Maike NiewerdeTrugschluss

 

Das letzte, was Jeremy sah war, wie der Lauf einer Pistole auf ihn gerichtet wurde. Er hörte vermutlich noch den Schuss aber nicht mehr, was sein Gegenüber ihm entgegenschrie. Er verstand es zumindest nicht.
Denn dann wurde sein Schädel von einer Kugel aufgebrochen, sein Hirnwasser spritzte heraus und verteilte sich zusammen mit jeder Menge Blut an der Wand des schäbigen Wohnzimmers.
Leon war der Widerstand des Abzugs noch nie so schwach vorgekommen, wie in diesem Moment. Er hatte noch nicht oft geschossen und eigentlich keine Ahnung von Handfeuerwaffen. Erst ein einziges Mal hatte er nachts in einem abgelegenen Wald auf ein paar Glasflaschen gezielt und war erstaunt darüber, wie kräftig man den Abzug betätigen musste, um tatsächlich zu schießen. Man konnte nicht aus Versehen abdrücken, man musste sich wirklich todsicher sein.
Bevor Leon Jeremy ins Gesicht gesehen hatte, war er sich nicht sicher gewesen. Er hatte beim Üben den Rückstoß gefühlt, dessen Wucht ihn fast von den Füßen riss. Und nachdem er im Wald eine Flasche getroffen hatte, konnte er sich auch gut vorstellen, was so eine Kugel mit einem menschlichen Körper anrichtete. Aber ich wusste noch nicht, dass ich das tatsächlich einem Menschen antun kann.  
Was er allerdings wusste war, dass man von den Leuten, die einem so eine Waffe im schmutzigen Hinterhof einer ehemaligen Metzgerei verkauften, auch erfuhr, wer seinem Sohn Drogen verkauft hatte. Wenn man das, was in Jonas‘ Blut gefunden worden war, überhaupt so nennen konnte.
Heroin hatte man dort nicht nachweisen können, dafür jede Menge giftiges Strychnin, das in Jonas so starke Krämpfe ausgelöst hatte, dass er nach wenigen Minuten keine Luft mehr bekam. Leon hatte seinen Sohn gefunden, mit weit aufgerissenen Augen lag er am Boden, sein Mund schien um Hilfe zu schreien, doch nur noch stumm, denn Jonas war tot. So viel Schmerz und unendliches Leid Leon in diesem Moment auch gefühlt hatte, danach hatte er nie wieder das Gefühl, überhaupt irgendetwas zu fühlen. Sein Sohn war tot, wie konnte er da je wieder lächeln oder sich freuen, genervt sein oder gelangweilt, worum sollte er Angst haben, wenn das Schlimmste doch schon passiert war?
Nicht einmal Trauer empfand er.
Er hatte an diesem Tag nach der Arbeit noch bis zum Ende seines Lieblingsliedes im Auto gesessen. Wäre er einfach sofort ausgestiegen, hätte er Jonas noch helfen können, dann wäre der Rettungswagen vielleicht noch rechtzeitig gekommen. Die Tragik dieser wenigen, verschwendeten Minuten legte sich über Leon wie ein Schleier, durch den er seine Umwelt von da an nur noch gedämpft wahrnahm.
Mir ist alles egal, nichts hat mehr einen Sinn. Diese Gedanken wiederholte er wie ein Mantra tagtäglich. Stündlich. Immer, wenn er eigentlich etwas zu erledigen hatte. Aufstehen, zur Arbeit gehen, Essen, Duschen.
Er hatte nichts für Jonas tun können, er konnte nie wieder etwas für ihn tun, also warum sollte er überhaupt noch irgendetwas tun? Ergibt doch gar keinen Sinn.
Er und seine Frau Mariella saßen also wochenlang jeden Abend stundenlang stumm nebeneinander, kochten manchmal etwas zu essen, schmissen dann aber doch wieder das meiste weg, weil sie sowieso keinen Hunger hatten. Mariella hatte zwar an dem Tag der Beerdigung ununterbrochen geweint, aber ihre Tränen wichen danach ebenfalls einem stummen, gleichgültigen Gesichtsausdruck. Leon fühlte sich noch nutzloser, weil er nicht wusste, wie und ob er sie trösten sollte. Trösten ergibt doch auch keinen Sinn.
Nach einer Weile des Nichtstuns und Nichtfühlens hatte Mariella eines Abends verbittert gesagt: „Man müsste den Mann erschießen, der Jonas Gift verkauft hat. Es ist ungerecht, dass so ein Mensch leben darf und mein Sohn nicht.“ Dann fing sie wieder an zu weinen. Leon streichelte einfach nur hilflos ihre Hand.
Den Rest des Abends dachte er dann über ihre Worte nach. Gerechtigkeit für meinen Sohn schaffen. Den Wunsch meiner geliebten Mariella erfüllen. Ergibt Sinn.
Einen Tag später besorgte er sich eine Waffe.

Leon machte sich also auf die Suche nach Jeremy, dem Drogendealer, der anscheinend für den Bezirk der Stadt zuständig war, in dem Leons Familie lebte. Er wollte Mariella keine falschen Hoffnungen machen, also erzählte er ihr nichts davon und fuhr unter dem Vorwand, einkaufen zu gehen, allein mit dem Auto los.
Er hatte eigentlich geplant, Jeremy nur zu bedrohen, bis dieser auf Knien um Entschuldigung flehte. Vielleicht bis er Todesangst verspürt, so wie Jonas in seinen letzten Minuten.
Leon wollte Jeremy dazu zwingen sich bei der Polizei zu stellen, vielleicht würde das ja ein Gefühl der Genugtuung in ihm auslösen. Oder überhaupt ein Gefühl. Das hoffte er. Ich will doch einfach nur irgendetwas für Jonas tun.
Ja, ich werde ihm bloß drohen. Mariella wollte bestimmt nicht aussagen, dass ausgerechnet ich den Dealer erschießen soll. Ich bin doch kein Mörder.
Das dachte er, als er mit dem Auto vor der Adresse stand, die ihm der Waffenverkäufer genannt hatte. Ihm fiel sofort auf, wie verwahrlost das Haus war, in dem Jeremy wohnte.
Die heruntergekommene Fassade war mit Unkraut bewachsen, die Fensterläden hingen nur noch teilweise in den Angeln und zerrissene, dreckig braune Gardinen „säumten“ die Fenster.
Leon zog sich seine rote Kappe tief ins Gesicht.
Man muss mich ja nicht sofort erkennen. Falls hier überhaupt jemand auftaucht. Fast schon gruselig, so einsam ist es hier.
Neben dem kleinen Steinweg, der zum Hauseingang führte, lag Müll, darunter Zigarettenstummel, eine scheinbar bereits gebrauchte Spritze und rotbraun besprenkelte Papiertücher. Hätte Leon Ekel empfinden können, hätte er es sicher getan, aber der Dreck war ihm egal und er schritt einfach auf die grüne Holztür zu, vor der eine halbe Fußmatte lag, auf der nur noch „zlich lkommen“ zu lesen war. Er fragte sich, ob die andere Hälfte wohl abgebrannt war oder ob jemand die Matte einfach zerrissen hatte. Da er keine Klingel finden konnte, hämmerte er einfach gegen die Tür.
Er hörte einen Mann genervt „Komm rein, ist offen, Alter!“ schreien und trat ein. Durch den schlecht riechenden Flur ging er nach links in den Raum, der wohl das Wohnzimmer darstellen sollte. Dort saß zwischen herumliegenden Kleidungsstücken und Pizzaschachteln, auf einem grünen, altbackenen Sessel ein Mann, der irgendetwas rauchte und auf dem Tisch vor sich Tütchen mit bräunlichem Pulver sortierte. Leon blickte in das Gesicht eines etwa vierzigjährigen, unrasierten Kerls mit fettigen Haaren, fahlem Gesicht und gelben Zähnen. Die zeigte er Leon mit einem schmierigen Grinsen und den Worten: „Was kann ich für dich tun?“.
Dieser abartige Typ passt ja wirklich gut in dieses Drecksloch.
In dieser ekelerregenden Bude mischte Jeremy also seine Drogen. Hatte er keine Angst, dass irgendwer seinen Wohnort verriet? War er so verwahrlost, dass es ihn nicht kümmerte? Oder starben seine Kunden einfach alle weg, so wie Jonas, bevor sie etwas über seine giftigen Drogengeschäfte ausplaudern konnten? Hatte Jonas auch hier gestanden, in diesem staubigen Wohnzimmer mit den großen Fenstern und den löchrigen Vorhängen, die entgegen ihrer Funktion fast nichts verdeckten, was sich hier drin abspielte? Hat mein Sohn diesem Arschloch gegenübergestanden und ihn gefragt, ob er ihm Heroin verkauft? Wurde er auch so schmierig angegrinst?
Diese Fragen schleuderte Leon nun Jeremy entgegen, wobei er sich nicht erinnerte, was genau er schrie. Er war zu aufgebracht, er schwitzte und zitterte. Jeremy hingegen reagierte weder ängstlich noch verständnisvoll, sondern erwiderte nur: „Komm mal runter, Bruder. Schrei nich so wirres Zeug. Ich hab hier was, was dich ´nen bisschen beruhigt.“
„Du verdammter Mistkerl, wie kannst du es wagen, mir dein Rattengift anzudrehen? Hast du kein schlechtes Gewissen, wenn du Minderjährigen irgendeine Scheiße verkaufst, die sie umbringt? Ich werde dich hinter Gitter bringen, du widerliches scheiß Arschloch!“
„Ey, ganz ruhig. Mit mir kann man doch vernünftig reden. Ich kann doch nix dafür, wenn irgendwelche Gören nicht wissen, wie man das Zeug richtig dosiert. Is doch nich meine Schuld, wenn die verrecken… ich geb keine Garantie… jeder streckt sein Zeug und was ich dazu mische, bringt dich richtig drauf, das wollen die Kids do…“
Weiter kam er nicht, denn jetzt zog Leon seine Waffe. Gab Jeremy gerade etwa Jonas die Schuld, dass er besser hätte dosieren müssen? Er hätte sein Gift besser dosieren müssen!?
Leon fühlte zum ersten Mal seit langem wieder etwas, nämlich blanken Hass.
Er hatte noch nie jemanden so sehr verabscheut, wie diesen Dealer, den es nicht interessierte, was mit Jonas geschehen war. Der beim Verkaufen von Gift genauso gefühlskalt war wie Leon jetzt.
Die Wut, die in ihm aufstieg, fühlte sich so gut, so berauschend an, dass er Lust bekam, sich grausam zu rächen. Ein belebendes Gefühl von Macht durchströmte seine Muskeln, als er die Waffe auf Jeremy richtete, dem die Kippe vor Schreck aus dem Mund gefallen war.
Endlich konnte Leon etwas tun, das Gerechtigkeit für seinen Sohn schaffen würde. Er dachte an Mariellas Worte während er brüllte „Du hast Jonas getötet, du Schwein“ und drückte mit all seiner neu gewonnen Kraft gegen den Abzug.
Nach dem ohrenbetäubenden Knall hörte er nur noch ein monotones Piepen in seinen Ohren. Er hatte die Augen geschlossen und sich minutenlang nicht getraut, sie zu öffnen. Er stand einfach nur stumm da. Versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Was er getan hatte.
Ihm war, als würde er einen Blitz vor seinem inneren Auge sehen.
Als er schließlich die Augen öffnete und sah, was mit Jeremys Kopf passiert war, dachte er zurück an die Glasflasche im Wald, die nach dem Treffer in tausend Einzelteile zerborsten war. Mir wird schlecht.  
In Filmen sah man bei Erschossenen immer nur ein kleines Einschussloch auf der Stirn, was Leon fast schon wie eine romantische Darstellung vorkam, im Gegensatz zu dem, was er jetzt erblickte. Die Wut auf Jeremy wich dem Ekel vor Jeremys zusammengesackten, halb kopflosen und blutüberströmten Körper. Leon musste sich fast übergeben, als er ein vergleichsweise großes Stück von Jeremys Gehirn langsam von der Wand rutschen sah.
Scheiße, war das wirklich ich? Habe ich gerade einen Menschen umgebracht? Verdammt, der ist wirklich tot.
Es war, als wäre er kurz ein anderer Mensch gewesen. Ein kaltblütiger, unkontrollierbarer Mörder.
Aber Leon bereute es nicht, Jeremy erschossen zu haben. Der hat es verdient zu sterben. Nein, er bereute es, dass er so viele Spuren hinterlassen hatte. Dass er es war, der nun wegen Mord ins Gefängnis wandern würde. Dabei bin nicht ich hier der Böse, sondern Jeremy. Er hat aus mir einen Mörder gemacht. Mich trifft doch keine Schuld.
Leon würde die arme Mariella zurücklassen müssen, die doch nur noch ihn hatte.
Sie wird es nicht verkraften, dass Jeremy nicht nur unseren Sohn umgebracht, sondern mich auch noch in  ein scheußlichen Monster verwandelt hat, das früher oder später im Gefängnis landen wird. Nein, ich werde nicht zulassen, dass ich sie auch verliere! Niemand darf erfahren, dass ich hier gewesen bin!
Erstaunlich rational dachte Leon über seine nächsten Schritte nach. Die Waffe war nirgendwo registriert, wenn er sie loswurde, konnte sie niemand mit ihm in Verbindung bringen. Die Leiche hatte er nicht angefasst und hatte es auch nicht vor. Die nächsten Drogenkunden, die hier vielleicht irgendwann auftauchten (vermutlich die Einzigen, die zu diesem Haus fuhren), würden sicher niemandem Bescheid sagen, wenn keiner aufmachte. Leon würde einfach die Tür abschließen und gehen.
Hoffentlich wird Jeremy nicht vermisst. Naja, so ein Dreckskerl hat bestimmt keine Familie, die nach ihm sieht. Für eine Weile wird es sicher keiner bemerken.
Leon stülpte seinen Ärmel über seine Hand und griff nach dem Schlüssel, der von innen in der Haustür steckte. Dann trat er nach draußen, zog die Tür zu, schloss ab und schob den Schlüssel unter der Tür hindurch nach innen. Er fühlte sich irgendwie beschwingt und musste sogar ein wenig schmunzeln, als er sich fragte, ob Jeremy wohl irgendwo einen Zweitschlüssel versteckt hatte. Genau, Jeremy hat sorgfältig, wie er ist, einen Schlüssel versteckt, falls er tatsächlich mal abschließt, vielleicht ja unter dem Müll im Vorgarten oder unter der hässlichen, halben Fußmatte… ach du scheiße!
Leons Kichern hatte nicht einmal mehr Zeit auszuklingen, denn schlagartig froren seine Gesichtszüge ein, ebenso wie seine Atmung. Sein Herz setzte für einige Momente aus und wollte diese anschließend doppelt wieder aufholen. Ihm wurde unsagbar heiß. So stand Leon da, mit pochendem Herzen, unfähig sich zu bewegen und starrte auf ein leuchtendes Handy, das mitten auf der Fußmatte lag.
Es zeigte ein Foto. Umrahmt von dreckigen, löchrigen Vorhängen stand ein Mann mit geschlossenen Augen im Wohnzimmer und traute sich nicht, sie zu öffnen. Die rote Kappe verdeckte ganz und gar nicht die Identität des Mannes, dessen Gesicht deutlich auf dem Bild zu erkennen war.
Eine Nachricht erschien am oberen Bildschirmrand und die Worte brannten sich sofort in Leons Gehirn ein, obwohl er sie gar nicht verstehen wollte.  
Eine unbekannte Nummer schrieb: „Ich weiß wer du bist und ich weiß, was du getan hast, Mörder!“

 

„Hast du gar keine Einkäufe mitgebracht?“, fragte Mariella Leon, als er atemlos durch die Tür kam. Ach ja, ich habe sie ja angelogen. Das hatte er früher nie getan. Er hatte allerdings auch noch nie jemanden umgebracht und wurde dabei von einer geheimnisvollen Person fotografiert, die ihm dieses Foto dann mittels eines fremden Handys zukommen ließ und dazu noch gruselige Nachrichten an eben jenes Handy sendete.
„Äh nein, ich…“, fieberhaft suchte er nach einer Ausrede, aber sein Kopf war voll mit anderen Gedanken.
„Ist schon gut, ich will eh nichts essen“, erwiderte Mariella und legte sich zurück aufs Sofa.
Die Tatsache, dass er in großen Schwierigkeiten steckte, wurde Leon erst bewusst, als er wieder in seinem Auto saß. Vor Jeremys Haus hatte er blitzschnell entschieden, sich das Handy gekrallt, war damit zum Auto gesprintet und ohne sich anzuschnallen einfach losgefahren.
Dann wurde ihm klar, dass dieses Handy bestimmt nicht das einzige war, auf dem der unbekannte Beobachter das Foto gespeichert hatte. Was soll denn das? Man kann doch einfach direkt zur Polizei marschieren mit den Bildern. Wieso sollte man mir vorher mitteilen, dass man mich fotografiert hat? Leon ahnte natürlich warum und ihm wurde schlecht bei der Vorstellung, dass irgendein gruseliger Irrer ihm ganz bewusst Angst machen wollte. Er wollte ihm drohen, ihn erpressen, zeigen, dass er Leon in der Hand hatte. Er musste ihn verfolgt und sich geschickt vor ihm versteckt haben. Was für ein kranker Mensch tat denn sowas? Woher hat der Unbekannte gewusst, dass ich Jeremy umbringen würde? Woher, wenn ich es doch selbst nicht geplant habe? Oder war er nur zufällig da?
Benommen von den vielen Fragen schloss Leon sich im Bad ein, setzte sich auf den Badewannenrand und holte vorsichtig das fremde Handy aus seiner Tasche. Er inspizierte es von allen Seiten. Es war unauffällig schwarz und geschützt von einer grauen Hülle, auf der das Nirvana-Logo abgebildet war. Hatte das irgendetwas zu bedeuten? Nachdem er zweimal tief ein- und ausgeatmet hatte, wagte er es, vorsichtig den Knopf an der Seite des Smartphones zu drücken. Es leuchtete auf und war sofort entsperrt. Der Unbekannte wollte scheinbar, dass Leon die Fotos und Nachrichten noch einmal anschauen konnte. Verwundert starrte er auf das Hintergrundbild, das einen Jungen in Jonas‘ Alter zeigte. Er hatte eine Hand lässig auf das Dach eines Kleinwagens gelegt und reckte den Daumen der anderen zufrieden lächelnd in die Höhe. In der Autoscheibe konnte man die Umrisse einer Frau erkennen, die gerade das Bild mit einem Handy fotografierte. War auf der Rückseite dieses Handys etwa das gleiche Nirvana-Logo zu sehen? Leon war nicht sicher. Gehörte das Handy der Frau, die das Hintergrundbild geknipst hatte? Oder dem Jungen? Wieso sollte Leons Beobachter so leichtfertig seine Identität preisgeben?
Leon öffnete die Nachrichten. Erneut lief ihm ein Schauer über den Rücken, als er die Drohung seines Beobachters las, der seinen Namen in Unbekannt geändert hatte. Überrascht stellte er fest, dass in dem Chatfenster noch mehr Nachrichten zu lesen waren. Unbekannt hatte vor drei Wochen mehrere, unbeantwortete Nachrichten verfasst.

 

22.18 Uhr: Hey Leo, wann soll ich dich abholen?
           Und schreibst du mir die Adresse bitte
           nochmal?

 

22.47 Uhr: Ist halb zwölf okay?

 

23.12 Uhr: Melde dich bitte. Ich will nicht ewig
           wach bleiben.

 

23.34 Uhr: Es reicht langsam, jetzt geh mal an dein
           Handy! Hab schon dreimal versucht,
           dich anzurufen.

 

23.59 Uhr: Leo? Ich mache mir langsam sorgen. Wo
           bist du???

 

00.13 Uhr: ???

 

03.14 Uhr: Bitte melde dich doch. Ich hol dich ab
           wo du willst.

 

Leonard Aslan wurde schon seit seiner Kindheit von allen immer nur Leon genannt. Nur Mariella nannte ihn manchmal Leo Löwenmähne, wenn er mal wieder monatelang nicht beim Friseur gewesen war.
Aber das ist unmöglich. Wie kann der Unbekannte mich drei Wochen vor meiner ungeplanten Tat in rätselhaften Nachrichten mit diesem bescheuerten Spitznamen ansprechen? Da hatte ich das Handy doch noch gar nicht.
Der Typ versuchte anscheinend, ihm noch mehr Angst einzuflößen und er hatte sein Ziel definitiv erreicht. Leon brach der Schweiß aus und er fuhr sich immer wieder nervös durch die Haare. Was jetzt? Sollte er auf eine neue Nachricht warten?
Er öffnete, nach weiteren Hinweisen suchend, die Bildergalerie. Neben dem Bild von Leon in Jeremys Wohnzimmer gab es noch weitere: Eins zeigte den mysteriösen Jungen vom Hintergrundbild, am Ufer eines Sees sitzend und verträumt aufs Wasser blickend. An seiner Schulter lehnte ein Mädchen mit auffallenden, leuchtendblonden Locken, das ihn verliebt ansah. Leon erkannte den See sofort, schließlich war dieser nur einen Katzensprung von seinem Haus entfernt.
Mariella und er hatten hier bei ihrem ersten Treffen zusammen den Sonnenuntergang angeschaut. An einem der Ufer hatte Mariella Leon dann zum ersten Mal geküsst. Diese Schmetterlingen in seinem Bauch würde er nie vergessen.
Weiß der Unbekannte auch das über mich? Warum sollte er sonst so ein Foto mit diesem Handy machen? Bedroht mich etwa jemand, den ich kenne? Und wer ist dieser Junge?
Es gab noch mehr Fotos von ihm: Sonnengebräunt im Urlaub am Strand, beim Gitarre spielen, mit einem Hund kuschelnd und ein weiteres mit dem blonden Mädchen vom See im Arm.
Als Leon schließlich zum letzten Foto wischte, konnte er zunächst nicht glauben, was er sah. Ein Grabstein stand in der Mitte, umrandet von unzähligen Blumen, Kerzen und Trauerkarten. Der Stein war so sehr davon verdeckt, dass nur noch die ersten drei Buchstaben der Inschrift erkennbar waren. L E O.
Leon spürte, wie sich seine Atmung beschleunigte. Dass in diesem Moment auch noch eine neue Nachricht auf dem Bildschirm erschien, machte es ihm noch schwerer, sich zu beruhigen. „Du wirst für das bezahlen, was du getan hast. Ich weiß, wo du wohnst. Ich beobachte dich.“

 

Drei Tage lang spürte Leon nun einen fremden Blick im Nacken. Ständig. Überall. Er hatte sofort alle Rollläden heruntergelassen, die Tür verriegelt, seine Waffe griffbereit zwischen Körper und Gürtel gesteckt und noch einmal kontrolliert, ob er wirklich abgeschlossen hatte. Er traute sich nicht, die Eingangstür aus den Augen zu lassen.
Leon hatte dem Unbekannten unzählige Nachrichten geschrieben, gefragt, was er wolle, ihm mehr Geld angeboten, als er je aufbringen konnte.
Aber es kam keine Antwort. Leon fühlte sich machtlos und paranoid. Seine panischen Gedanken wiederholten sich Minute für Minute: Der Typ weiß, wo ich wohne! Er will mich umbringen! Vielleicht auch noch Mariella!
Er wollte es nicht wahrhaben, wollte seine Frau um jeden Preis beschützen.
Aber ich kann sie nicht warnen und in diesen Horror mit hineinziehen.
Wenn er nicht zur Tür starre, starrte er auf die Handyfotos, prägte sich die Gesichter ein und versuchte das Rätsel zu verstehen, indem er jedes Detail genau unter die Lupe nahm. Der Junge, die gespiegelte Frau, das blonde Mädchen, der Grabstein. Aber er verstand es nicht.
Irgendwann kam sie dann doch und die Antwort auf seine Geldgebote gefiel Leon ganz und gar nicht. „Ich will, dass du für deine Taten leidest.“
Ich sitze hier ängstlich im Dunkeln und er schreibt mir so ein krankes Gefasel?!
Die Wut über die vage Antwort des Unbekannten verdrängte ein wenig Leons Panik. Er wollte endlich wissen, was los war. „Deine dämlichen Rätsel kannst du dir sparen. Komm zur Sache, wie viel willst du?“.
Die Antwort kam diesmal prompt: „Ich will dein Geld nicht. Ich will, dass du verstehst, was du angerichtet hast, wen du getötet hast. Und dann will ich dein Versprechen, damit aufzuhören. Niemand soll je wieder durch dich sterben.“
Das hatte Leon nicht erwartet. Er war zu überrascht, um weiter wütend zu sein. Wenn das alles ist. Ich habe ja nicht vor, noch jemanden zu töten. Für ein Versprechen all der Aufwand? Um Jeremy ist es zwar nicht schade, aber das muss der Typ ja nicht wissen.
Und so schrieb er: „Es tut mir leid. Was ich getan habe, werde ich nicht noch einmal machen, das verspreche ich. Aber warum all die Rätsel? Das Handy, die Nachrichten? Wer ist dieser Typ auf den Bildern und wie konntest du wissen, was ich vorhabe?“
„Du denkst du kannst so respektlose Fragen stellen? Du erkennst den „Typ“ von den Fotos nicht, du widerliches Arschloch!? Ich zeige dir, wer er ist. Morgen um 19 Uhr stehst du auf dem Luani-Friedhof vor dem Grab von dem Foto und ich erkläre dir alles.“
Leon war sich natürlich bewusst, dass das eine Falle war. Der unbekannte Wahnsinnige wollte ganz bestimmt nicht neben einem Grab mit Leons Namen darauf ein Pläuschchen halten.
Aber was habe ich schon für eine Wahl? Wenn ich nicht auftauche, kann er mich immer noch bei der Polizei verraten. Er hat mich in der Hand.
Außerdem war Leon auch ein bisschen neugierig, was es mit dem Handy auf sich hatte. Er fasste also den Plan, schon früher zum Friedhof zu fahren, um den Unbekannten vielleicht zunächst aus der Ferne beobachten und ihn notfalls mit seiner Waffe bedrohen zu können. Ich muss vorsichtig sein und darf bloß kein Risiko eingehen.

 

Um sechs Uhr war die Sonne noch nicht ganz untergegangen und Leo stand am Eingang des Luani-Friedhofs. Er wusste nicht, wohin er gehen musste, aber der Friedhof war nicht besonders groß. Der massive Grabstein und die ersten drei verschnörkelten Buchstaben seines Namens hatten sich außerdem so sehr in sein Gedächtnis gebrannt, dass er sie sicher sofort erkennen würde.
Leon fröstelte und zog sich die Jacke enger um die Brust, als er einen leichten Windzug spürte, der ihm wie eine kalte Hand um den Hals zu greifen schien.
Genauso einsam hier, wie bei Jeremy. Leon erinnerte sich, dass er auch vor wenigen Tagen geglaubt hatte, er wäre allein. Er war so paranoid, dass er hinter jeden Baum und jedes Gebüsch schauen musste, bevor er sich wagte, sich die Grabsteine zu begutachten. Jeder Stein wirkte riesig auf ihn, schien ihm zuzuschreien: „Dein Name könnte hier stehen! Einer von uns wartet auf dich!“. Leon vergewisserte sich zum dritten Mal, dass seine Waffe immer noch in seiner Jackentasche war. Und noch einmal.
Mit jedem Schritt weiter in das Labyrinth aus Kerzen, Kreuzen, Steinwegen und Gießkannen wurde es dunkler, kälter und Leons Herz pochte schneller.
Hat sich der Schatten dahinten bewegt?
Er hatte nicht lange Zeit, darüber nachzudenken, denn nun hatte er sie gesehen. Seine Grabstätte. Die Blumen wirkten noch bunter und prächtiger als auf dem Foto. Und noch etwas war anders. Aus seiner Perspektive konnte Leon nun ganz genau lesen, was auf dem Grabstein stand. Leo Leijona.
Gleichzeitig erleichtert, dass das nicht sein Name war und umso mehr verwirrt, was denn dieser Name bedeuten sollte, schaute Leon sich nun nach einem

 

geeigneten Versteck um. Ich lehne mich da vorne mit dem Rücken gegen diesen Baum, so kann mich niemand von hinten überrumpeln.
Sein Plan war klug, aber er hatte einen Schwachpunkt. Zum Zeitpunkt seiner Umsetzung wäre er bereits zu spät gekommen.
Leon spürte einem dumpfen Schlag gegen den Kopf. Zuerst knickten seine Knie ein, dann sackte auch der Rest des Körpers zu Boden. Benommen blickte er nun in den dunkelroten Himmel, der kurz darauf von einer verschwommenen Gestalt verdeckt wurde. Er sah nur wenige Umrisse der Person, die ihm aber umso bekannter vorkamen. Wer bist du? Woher kenne ich dich?
Die Gestalt beugte sich zu ihm herunter. Zog etwas aus einer Tasche hervor.
Wo ist meine Waffe?
Sie griff nach seinem Arm. Fest.
Ich komme nicht an meine Waffe!
Die Gestalt ließ nicht locker. Sie rollte seinen linken Ärmel hoch.
Ich hab dich doch schon einmal gesehen.
Lange, hellblonde Haare fielen in Leons Gesicht, das sanfte Kitzeln war ein starker Gegensatz zu dem stechenden Schmerz, den er nun in seiner Ellenbeuge spürte.
Leo Löwenmähne. Mariella hat mich so genannt. Leo Leijona. Der Junge und das Mädchen am See.
Immer noch wollte in Leons Kopf einfach nichts zusammenpassen.
Er schrie um Hilfe, brüllte so laut er konnte. Aber niemand hörte ihn.
Ich habe Jeremy getötet, weil er Jonas umgebracht hat. Ich soll versprechen, niemals wieder jemanden umzubringen. Irgendetwas passt hier nicht zusammen. Irgendetwas läuft hier schief.
Einen kurzen Moment lang glaubte er, zu verstehen.
Aber wieder dachte er an die Glasflasche im Wald, die genauso schnell zersprungen war, wie seine zarte Erkenntnis, als sein Kopf heftig anfing, zu pochen. Er konnte nicht mehr  nachzudenken. Der Schmerz in seinem Arm, der kurz abgeflacht war, flammte erneut auf. Er wusste nicht, ob er nur einige Sekunden oder minutenlang am Boden lag oder wie lange sich der Himmel über ihm drehte, bis er das erste Mal zusammenzuckte. Er konnte nicht verhindern, dass seine Beine zuerst kribbelten und sich dann schmerzlich verkrampften. Er schloss die Augen, riss sie dann aber wieder auf, weil er Angst hatte, sonst ohnmächtig zu werden.
Er bekam wahnsinnige Panik, als er auch seine Hände nicht mehr spüren konnte und er schnappte hechelnd nach Luft. Nur verzerrte Fetzen von dem, was ihm nun entgegengeschrien wurde, konnte er verstehen. Es hörte sich in Leos Kopf etwa so an:

 

„NAA… wie füüült… am Grab… Opfa zu streeben… soaao, wie … Leo stäärben muuus… verdienst du… Mörderrr!“
Er schaffte es nicht, seine Atmung zu beruhigen, holte immer schneller und tiefer Luft.
Bis er zum ersten Mal nicht mehr einatmen konnte. Seine Atemwege schienen mit einem gnadenlosen Knoten zugeschnürt worden zu sein. Der Krampf in seiner Lunge löste sich für einen Moment, stattdessen zuckte nun sein ganzer Körper unkontrolliert und nach und nach versteiften sich alle seine Gliedmaßen. Tränen rannen über Leons Wangen, als er bemerkte, wie die Welt vor seinen Augen immer milchiger wurde und er keine Kontrolle mehr über seinen Körper hatte.
Ich muss durchhalten… Ich bin doch nicht der, den du suchst… Ich habe Jeremy getötet… Mariella ich liebe dich doch so sehr… Jonas…
Seine letzten Gedanken galten seinem Sohn, der ebenfalls erstickt war.

 

Sie tobte vor Wut. Steigerte sich hinein in ihre lange unterdrückten Rachegelüste. Schrie dem am Boden Liegenden ihren Hass entgegen: „Na, wie fühlt es sich an, am Grab deines Opfers zu sterben? So, wie Leo sterben musste?! Genau das verdienst du, du ekelhafter Mörder!“
Sie hatte nicht gewusst, ob er sie überhaupt noch hörte oder ob er schon tot war. Zumindest zuckte er nicht mehr, so dass sie ihn loslassen konnte.
Leo war so glücklich, hatte so viele Pläne. Er hat gerade seinen Führerschein gemacht, ich war so stolz auf ihn. Er hat einen Hund gehabt, den er geliebt hat und eine wundervolle Freundin, mit der er zusammenziehen wollte.
Alles wollte sie ihm über Leo erzählen, aber
ihre Worte erreichten ihn nicht mehr. Trotzdem musste sie weitersprechen, weil sie sonst drohte, an den Worten zu ersticken. „Weißt du, wie es sich für eine Mutter anfühlt, wenn der eigene Sohn nicht mehr von der Party zurückkommt? Weil er tot ist! Er ist gestorben, an Heroin, in dem Strychnin war! Weißt du, wie giftig das ist? Es tötet Menschen! Ach was erzähle ich dir, natürlich weißt du das!“. Sie musste lachen. Es platzte einfach aus ihr heraus. „Tja, jetzt wohl umso besser, hast es ja am eigenen Leib ausprobiert.“
Als sie ihn in seiner Wohnung fotografiert hatte, hatte sie geplant, ihn bloß zu bedrohen und ihm panische Angst einzujagen. Sie hatte gehofft, Alpträume würden ihn plagen, wenn er erfuhr, was für einen wundervollen Jungen er getötet hatte. Aber als er sich nicht einmal an ihren Sohn erinnern konnte, hatte sie endgültig die Mordlust gepackt.
Sie hatte alles rausgeschrien und fühlte sich besser. Zeit zu gehen. Jeder wird denken, du als Junkie wärst halt an deinem eigenen Scheiß verreckt.
Sie nahm sich Leos Handy zurück aus Jeremys Jackentasche. Nichts, was sie an ihren Sohn erinnerte, würde sie je weggeben. Mit beinahe leichtem Schritt wandte sie sich um und ging Richtung Ausgang.
Bis sie etwas hörte, dass ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war leise und kaum zu hören, aber es gab auch keine anderen Geräusche, die es überdeckt hätten.

 

Klick.

 

 

 

 

 

 

 

Hallomein

 

 

 

 

 

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