei dir sein konnte.“, sagte Ben entschuldigend.

Ella war versucht ihm von dem merkwürdigen Vorfall mit dem Foto zu berichten. Aber, wenn sie sich nicht einmal selbst sicher war, ob es real war, wie sollte Ben ihr dann glauben. Sie ärgerte sich, dass das Smartphone sich einfach ausgeschaltet hatte.

„Ich bin froh, dass du jetzt da bist, mein Tag war ziemlich anstrengend. Ich will lieber gar nicht mehr darüber reden, du weißt ja, dass dieser Tag für mich immer nicht so leicht ist. Als wäre heute nicht schon aufreibend genug gewesen, hab ich auch noch ein fremdes Handy gefunden. Hab noch keine Ahnung, wie ich rausfinden soll, wem das gehört. Aber da mach ich mir morgen Gedanken drüber. Können wir einfach gleich schlafen gehen?“, antwortete sie deshalb schließlich nur.

Die Nacht verbrachte Ella sehr unruhig. Sie wurde immer wieder wach und das seltsame Handy wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Schweißgebadet wachte sie schließlich auf, als Ben sie vorsichtig an den Schultern rüttelte.

„Ella, wach auf! Du hast die ganze Zeit um dich getreten und nach deiner Mutter gerufen. Hast du schlecht geträumt Schatz?“

Oh ja, das hatte sie und sie fühlte sich wie nach einer durchzechten Nacht.

Sie betrat das Büro und wollte sich jetzt nur noch auf die Arbeit konzentrieren. Alles andere vergessen. Sie hatte gleich nachdem Ben das Haus verlassen hatte, das nun voll aufgeladene Handy checken wollen. Sie musste allerdings feststellen, dass das Mobiltelefon natürlich mit einem PIN gesichert war und sich nicht entsperren ließ. Also blieb ihr jetzt nichts anderes übrig als sich einzureden, dass alles nur reine Einbildung gewesen war.

Ella hatte sich gerade an ihren Schreibtisch in dem offenen Büro gesetzt, als Heike, ihre Kollegin, an ihrem Tisch vorbeilief. Aber irgendetwas war anders, irgendetwas irritierte sie. Als sie genauer darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, was so sehr ihre Aufmerksamkeit erweckt hatte. Das Parfum. Sonst trug Heike einen billigen Duft, den Ella schon immer schrecklich fand. Aber dieses Parfum roch haargenau, wie das, das ihre Mutter früher immer getragen hatte, ihr Lieblingsparfum.

„Heike, hast du ein neues Parfum? Das riecht toll.“, fragte Ella deshalb schnell.

„Das kam heute per Post, aber ohne Absender. Hab mich auch total gewundert. Keine Ahnung wer das geschickt hat, aber es war als Geschenk verpackt. Hier, das ist die Verpackung falls du es dir auch kaufen willst.“

„Danke.“, mehr brachte Ella nicht mehr heraus.

Es war tatsächlich das gleiche Parfum, sie erkannte die Verpackung. Sie merkte, wie ihr bei dem Geruch schlecht wurde, obwohl sie den Duft immer gemocht hatte.

Als Ella nach der Arbeit zu Hause ankam, lag ihr noch immer der Duft ihrer Mutter in der Nase.

Sie kramte nach ihrem Schlüssel und öffnete wie eigentlich jeden Tag den Briefkasten, bevor sie das Haus betrat. Sie stellte erstaunt fest, dass sie das in Aufregung gestern ganz vergessen hatte, nahm ein paar Prospekte und einen Umschlag heraus und ging hinein.

Ben würde sicherlich erst wieder spät nach Hause kommen, also hatte sie noch ein wenig Zeit sich über den Vorfall mit dem Parfum in Ruhe Gedanken zu machen. Ella setzte sich erschöpft auf das lederne Sofa, um zuerst ein bisschen in den Prospekten zu blättern. Da fiel ihr wieder der Umschlag ins Auge, und erst jetzt stellte sie fest, dass kein Absender angegeben war und auch keine Briefmarke an der dafür vorgesehenen Stelle klebte. Irgendwer musste den Brief also persönlich eingeworfen haben. Das Einzige, was in gedruckten Buchstaben auf dem Umschlag stand, war ihr Name. Ella Tabke. Sie dachte kurz darüber nach, doch ihr kam niemand in den Sinn, der den Umschlag eingeworfen haben könnte. Davon abgesehen, dass Ella sowieso nicht viele soziale Kontakte pflegte, waren Ben und sie erst vor Kurzem hier eingezogen und nur wenige kannten schon die neue Adresse.

Da der Brief an sie adressiert war, öffnete sie ihn neugierig. Erstaunt zog Ella einen kleinen rechteckigen Zettel aus dem eigentlich viel zu großen Umschlag. Nur zwei Zeilen waren darauf gedruckt:

„Hast du deine Eltern wirklich richtig gekannt?

                  02.12.1998“

Sie drehte den Zettel um und untersuchte den Umschlag noch einmal genau, doch es war kein weiterer Hinweis zu finden.

Aber die Frage löste bei Ella sofort Verwirrung aus und bei der zweiten Zeile überkam sie ein kalter Schauer. Der 02.12.1998, der Todestag ihres Vaters. Aber warum schickte ihr jemand so eine Nachricht? Was hatte das alles zu bedeuten? Es musste irgendwie mit den letzten Vorkommnissen zusammenhängen. Es konnte kein Zufall sein, dass sie erst „rein zufällig“ dieses Handy mit einem Kinderfoto von sich selbst fand, dann ihre Kollegin das Parfum ihrer Mutter trug und sie jetzt auch noch diese merkwürdige Botschaft erhielt.

Ella legte den Zettel auf den kleinen Couchtisch, legte sich auf das Sofa und dachte fieberhaft nach, was damit gemeint sein könnte. Obwohl ihre Mutter psychische Probleme gehabt hatte und die meiste Zeit in der Nervenheilanstalt verbracht hatte, hatten sie dennoch immer ein gutes Verhältnis gehabt. Ihr Vater war schon gestorben als sie erst acht Jahre alt war, aber soweit sie sich erinnern konnte hatten sie sich immer gut verstanden. Natürlich war Ella klar, dass eine „normale“ Familie anders aussah, aber dennoch verstand sie den Sinn dieser Nachricht nicht. Sie war noch in Gedanken, als ihr trotzdem langsam die Augen zufielen und sie in einen tiefen Schlaf abtauchte.

Wie auch schon am Tag davor wurde Ella erst wieder wach, als Ben nach Hause kam. Aber diesmal fiel es ihr deutlich schwerer sich aus ihrer Traumwelt zu befreien. Ihr steckte die letzte Nacht noch in den Gliedern und deshalb war sie auch gar nicht richtig wach, als Ben ihr hoch half und sie die Treppe hinauf ins Schlafzimmer führte. Sie dachte nur noch daran, dass sie Ben morgen unbedingt von der seltsamen Botschaft berichten musste, und da war sie auch schon wieder eingeschlafen.

Ella wachte erst wieder mit dem Klingeln des Weckers auf und sie war sich nicht sicher, warum sie trotz der Ereignisse diese Nacht so tief und fest geschlafen hatte. Sie drehte sich auf die Seite und stellte fest, dass Ben schon aufgestanden war. Sie ging mit dem Gedanken nach unten, Ben sofort den Zettel von gestern zu zeigen. Ihr Verlobter stand bereits in der Küche und hatte den Frühstückstisch gedeckt. Ella rief ihm ein hastiges „Guten Morgen“ entgegen und ging zum Couchtisch, um die Nachricht zu holen.

„Ben, hast du den Zettel genommen, der hier auf dem Tisch lag?“, fragte Ella.

„Nein, Schatz. Was denn für einen Zettel?“, antwortete dieser und Ella konnte sich nicht erklären, wo er dann war, denn sie war sich sicher, ihn hier liegen gelassen zu haben.

Trotzdem musste sie jetzt mit Ben über den Zettel und die anderen Vorkommnisse sprechen.

Ella hatte sich etwas Verständnis und Hilfe erhofft, aber Ben nahm sie nur in den Arm und versuchte sie damit zu beruhigen, dass sie in den letzten Tagen sowieso sehr gestresst gewesen war und sie sich den Zettel deshalb vielleicht nur eingebildet hatte. Sie war sauer und wollte noch widersprechen, doch ihr war klar, wie verrückt das alles klang. Aber ihr war insgeheim schon eine Idee gekommen, wie sie der Sache auf den Grund gehen wollte.

Der Tag im Büro verlief schleppend und fühlte sich für Ella wie eine Ewigkeit an. Sie wollte endlich zu ihrer Oma fahren und sie nach dem Todestag ihres Vaters fragen. Vielleicht wusste sie mehr als Ella. Immerhin war sie selbst noch nicht alt gewesen, als sich der Unfall ereignete und ihre Großmutter hatte in der Wohnung über ihnen gewohnt.

Ella hielt vor einem Mehrfamilienhaus an und damit war sie auch schon am Ort der Tragödie angekommen. Denn ihre Oma wohnte auch heute noch in derselben Wohnung. Mit dem einzigen Unterschied, dass in der Wohnung darunter jetzt nicht mehr Ella mit ihren Eltern lebte, sondern eine junge Familie mit ihrem kleinen Sohn.

Ella hatte nie viel über den Todestag ihres Vaters wissen wollen. Es war auch schon so schmerzlich genug gewesen und es hatte ihr ausgereicht, als ihre Mutter ihr sagte, dass es ein Unfall war. Sie selbst war damals in der Schule gewesen, als ihr Vater wie immer in der Mittagspause nach Hause gekommen war. Doch anders als sonst sollte er niemals mehr an seine Arbeitsstelle zurückkehren.

Umso erstaunter war sie deshalb jetzt, als ihre Großmutter ihr nach langem nachhaken, von einem lauten Streit ihrer Eltern an diesem Tag erzählte. Sie hatte sie schreien gehört, bevor die Haustür knallte und es kurz still wurde. Durchbrochen wurde die Stille erst wieder von den lauten, verzweifelten Hilfeschreien ihrer Mutter. Doch es war schon zu spät gewesen, denn ihr Vater war sofort tot.

Von einem Streit hatte Ella bisher nichts gewusst. Umso mehr beschäftigte sie jetzt die Frage, worüber ihre Eltern gestritten hatten. Doch auch ihre Großmutter hatte darauf keine Antwort, denn ihre Tochter hatte nie mit ihr darüber sprechen wollen.

Auch den Rest des Tages quälte Ella diese Frage weiter, aber sie konnte sich keinen Reim darauf bilden. Auch Ben, der heute früher nach Hause kam, war ihr keine große Hilfe. Er versuchte ihr immer noch auszureden, weiter in der Vergangenheit zu stochern und alte Wunden aufzureißen. Ben machte sich Sorgen um sie, das konnte sie spüren. Aber Ella wollte einfach wissen, was es mit den Geschehnissen auf sich hatte. Sie hatte sich entschlossen den nächsten Tag frei zu nehmen, um sich ganz darauf zu konzentrieren, herauszufinden, was das alles bedeutete. Zwar war Ben nicht begeistert, dass sie weiter nachforschen wollte, aber auch er hielt es für eine gute Idee einen Tag zu Hause zu bleiben. Auch, wenn er insgeheim hoffte Ella würde sich die Zeit nehmen, um zur Ruhe zu kommen.

Am nächsten Tag fühlte sie sich schlapp und ausgelaugt. Die ganze Nacht waren ihr tausend Fragen durch den Kopf geschossen und hatten sie vom Schlafen abgehalten. Sie hatte sich zuerst ein ausgiebiges Frühstück gegönnt, um dann mit einem klaren Kopf an die Sache heranzugehen. Ella überlegte gerade noch, wie sie weiter vorgehen sollte, um mehr herauszufinden, als das Handy auf dem Küchentisch vibrierte und piepste. Es war nicht ihr eigenes, das hatte sie oben im Schlafzimmer liegen gelassen. Es war das Smartphone aus dem Café. Ella wunderte sich, warum auf einmal kein PIN mehr notwendig war, um das Handy zu benutzen. Hatte etwa irgendwer den richtigen Code eingegeben? Sie fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, es könnte jemand im Haus gewesen sein. Sie würde später auf jeden Fall alle Türen und Fenster überprüfen.

Sie öffnete die eingegangene Nachricht und stellte fest, dass sie nur eine Bilddatei enthielt. Offensichtlich handelte es sich um eine herausgerissene Buchseite, die jemand abfotografiert hatte. Und zwar um eine Buchseite geschrieben in der Handschrift ihrer Mutter. Ella erkannte ihre Schrift genau, schon allein an der Mischung aus Druck- und Schreibschrift, die sie immer benutzt hatte. Sie fing an zu lesen und stellte schnell fest, dass es sich anscheinend um einen Tagebucheintrag handelte. Ella wusste, dass Helena schon immer Tagebuch geführt hatte, hatte es aber natürlich noch nie zu Gesicht bekommen. Es fühlte sich komisch an und sie rang mit sich, einfach im Tagebuch ihrer Mutter zu lesen, aber die Neugier siegte.

„30.12.1998

Einen Monat bist du jetzt schon weg. Es tut so weh, dass du nicht da bist und Ella vermisst dich so sehr. Ich kann ihr kaum in die Augen schauen, weil ich weiß es ist meine Schuld, dass du nicht mehr bei uns sein kannst. Ich wünschte ich könnte alles rückgängig machen. Ich weiß nicht, ob ich mit meiner Schuld weiterleben kann, aber ich versuche stark zu sein für Ella. Doch, wenn sie wüsste, was an diesem Tag wirklich geschehen ist, würde sie sich auch wünschen, dass ich nicht mehr da bin. Das du noch da wärst und nicht ich.“

Es war nur ein kurzer Eintrag, aber er ließ in Ella noch mehr Fragen aufkeimen als zuvor. Sie hatte nicht gedacht, dass die Verwirrung der letzten Tage noch steigerungsfähig wäre, aber sie hatte sich getäuscht. Ihr Vater war doch bei einem Unfall gestorben, oder etwa nicht? Der Tagebucheintrag ließ sie an allem zweifeln. Was hatte ihre Mutter ihr verheimlicht?

Ella hatte den Speicher des Smartphones mehrmals gründlich durchsucht, aber außer der Nachricht war nichts weiter darauf zu entdecken gewesen.

Es war mittlerweile Nachmittag und sie befand sich erneut auf dem Weg zu ihrer Großmutter, da sie entschieden hatte, dort noch einmal genauer nachzuforschen. Ella war sich sicher, dass ihre Oma all die persönlichen Sachen ihrer Mutter aus der Klinik an sich genommen hatte nach deren Tod. Vielleicht war darunter auch der Rest des Tagebuchs.

Wie auch ihre Eltern hatte ihre Großmutter ein Kellerabteil im Haus, das Ella jetzt nach den Sachen ihrer Mutter durchsuchte. Hier unten stapelten sich so einige Kisten, aber auch vermutlich uralte, gefüllte Einmachgläser. Doch nur eine Kiste trug die Aufschrift „Helena Tabke“ mit dickem, rotem Filzstift geschrieben. Ella öffnete sie vorsichtig und durchsuchte sie. Doch es war kein Buch zu entdecken. Generell befand sich nicht viel in der Kiste, nur ein paar Fotos, Schmuck und eine aufwändig dekorierte Blumenvase, die ihre Mutter immer gemocht hatte. Und ein auf den 02.12.1998 datierter Brief, wie Ella feststellen musste. Ausgerechnet dieser Tag, der Todestag ihres Vaters? Das konnte kein Zufall sein. Es klang nicht gerade nach einer netten Brieffreundschaft, sondern eher nach einem Drohbrief. „Meine geliebte Helena“, diese Anrede passte so gar nicht zu dem folgenden Text. Bestand doch der Rest nur aus Vorwürfen und Drohungen. Gezeichnet war der Brief nur mit „In Liebe dein A. R.“, wer auch immer das sein sollte, die Initialen sagten Ella nichts. Aber dieser Unbekannte stellte die Ehe ihrer Eltern in Frage und war augenscheinlich ziemlich eifersüchtig. „Ich beobachte dich…“, anscheinend hatte ihre Mutter einen hartnäckigen Stalker.

„Du gehörst mir und wenn du das nicht selbst einsiehst, dann werde ich dir die zwei Menschen nehmen, die dich von mir fernzuhalten versuchen.“

Der letzte Satz ließ Ella erschaudern und ihr wurde klar, dass dieser Stalker alles getan hätte, um ihre Mutter für sich allein zu haben.

Hatte dieser Unbekannte etwa irgendetwas mit dem Tod ihres Vaters zu tun? Auf jeden Fall schien ihre Mutter einen irren Verehrer gehabt zu haben, der gerade am Todestag ihres Vaters einen derartigen Drohbrief geschickt hatte.

Ella steckte den Brief schnell ein, vielleicht konnte sie später mehr damit anfangen. Denn im Moment bildeten sich nur immer mehr Fragezeichen in ihrem Kopf.

Aber je mehr Ella darüber nachdachte, umso mehr wurde ihr klar, dass der Tod ihres Vaters dem Stalker auf jeden Fall in die Karten gespielt hatte. Sicherlich hatte ihn das bestärkt und ihre Mutter war sein Opfer geblieben, auch über diesen Tag hinaus. Selbst eine psychiatrische Anstalt sollte doch für einen Stalker kein Hindernis darstellen. Vielleicht hatte dieser A. R. Helena dort besucht, und da alle Besucher dokumentiert wurden, würde sie dort eventuell mehr herausfinden können.

Ella hatte Glück, sie kannte Hilde, die kleine, zierliche, alte Dame, die hier schon jahrelang am Empfang arbeitete. Also war es kein Problem herauszufinden, dass ihre Mutter keinen Besuch empfangen hatte, außer Ella und ihre Großmutter, also Helenas Mutter. Enttäuscht, dass sie in einer Sackgasse gelandet war, wollte Ella die Klinik schon wieder verlassen, als sie plötzlich ein sympathischer, junger Pfleger ansprach:

„Entschuldigung, Frau Tabke?“

Ella hatte ihn schon während der zahlreichen Besuche bei ihrer Mutter kennengelernt. Aber wieder siezte er sie, obwohl sie ihm doch schon lange das Du angeboten hatte, weil sie es komisch fand von jemandem im selben Alter gesiezt zu werden.

„Ja, Herr Xander.“, antwortete Ella deshalb provokativ mit einem Lächeln im Gesicht.

„Ich hab zufällig gehört, wie du nach einem Besucher mit den Initialen A. R. gefragt hast. Ich kannte jemanden mit diesen Anfangsbuchstaben, aber es war kein Besucher, sondern ein Patient. Ich hab ihn öfter bei deiner Mutter gesehen. Sie schien ihn aber nicht sonderlich zu mögen.“, antwortete Leo, wie sie ihn sonst eigentlich nannte.

„Du kannst mir nicht zufällig sagen, wie er heißt?“, hakte Ella weiter nach.

Aber nein konnte er natürlich nicht oder besser gesagt, er dürfte es einfach nicht. Immerhin verriet er ihr noch, dass dieser A. R. erst vor Kurzem entlassen wurde, also würde sie hier nichts weiter herausfinden können.

Als Ella wieder zu Hause ankam, prangte ein knallroter Zettel an der Haustür. Gott sei Dank war ihre Haustür von der Straße nicht einsehbar, aber sie fühlte sich trotzdem beobachtet als sie das Stück Papier hastig abriss. Das DIN A4-Blatt war mit krakeligen Großbuchstaben beschrieben und wirkte schon allein aufgrund der roten Farbe bedrohlich.

„SIE HATTE DEN TOD VERDIENT!

50°12’02.2″N 12°04’12.7″E

Einmal ganz abgesehen von dem ersten Satz, der sich anscheinend auf ihre Mutter bezog, fragte sich Ella viel mehr, was es mit dieser merkwürdigen Zahlenkombination auf sich hatte. Könnte es sich vielleicht um Koordinaten handeln? Sie hatte das Gefühl so eine Schreibweise schon mal gesehen zu haben. Sie machte sich nicht einmal die Mühe ins Haus zu gehen, sie war so neugierig, dass sie sofort die Zahlen in die Suchmaschine auf ihrem Handy eingab. Und tatsächlich, es waren Koordinaten, die einen genauen Standort bestimmten. Einen Punkt mitten im Wald.

Nachdem Ella auf dem Absatz kehrt gemacht hatte, war sie direkt wieder ins Auto gestiegen, um sich auf den Weg zu diesem Ort zu machen. Die Neugierde hatte sie sofort gepackt und vielleicht würde sie dort endlich eine Antwort auf all ihre Fragen finden. Es war zumindest der erste konkrete Hinweis, der ihr, von wem auch immer, gegeben wurde. Ella hatte noch schnell von unterwegs Ben angerufen, um ihm mitzuteilen, was sie vorhatte. Doch der hatte das als eine Bitte um Erlaubnis verstanden und hatte laut protestiert und sie gedrängt wenigstens auf ihn zu warten. Aber Ella hatte schon nicht mehr richtig zugehört und einfach aufgelegt, denn in diesem Fall bestand für sie kein Grund zur Debatte. Sie war wild entschlossen, die Rätsel der letzten Tage heute noch zu lösen.

Es wurde schon langsam dunkel, als Ella auf einen geschotterten Waldweg einbog, wie es ihr die Navigationsapp des Handys befahl. Sie war ab da an nur noch etwa zweihundert Meter gefahren und hatte dann ihr Auto am Wegrand geparkt. Ab hier musste sie zu Fuß weiter. Ella war bestimmt schon zehn Minuten quer durch den Wald gelaufen, aber es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Abgesehen von ihrer Neugier, die sie stets vorantrieb, fand sie es gruselig sich hier allein durch das Geäst zu schlagen. Es drang nur noch wenig Tageslicht durch die Baumkronen und bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen und drehte sich in alle Richtungen. Sie hatte eine Gänsehaut, aber gleichzeitig schwitzte sie vor Anstrengung. Eigentlich musste ihr Ziel auch langsam in Sicht sein. Doch was war eigentlich ihr Ziel? Sie hatte die Frage kaum zu Ende gedacht, da wusste Ella auch schon die Antwort.

Sie befand sich in einer kleinen Holzhütte, die hier mitten im Wald auf einer Lichtung stand. Sie war nicht einmal verschlossen gewesen, sodass Ella einfach hatte eintreten können. Rückblickend hätte sie das vielleicht schon stutzig machen sollen. Nun sah sich Ella in dem kleinen quadratischen Raum um. Er war nur spärlich vom letzten Tageslicht beleuchtet, dass noch durch ein kleines Fenster fiel. Sie aktivierte vorsorglich die Taschenlampenfunktion ihres Handys, bevor es ganz dunkel wurde. Sie erschauderte als ihr klar wurde, dass sie anscheinend im Hauptquartier des Stalkers gelandet war. Es sah alles genauso aus, wie man es aus Filmen kannte. Zahlreiche Fotos hingen an den Wänden, augenscheinlich eine jahrelange Sammlung. Fotos von ihrer Mutter, aber auch Fotos von ihr und ihrem Vater. Und auf einem großen Schreibtisch ein Sammelsurium aus allerlei Gegenständen, von denen ihr manche sogar bekannt vorkamen. Sie war sich sicher, dass die Kette mit dem kleinen herzförmigen Anhänger ihrer Mutter gehört hatte. Sie hatte sie einmal von ihrem Ehemann, Ellas Vater, geschenkt bekommen, mit ihrem Hochzeitsdatum eingraviert. Aber ins Auge stieß ihr sofort ein Buch mit dunkelrotem Einband, das ganz oben auf einem Stapel Fotos lag. Hatte sie doch erst kürzlich nach dem Tagebuch ihrer Mutter gesucht, hielt sie es jetzt in den Händen. Aber just in dem Moment, als sie es aufklappen wollte, klingelte ein Handy. Ella erschrak, denn hier herrschte Totenstille, bis auf ein wenig Vogelgezwitscher, das von draußen hereindrang. Sie fasste sich wieder und zog ihr Handy aus der Tasche, stellte aber erstaunt fest, dass es nicht der Ursprung des Klingelns war. Ella fiel das Handy ein, dass sie vor ein paar Tagen gefunden hatte, sie trug es seitdem ständig bei sich. Jetzt leuchtete auf einmal wieder der Bildschirm auf und der Anrufer konnte kaum gruseliger sein. „A. R.“. Bevor sie jedoch auf den kleinen grünen Hörer drücken konnte, spürte sie einen warmen Atem in ihrem Nacken, der sie zusammenzucken ließ. Es war zu spät, Ella hatte sich umdrehen wollen, aber in diesem Augenblick hatte sie auch schon ein harter Schlag auf den Kopf erwischt und ließ sie in sich zusammensacken. Die Welt verschwamm vor ihren Augen, die dunkle Gestalt, die sie hochhievte, konnte sie nicht mehr erkennen, bevor ihr endgültig alle Gedanken entglitten und sie ohnmächtig wurde.

Als Ella erwachte, merkte sie wie ihr Kopf schmerzte und sie bewegungsunfähig war. Gefesselt auf einem alten Stuhl, saß sie in der Mitte des Raumes und vor ihr stand wartend die dunkle Gestalt. Irgendetwas kam ihr an ihm bekannt vor. Ehe Ella sich allerdings weiter Gedanken machen konnte woher, fing dieser auch schon an zu sprechen.

„Schön, dass wir uns endlich einmal persönlich kennenlernen. Es war so einfach dich mit meinen Hinweisen hier her zu locken. Du hast nicht mal gemerkt, dass ich in euerem Haus war, um den Zettel zu klauen und das Handy zu entsperren. Es hat mir richtig Spaß gemacht, zuzusehen, wie du so verwirrt warst und nicht einmal dein Verlobter dir geglaubt hat. Aber du wolltest unbedingt weiter in der Vergangenheit graben. Das hast du jetzt davon!

Auf diesen Moment habe ich lange gewartet, weißt du das? Du hast sicherlich viele Fragen und ein paar davon werde ich dir sogar beantwo….“

Ella unterbrach ihn harsch, denn ihr brannten so viele Fragen auf der Zunge.

„Wer zum Teufel bist du? Und warum hast du mich hierhergelockt? Und was soll das überhaupt alles bedeuten?“

A. R. verfiel in ein tiefes, lautes Lachen. Ella fühlte sich lächerlich. Warum lachte er sie aus?

„Wir sind uns näher als du denkst. Aber ich will endgültig all meine Verbindungen zur Vergangenheit kappen. Und du gehörst auch dazu! Deine Mutter hat mein Leben zerstört. Ich habe sie immer geliebt, aber sie hat mich eiskalt abserviert, für diesen Versager. So viele Jahre haben wir uns heimlich getroffen und dann plagt sie auf einmal das Gewissen. Pah! Ich hab sie verehrt und hab auch danach nicht von ihr abgelassen, aber selbst in dieser Klinik wollte sie nichts mit mir zu tun haben.“, antwortete er schließlich wütend.

„Hast du meinen Vater umgebracht, damit meine Mutter zu dir zurückkommt?“, schrie Ella nun mit Tränen in den Augen.

„Dein Vater,“, wiederholte er mit einem verächtlichen Lachen, „das war nur eine glückliche Fügung des Schicksals. Damit hatte ich nichts zu tun. Obwohl ich nicht sagen könnte, dass mir der Tod dieses Versagers sehr nahe ging. Viel eher solltest du fragen, was mit deiner Mutter passiert ist.“ Da war wieder dieses verächtliche Lachen.

„Was hast du ihr angetan?“, brüllte Ella hilflos.

„Ach, angetan. Sie wollte sich doch sowieso umbringen. Ich hatte sie fast soweit es einfach selbst zu tun in dieser Nacht auf dem Dach. Sie hatte doch sogar schon ihren rührseligen Abschiedsbrief an dich geschrieben.“, antwortete er.

Die Zeilen schwirrten wieder in Ellas Kopf umher, wie am Todestag ihrer Mutter.

„Aber dann hat sie doch tatsächlich gekniffen, da oben auf dem Dach. Da blieb mir doch nichts anderes übrig, als ein bisschen nachzuhelfen. Ich habe sie geliebt und sie hat mich einfach weggestoßen und alles zerstört! Selbst als ihr toller Ehemann tot war, ist sie nicht zu mir zurückgekommen. Keiner sollte sie haben, wenn ich sie nicht kriegen kann. Sie hatte es verdient zu sterben. Und jetzt werde ich auch das zerstören, was sie am meisten geliebt hat! Du bist alles was mich noch an sie erinnert und genau deswegen wirst du ihr jetzt folgen! Ich habe dich beobachtet und du bist nicht besser als deine Mutter. Ich weiß ganz genau, dass du letztes Jahr eine Affäre hattest! Die fehlende Loyalität scheinst du wohl von deiner Mutter geerbt zu haben. Freu dich, ihr werdet euch bald wiedersehen.“

Während seinen irren Ausführungen war er immer wütender geworden, das konnte sie hören, aber auch in seinen glühenden Augen sehen. Er wollte sich rächen. Und da ihre Mutter schon tot war, war jetzt sie an der Reihe.

Ihr fehlten die Worte, die Angst schnürte ihr die Kehle zu und sie steigerte sich noch als sie den Benzingeruch wahrnahm, der in der Luft lag. Sie versuchte einen Hilfeschrei hervor zu pressen, doch nicht einmal das gelang ihr. Aber wer sollte sie hier mitten im Wald auch hören? Sie versuchte sich verzweifelt von den Fesseln zu lösen, jedoch zogen sich die groben Seile nur enger zusammen und rieben ihre Handgelenke blutig. Ella wurde noch panischer, als sie die Streichhölzer in der Hand des Stalkers sah. Nein, sie wollte hier raus. Warum hatte sie nur nicht auf Ben gehört. A. R. stand jetzt hinter ihr und lachte sein schauriges tiefes Lachen, was sie umso nervöser machte. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie er das Streichholz fallen ließ und die Hütte von den Flammen verschlungen wurde. Und damit auch sie. Doch plötzlich wurde es still und sie merkte, dass etwas Schweres hinter ihr auf den Boden gefallen war. Und nicht nur das, mit ihm war auch das bereits brennende Streichholz auf den Boden gefallen und sofort stand die Hälfte des Raumes in Brand. Das Holz brannte wie Zunder, nachdem es die letzten Tage nicht geregnet hatte und alles ausgetrocknet war. Glücklicherweise war das Feuer noch nicht bei ihr angekommen, aber das konnte nicht mehr lange dauern.

Sie freute sich noch mehr als sonst, als plötzlich Ben neben ihr auftauchte. Mit ihm hatte sie gerade am wenigsten gerechnet, hatte er ihr doch sowieso nicht geglaubt und sie von dem Vorhaben abbringen wollen. Er hatte einen dicken Ast in der Hand an dem Blut klebte. Er musste den Stalker K. O. geschlagen haben. Ben griff sich ein Messer, das auf dem Tisch lag und versuchte hastig ihre Fesseln zu zerschneiden, was ihm nur mühsam gelang.

„Beeil dich, Ben. Bitte!“, schrie Ella verzweifelt.

„Los steh auf! Wir müssen hier sofort raus!“, brüllte Ben, der mittlerweile die Fesseln gelöst hatte.

Sie standen draußen, auf der Wiese vor der Hütte, als sie komplett in Flammen aufging. In der Ferne konnte man schon Sirenen hören. Ella versuchte sich einzureden, dass sie nichts mehr hatten tun können, den Stalker nicht mehr aus den Flammen retten konnten, ohne sich selbst zu gefährden. Sie wusste, dass niemand so ein Schicksal verdient hatte, aber sie konnte auch kein Mitgefühl für den Mörder ihrer Mutter aufbringen. Ella wollte sich nicht einmal ausmalen, was passiert wäre, hätte Ben nicht vor dem Haus den Zettel mit den Koordinaten gefunden. Denn dann wäre wahrscheinlich auch sie jetzt nicht hier draußen, praktisch unversehrt.

Erst jetzt merkte sie, dass sie in dem Chaos gedankenverloren das Tagebuch gegriffen hatte, das in der Hütte neben ihr auf dem Boden gelegen hatte.

„15.03.2018

Ich dachte es geht mir langsam besser, aber ich habe mich wahrscheinlich getäuscht. Wie sollte es mir auch besser gehen, wo ich doch solche unverzeihlichen Dinge getan habe. Achim erinnert mich jeden Tag daran und er genießt es mich leiden zu sehen.

Da ich nicht mehr lange leben werde, das kann ich spüren, schreibe ich jetzt alles nieder, was ich getan habe. Eine Art Beichte. Dinge, die ich bisher in dieser Art und Weise nicht einmal meinem Tagebuch anvertraut habe, weil ich nicht daran denken wollte.

Ich wünschte Achim Reitner wäre nie in mein Leben getreten, wäre nie mein Arbeitskollege geworden. Dann hätte diese verhängnisvolle Affäre nie begonnen. Nur, dass es dann auch diesen wundervollen Menschen nie gegeben hätte, den ich mehr liebe als alles andere. Mein Schatz, Ella. Ich habe immer versucht mir einzureden, sie hat es besser, wenn sie nicht die Wahrheit kennt. Sie nicht Achim zum Vater hat. Doch ich wusste immer, dass es falsch ist dich anzulügen. Aber ich konnte es nicht übers Herz bringen die Wahrheit zu sagen. Nicht einmal Achim weiß davon, dass er eine Tochter hat. Und das ist gut so, denn er hat mich selbst bis hierher, in die Irrenanstalt, verfolgt. Er ist verrückt und ich weiß nicht, was er Ella antuen würde.

Ich hätte mich nie auf Achim einlassen dürfen, selbst, wenn er sich nicht als verrückter Stalker herausgestellt hätte. Am Tag, an dem mein Mann gestorben ist, hatte ich die Affäre mit Achim beendet und ihm alles gebeichtet. Er ist ausgerastet, was ich ihm natürlich nicht verübeln konnte. Wir haben so heftig gestritten, dass er irgendwann einfach wütend hinausgerannt ist. In dem Moment als ich ihn da auf der Straße liegen sah, wusste ich, dass es meine Schuld war.

Achim hat mich seit diesem Tag nie in Ruhe gelassen und ich hatte Mühe, dass niemand etwas davon mitbekommt. Er hat es immer als glückliche Fügung des Schicksals gesehen, dass mein Mann an diesem Tag gestorben ist.

Das ist vermutlich mein letzter Tagebucheintrag und es fühlt sich gut an die ganze unheilvolle Geschichte einmal niedergeschrieben zu haben.“

15 thoughts on “Totgeschwiegen

  1. Liebe Julia,

    was für eine spannende Geschichte. Die Idee, mit einem Brief zu beginnen, hat mir besonders gut gefallen. Die Story ist wirklich gut. Also… mir hat’s richtig Spaß gemacht, Deine Geschichte zu lesen. Vielen Dank!

    Von mir ein rotes Herz ❤️. LIKE!

  2. Moin Julia,

    wie deine Geschichte beginnt ist schon großartig, aber wie du sie enden lässt, ist grandios. Eine richtig gute Geschichte ist das. Danke dafür das du sie mit uns geteilt hast.

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

  3. Hey Julia,

    mir hat deine Kurzgeschichte sehr gut gefallen!!
    Du hast eine sehr schöne Art zu schreiben und detailliert zu erzählen,
    dementsprechend macht es richtig Spaß zu lesen was du schreibst.
    Die Idee von deiner Kurzgeschichte ist auch sehr gut gewählt und super umgesetzt 😀
    Es hat mir großen Spaß gemacht deine Geschichte zu lesen.

    Liebe Grüße und schreib’ weiter so
    Sarah

    Vielleicht hast du ja Lust auch meine Kurzgeschichte zu lesen, kommentieren und/oder zu liken – sie heißt “Unschuldskind”.

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