SabrinaTut es dir nicht mehr weh?

Es war sonnig als Louisa auf die Straße trat. Sie blickte beim Zurückstreichen ihrer dunkelblonden Haare in den Himmel und wurde von der grellen Sonne geblendet. Den Blick senkend kramte sie aus ihrer Handtasche ihre Sonnenbrille. Ein Lächeln bildete sich auf ihren Lippen als sie zu ihrem Auto ging. Das war ein guter Tag gewesen, aber sie freute sich jetzt auch auf ihren Feierabend. Es war Freitag und sie sehnte die Kombination aus Sofa, Pizza und Serien herbei.

Die Handtasche fand ihren Weg auf die Rückbank, bevor Louisa in ihren Kleinwagen stieg. Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss und wollte ihn schon umdrehen, als sie auf etwas aufmerksam wurde.

„Was…“, Louisa sah verdutzt auf ein Handy, welches im Fußraum des Beifahrersitzes lag. Sie beugte sich vor und nahm es hoch. Da war definitiv nicht ihres und die schwarze Hülle kam ihr auch nicht bekannt vor. Sie war sich sicher, dass sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Abgesehen davon hatte sie bestimmt seit zwei Wochen niemanden mehr mitgenommen. Wie zum Teufel kam dieses Handy dahin? Und wem gehörte es?

Aus Neugierde betätigte Louisa den Homebutton und der Bildschirm leuchtete auf. Der Hintergrund schien unpersönlich, vermutlich ein Standardhintergrund vom Anbieter. Ein Wisch über das Display und das Handy war entsperrt. Sie war überrascht, da es doch heutzutage ziemlich selten war, dass Handys gar nicht gesperrt waren. Zumindest konnte sie das in ihrem Umfeld beobachten. Sie selbst sperrte ihr Handy immer mit einem Code. Nur war dies ja nicht ihr Handy. Die junge Frau zögerte. Konnte sie wirklich darin herumschnüffeln? Aber wie sollte sie sonst herausfinden, wem dieses Handy gehörte? Vielleicht sollte sie in die Telefonliste gucken? Es gab aber keine alten Anrufe.

„Seltsam“, murmelte sie und öffnete die Kontakte. Diese waren leer bis auf die üblichen Hinweise, wie die Pannenhilfe.

Ein Blick auf den oberen Rand zeigte ihr, dass offensichtlich eine Simkarte eingelegt war.

Louisa war ratlos. Sie wusste weder, wie das Handy hierhergekommen war, noch wem es eigentlich gehörte. Wie sollte sie das herausfinden? Es waren kaum Apps auf dem Gerät vorhanden. Sie klickte einfach alles durch, aber ohne nennenswerten Erfolg. Erst in der Galerie wurde sie fündig. Es waren tatsächlich Fotos vorhanden.

„Jackpot“, murmelte sie, öffnete den Ordner und stockte. Da war ein Bild von ihr. Sie war etwas verwirrt und verstand nicht, was das sollte. Als sie weiterwischte, sah sie noch ein Bild. Und noch eins. Und noch ein paar weitere. Alle Bilder waren von ihr. Louisa merkte nicht, wie ihr alles aus dem Gesicht fiel. Die Angst kroch in ihr empor. Das war ihr nicht geheuer. Sie trug auf den Bildern unterschiedliche Kleidung, aber es war immer hier bei der Arbeit. Das eine Foto musste sogar vom Vortag sein. Sie hatte ihr neues Kleid getragen und auch den Kaffeebecher dabeigehabt.

Louisa warf das Handy auf den Beifahrersitz. Von wegen Jackpot. Das war gruselig. Ein Schauer fuhr über ihren Rücken. Sie konnte sich das nicht erklären. Hatte sie einen Stalker? Vielleicht sogar in diesem Moment? Sie sah auf und suchte mit ihren Augen die Gegend ab. Ihr wurde kalt und in ihr zog sich alles zusammen. Mit einem Mal wollte sie hier weg. Egal, was mit dem Handy war, sie wollte hier weg. Schnell startete sie ihren Wagen und fuhr vom Parkplatz. Auf dem Weg nach Hause wählte sie verschiedene Umwege und überfuhr sogar eine rote Ampel. Vielleicht wurde sie gerade paranoid, aber das war ihr nicht geheuer.

Zuhause eilte sie vom Auto in ihre Wohnung und verschloss diese ruckartig hinter sich. Den Schlüssel drehte sie zweimal um.

Das Handy hatte sie mitgenommen. Sie hatte die Hoffnung herausfinden zu können, wo es hergekommen war. Erst einmal deponierte sie es auf ihrem Wohnzimmertisch, bevor sie in die Küche ging. Nach diesem Erlebnis brauchte sie erst recht eine Pizza. Vor allem aber brauchte sie ein Glas Wein. Das sollte sie etwas runterbringen. Noch während sie sich den Wein einschenkte, ertönte plötzlich ein Geräusch. Ein ihr unbekanntes Geräusch. Verwirrt folgte sie dem Laut ins Wohnzimmer. Dort sah sie das Handy auf dem Wohnzimmertisch aufleuchten. Es klingelte. Unbekannte Nummer.

Louisa schluckte schwer. Ein unangenehmes Gefühl überkam sie und diese Situation war definitiv unheimlich. Einerseits wollte sie drangehen, andererseits auch nicht. Wer auch immer da anrief, hatte vielleicht diese Fotos von ihr gemacht. Die Situation war eindeutig. Auch, wenn sie nicht wollte, musste sie drangehen, wenn sie Antworten haben wollte. Vielleicht war ja auch alles ganz harmlos.

„Also ob“, murmelte sie zu sich selbst bei dem Gedanken und griff nach dem Handy. Sie atmete tief ein und entsperrte das Gerät. „Hallo?“

Stille.

„Hallo? Ist da jemand?“

Stille.

„Ich kann Sie leider nicht hören, falls Sie etwas sagen.“

Plötzlich tutete es, die andere Person hatte aufgelegt. Verwirrt sah Louisa auf den Bildschirm. Darauf konnte sie sich keinen Reim machen.

Sie legte das Handy wieder hin und wandte sich ab. Sie wollte wieder in die Küche gehen, doch erneut hielt ein Klingeln sie von ihren Tätigkeiten ab. Louisa drehte sich um und erkannte, dass es kein gewöhnlicher Anruf war. Es wurde um einen Videoanruf gebeten. Das lehnte sie innerlich aber ab. Sie würde sich bestimmt nicht zeigen, wenn sie gar nicht wusste, wer sie da anrief. Sie atmete tief ein. Ihre Neugier war stark, also hatte sie keine Wahl. Sie musste annehmen. Sie hielt mit einem Finger die Frontkamera zu, dann nahm sie den Anruf an. Genau wie ihr Gegenüber schwarzsehen musste, sah auch sie nur schwarz.

„Wer ist da?“, fragte sie zögernd, weil es still blieb.

Sie hörte ein Rauschen, dann vernahm sie im Hintergrund ein leises Knacken.

„Hallo?“

Dann war es wieder still. Sie wollte schon auflegen, doch plötzlich sah sie etwas. Offensichtlich war die Kamera zugeklebt oder zugehalten gewesen. Durch die Rückkamera sah sie einen blauen Sessel und darauf einen Teddy. Er sah klein aus in diesem großen Sessel. Braunes Fell, schwarze Stupsnase und große, freundliche Augen.

„Hallo? Wer ist da? Was wollen Sie mir sagen? Wer sind Sie?“
Stille.

„Was soll das?“, ihre Stimme klang verzweifelter.

Louisa hörte leise im Hintergrund die Schritte. Der Teddy kam immer näher. Unbewusst hielt sie die Luft an. Sie wartete gespannt darauf, was als nächstes passieren würde. Ihr Herz klopfte immer schneller. Plötzlich wurde der Anruf beendet.

 

An diesem Abend klingelte das Handy nicht mehr und Louisa rührte es auch nicht mehr an. Sie war auch ganz froh drum, dass es leise blieb. Er jetzt, als sie wenig später endlich mit Pizza und Wein auf dem Sofa saß, wurde ihr bewusst, wie viel Angst ihr diese Geschichte gerade machte. Die stummen Anrufe wären nicht so schlimm, wenn da nicht diese Fotos wären. Und was sollte der Teddy? In ihr arbeitete es. Je länger und intensiver sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass sie diesen Teddy kannte. Aber sie kam nicht darauf woher. Vielleicht bildete sie sich das ja auch nur ein. Sie wusste es nicht.

Der Fernseher blieb an diesem Abend aus, da ihr die Lust auf Serien vergangen war. Sie hoffte, dass sie durch Schlaf etwas zur Ruhe kommen konnte, weswegen sie zeitig ins Bett ging. Sie wälzte sich aber von der einen auf die andere Seite und konnte einfach nicht einschlafen. Es dauerte Stunden bis sie endlich ins Reich der Träume glitt. Doch ihr Schlaf war nur von kurzer Dauer. Im ersten Moment wusste sie nicht, was sie geweckt hatte. Sie brauchte einen Moment ehe sie realisierte, dass das Handy erneut klingelte.

„Ach verdammt“, sie fuhr sich über ihr Gesicht. Warum hatte sie es nicht lautlos gestellt?

Benommen tapste sie auf nackten Füßen in ihr Wohnzimmer. Dort zögerte sie. Sollte sie wirklich abnehmen? Als sie sich endlich entschlossen hatte ranzugehen, verstummte das Klingeln. Plötzlich war es unnatürlich ruhig in ihrer Wohnung. Einzig ihren Herzschlag hörte sie. Ihren dumpfen Herzschlag, der unnatürlich schnell ging. Sie kam nicht dazu weiter darüber nachzudenken, denn das Klingeln begann von Neuem. Sofort nahm sie das Handy und ging dran. „Wer ist da?!“

Stille.

„Hallo?“

Dann wurde aufgelegt. Louisa stellte das Handy dieses Mal stumm und verschwand wieder im Bett. Sie hatte Angst und war verwirrt. Was sollte das? Sie verstand es einfach nicht. Wie kam das Handy in ihr Auto? Wer hatte die Fotos gemacht? Und was hatte der Teddy damit zu tun? Tränen der Wut und der Angst stiegen ihr in die Augen und liefen ihre rauen Wangen hinab. Die Situation setzte ihr zu. Mehr als sie selbst zugeben wollte.

Louisa versuchte erneut zu schlafen. Sie war fast wieder in den Schlaf gefallen, als sie plötzlich aufschreckte. „Tanja!“

Jetzt wusste sie wieder, woher sie den Teddy kannte. Er sah genauso aus wie den Anhänger, den ihre alte Klassenkameradin Tanja immer an ihrem Schlüsselbund hatte. Aber was hatte das für einen Zusammenhang?

 

Louisa schlief in dieser Nacht nicht mehr gut. Auch in der nächsten Nacht hatte sie zu kämpfen. Das ganze Wochenende war schrecklich für sie. Sie traf sich zwar zur Ablenkung mit ihrer Mutter und auch mit einer Freundin, aber in Gedanken war sie immer woanders. Sie konnte überhaupt nicht abschalten. Sie erzählte niemandem davon, da sie niemandem beunruhigen wollte. Vielleicht irrte sie sich ja auch. Sahen Teddys nicht immer gleich aus? Oder zumindest ähnlich?

Als sie am Montag zur Arbeit kam, parkte sie ihren Wagen an der gewohnten Stelle. Das Wochenende hatte sie ganz schön geschlaucht. Kurz schloss sie ihre Augen, ehe sie diese wieder öffnete und sofort abgelenkt wurde. Etwas im Rückspiegel zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Erschrocken wandte sie sich um, doch da stand niemand. Sie hätte schwören können, dass da gerade jemand gestanden hat. Louisa sah sich um, aber rund um ihr Auto war niemand.

„Ich sehe schon Gespenster“, murmelte sie zu sich selbst und griff nach ihrer Tasche. Sie hatte beide Handys dabei.

 

Die Situation vom Morgen ließ sie den Tag über nicht los, weswegen Louisa so schnell wie möglich von der Arbeit nach Hause kommen wollte. Sie war froh als sie endlich wieder in ihren sicheren vier Wänden war. Aber konnte sie dort sicher sein, wenn sie dieses verfluchte Handy immer noch bei sich hatte? Sie holte es aus ihrer Tasche und setzte sich Gedankenverloren aufs Sofa. Sie war sich in diesem Moment sicher, dass es etwas mit Tanja zu tun hatte. Aber sie verstand nicht was. Tanja selbst konnte es nicht sein. Sie war nach dem Vorfall damals zu ihrem Vater in eine andere Stadt gezogen. Was sollte sie jetzt wieder hier? Vor allem nach all den Jahren.

Plötzlich riss das Klingeln des Handys Louisa aus ihren Gedanken. Wieder ein Videoanruf.  Sie wusste sofort, was zu tun war. Sie nahm ab, während sie die Kamera erneut zuhielt. Ihr wurde erneut der Teddy gezeigt.

„Wer bist du?“, fragte sie, bemühte sich ruhig zu klingeln. Ihr Herz schlug kräftig vor Angst in ihrer Brust.

„Weißt du inzwischen worum es geht?“, wurde entgegen ihrer Erwartung reagiert. Die Stimme klang verzerrt.

Louisa schluckte. „Wer bist du?!“, schrie sie.

„Du hast mein Leben zur Hölle gemacht, also mache ich deins zur Hölle!“

Louisa zuckte zusammen. Sie verstand das nicht. Sie hatte Fragen. Sie hatte den Satz nicht mal richtig verarbeitet, da wurde schon wieder aufgelegt.

Panik stieg in ihr hoch. Sollte das jetzt ewig so weitergehen? Sie musste unbedingt zur Polizei gehen. Aber sie konnte nicht.

Louisa legte schluchzend das Handy weg, verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Sie ertrug das nicht länger. Sie verstand das alles nicht. Das war doch alles inzwischen fast zehn Jahre her. Warum jetzt? Warum wurde sie jetzt wieder damit konfrontiert?

 

Obwohl die Situation sie unglaublich belastete, fuhr sie am nächsten Morgen normal zur Arbeit. Dort schaffte sie es sogar ihre Sorgen für einen Moment zu vergessen. Dieser Moment war aber sofort verflogen als sie spätnachmittags zu ihrem Auto kam. Auf ihrer Motorhaube saß ein Teddybär. Sie erkannte sofort, dass es der Teddybär aus den Videoanrufen war.

Sie blieb kurz stehen und ihr wurde schlecht. Die Anrufe hatten immer eine gewisse Distanz gehabt, aber jetzt schien die unbekannte Person wieder so unglaublich nah zu sein.

Louisa griff danach, fand aber keine Nachricht. Sauer warf sie den Bären zu Boden und schrie dabei auf. Das konnte doch nicht so weiter gehen!

Das Klingeln des Handys ließ sie zusammenzucken. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet. Sie schnappte sich den Bären und stieg schnell ins Auto, damit niemand zuhören konnte. Außerdem fühlte sie sich etwas geschützter. Sie nahm ab. „Hallo?“

Stille.

„Tanja?“, fragte sie dann unsicher. Ein Lachen ertönte am anderen Ende. Dann wurde aufgelegt.

 

Louisa fuhr nach Hause. Erneut nahm sie mehrere Umwege aus Angst verfolgt zu werden. Nachdem sie geparkt hatte, eilte sie in ihre Wohnung, da sie hoffte dort in Sicherheit zu sein. Allerdings war es seltsam, dass sie keine fünf Minuten zu Hause war und das Handy sich erneut meldete. Videoanruf. Sie hielt ihre Kamera wie immer zu, während sie den Teddybären sah.
„Tanja, bist du es? Was soll das? Was willst du von mir? Warum so?“ Louisa klang verzweifelter als sie wollte.

Ihr Gegenüber lachte wieder. „Ich bin nicht Tanja.“

Diese raue Stimme… „Franziska!“ Louisa schlug sich reflexartig die Hand vor den Mund und gab damit die Abdeckung der Linse auf, nun konnte ihr Gegenüber ihr Gesicht sehen konnte. Sekundenspäter sah sie auch ein anderes Bild. Sie sah in das markante Gesicht einer jungen Frau. Sommersprossen, große Lippen, blaue Augen. Nur die Haare waren kürzer und blonder als früher.

„Franziska“, hauchte Louisa. „Warum…?“

„Das du das fragen musst!“, Franziska lachte höhnisch auf. „Hast du vergessen, was damals passiert ist?“

„Nein, wie könnte ich…“, Louisa brach ab. Sie war verwirrt. Zwar wusste sie jetzt, wer dahintersteckte, aber die Angst vertrieb diese Gewissheit trotzdem nicht.

„Und wie kannst du weiterleben?“, fragte Franziska.

„Wie meinst du das?“, entgegnete Louisa, verstand nicht ganz, was sie meinte.

„Hast du dich je gefragt, was aus mir geworden ist?“, schnaubte Franziska.

„Du bist zum Studieren weggezogen und hast nicht mehr auf meine Nachrichten reagiert. Ich dachte, dass wir uns einfach aus den Augen verloren haben. Ich…“, Louisas Stimme brach erneut. Sie verstand das hier immer noch nicht.

„Aus den Augen verloren? Ja, das sieht dir ähnlich. Meinst du wirklich, dass das alles gewesen ist? Dass es so einfach gewesen ist?“ Zum Ende hin wurde Franziska immer lauter.

„Was sollte ich denn sonst denken?“ Louisa wurde aufgebracht. Sie verstand nicht, weshalb sie jetzt mit Vorwürfen überschüttet wurde.

„Miss Perfekt kriegt ihr Leben natürlich wieder in den Griff, dabei hast du uns das Leben ruiniert. Es war deine Entscheidung!“ Franziska wurde laut.

„Aber du warst einverstanden“, konterte Louisa.

„Ja, weil ich dir vertraut habe“, giftete Franziska und starrte Louisa aufgebracht an. „Ich dachte wirklich, dass du wüsstest, was du tust. Aber das hast du nicht. Ganz im Gegenteil. Du hattest keine Ahnung!“

Louisa biss sich auf die Lippe. Franziska hatte Recht und das wusste sie genau. Dennoch war das hier gerade nicht fair.

„Ich konnte aber doch nicht ahnen, dass Tanja…“, sie stockte. Franziska nutzte das und lachte höhnisch auf. „Dass was? Sprich es doch aus! Du konntest nicht ahnen, dass Tanja vergewaltigt werden würde. Sag es doch! Das ist doch die Realität!“

Das war es. Louisa schluckte. Sie spürte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen, aber sie wollte sich gerade diese Blöße nicht geben. Sie schloss kurz ihre Augen, um sich zu sammeln und atmete tief durch.

„Kannst du nicht ertragen das zu hören?“ Franziska schnaubte. „Du bist echt unglaublich!“

„Das ist es nicht. Ich weiß das alles sehr wohl. Meinst du, dass ich umsonst Soziale Arbeit studiert habe? Ich arbeite aktuell…“ – „Ja, jetzt reib mir dein tolles Leben nicht unter die Nase“, wurde Louisa unterbrochen.

„Franziska, was willst du?“

„Dir dein Leben zur Hölle machen.“ Dann legte sie auf.

Louisa brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Das war überraschend gewesen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie das jemals wieder einholen würde. Sie stand auf und holte die Weinflasche hervor. Das brauchte sie jetzt. Dann setzte sie sich an ihren Laptop und versuchte herauszufinden, was aus Franziska und Tanja geworden ist. Laut den sozialen Medien war Tanja viel im Norden Deutschland unterwegs und schien ihr Leben soweit im Griff zu haben. Bei Franziska war es nicht so einfach. Es gab nicht viele Fotos oder Infos über ihr Leben. Enttäuscht von dem Ergebnis klappte sie ihren Laptop zu. Louisa nippte an ihrem Wein, als sie zurückdachte. Franziska, Tanja und sie waren während der Oberstufe bei einer Hausparty gewesen. Sie hatten diese beiden Typen kennengelernt. Tanja hatte das Interesse genossen, doch Franziska und sie hatten irgendwann nach Hause gewollt. Franziska wollte Tanja nicht alleine lassen, aber Louisa fand die beiden vertrauenswürdig. So sind sie gegangen und haben Tanja alleine gelassen. Wären sie dageblieben, wäre das alles nicht passiert. Sie selbst hatte damals vorgeschlagen zu gehen. Deswegen gab Franziska ihr die Schuld und kam wohl nicht wirklich damit klar, was damals passiert war. Aber wenn es sogar Tanja tat, warum konnte Franziska es dann nicht?

 

Louisa machte früher Feierabend. Sie konnte sich einfach nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. So hatte das keinen Sinn. Da sie keine Termine mehr hatte, nahm sie einige Überstunden ab. Erschöpft ließ sie sich in ihr Auto fallen. Sie schloss die Augen, um sich zu sammeln. Ein Fehler. Plötzlich ging die Beifahrertür auf. Noch ehe Louisa realisieren konnte, was los war, saß Franziska schon neben ihr und starrte sie an.

„Was machst du hier?“ Ihre Stimme war brüchig. Die Angst kroch in Louisa hoch. Für einen Moment überlegte sie einfach aus dem Auto zu fliehen, aber da sah sie die Pistole in Franziskas Hand. Geschockt hob sie wieder ihren Blick, sah ihre ehemalige Freundin an. „Was hast du vor?“

„Ich will, dass du so leidest wie ich“, bekam sie als Antwort.

„Franzi, ich… es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du unter der Situation leidest. Ich dachte nicht, dass du…“ – „Sei ruhig!“, unterbrach Franziska sie. „Sei ruhig und fahr.“

„Wohin?“

„Weg von hier. Ich werde dich der Polizei ausliefern. Du wirst ihnen sagen, was passiert ist und dass du schuld an der Vergewaltigung bist. Dann wollen wir doch mal sehen, ob du immer noch so sozial bist und deinem Job nachgehen kannst.“ Franziskas Stimme triefte nur so vor Verachtung. Ein Gefühl, welches Louisa nicht nachvollziehen konnte. Aber es war egal. Gegen die Waffe konnte sie nichts ausrichten, also gehorchte sie und startete den Motor.

„Wo genau muss ich hin?“, fragte sie mit zittriger Stimme. Louisa versuchte ruhig zu bleiben, um einen klaren Kopf zu behalten. Es war wichtig, dass sie jetzt nicht durchdrehte und aufmerksam blieb. Das war gar nicht so einfach, wenn einem die Angst im Nacken saß und einen erschaudern ließ.

„Fahr aus der Stadt raus“, kommandierte Franziska.

Louisa wunderte sich. Sollte sie nicht zur Polizei fahren? Aber sie gehorchte und folgte jeder Anweisung, die von Franziska kam. Zwischendurch schwiegen sie. Es war okay. Eigentlich sogar gut. Louisa empfand es als schwierig über das Thema mit ihr zu diskutieren. Sie hatte Angst etwas Falsches zu sagen und die Konsequenzen der Waffe zu spüren. Wobei Franziska sie wohl kaum während der Fahrt erschießen würde.

„Wo willst du hin?“, fragte sie dann doch nach einer Weile als sie schon auf der Autobahn unterwegs waren. Von der Polizei war plötzlich keine Rede mehr. Das wunderte sie. In ihre Pläne weihte Franziska sie nicht ein.

„Wirst du schon sehen.“

„Franziska…“

„Verdammt, Louisa, tut es dir etwa nicht mehr weh?!“ Plötzlich klang ihre Stimme viel emotionaler und Louisa sah kurz zur Seite, ehe sie sich wieder auf das Fahren konzentrierte.

„Sag mir nicht, dass du alles verdrängt hast und dir alles egal ist. Das kannst du mir nicht erzählen! Warum also kriegst du dein Leben auf die Reihe? Hast du einmal an Tanja oder mich gedacht? Hast du alles vergessen? Ist es dir egal, dass deine Freundin vergewaltigt worden ist? Ist es dir egal, dass wir schuld daran sind? Wie kannst du so sein?“

Louisa schnaubte. Sie vergaß mit einem Mal die Pistole, wurde von der Wut, die in ihr hochkam, regelrecht vernebelt. Das ließ sie sich nicht vorwerfen. Im letzten Moment sah sie noch das Schild vom nächsten Parkplatz. Ein kurzer Blick in die Spiegel und dann zog sie rüber auf die rechte Spur, bremste stark ab und fuhr trotzdem noch mit zu hoher Geschwindigkeit auf den Parkplatz.

„Was tust du?!“, kreischte Franziska, aber es war Louisa egal. Sie brodelte innerlich. Den Wagen lenkte sie in eine Parkbucht, hielt dort abrupt an und schaltete den Motor aus. Dann wandte sie sich Franziska zu und sah direkt die Pistole in ihrer Hand. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass es vielleicht doch keine gute Idee gewesen ist. Ihre einzige Option erschien ihr in dem Moment das Auto zu verlassen, so lange Franziska noch von ihrer Kurzschlussreaktion überrascht war. So öffnete sie die Tür und verließ das Auto. Franziska sah ihr nach. Sie sah aus, als wüsste sie nicht, was mit ihr geschah. Das war sicher nicht ihr Plan gewesen. Sie tat es Louisa gleich und stand jetzt mit der Pistole in der Hand vor dem Auto. „Was sollte das? Steig wieder ein!“, befahl sie fast als wurde sie sich jetzt erst wieder darüber bewusst, dass sie die mit der Pistole war und hier die Befehle gab.

„Du meinst wirklich ich hätte es vergessen? Glaubst du wirklich, dass ich alles vergessen habe? Du weißt, wo ich arbeite, aber weißt du auch, was ich dort mache? Ich kümmere mich um Frauen, die Gewalt erlebt haben. Frauen, die sexuell belästigt worden sind. Frauen, die vergewaltigt worden sind! Meinst du, ich würde das tun, wenn das damals nicht passiert wäre? Das hat auch in mir Spuren hinterlassen und mich verändert. Ich habe versucht etwas Gutes daraus zugewinnen und ich bin glücklich, dass ich den Job habe und Frauen helfen kann. Trotzdem wünschte ich nach wie vor, dass das damals nicht passiert wäre!“ Sie schrie Franziska an. Diese war sichtlich erstaunt über den Wandel der Situation.

„Hast du dich einmal gefragt, wie es mir oder Tanja geht?“

„Was wirfst du mir vor? Hätte ich mich um dich kümmern sollen? Wir hatten das schon. Du hast nicht mehr auf meine Nachrichten reagiert…“ – „Hättest dir ja vielleicht mal überlegen können, warum!“
Louisa warf die Hände in die Luft. Sie war sauer. Sie war unglaublich sauer und empfand diese ganze Situation als unfair. Woher hätte sie denn wissen sollen, dass es Franziska so ging, wenn diese ihr das nicht sagte? „Machst du mich jetzt dafür verantwortlich, dass du dein Leben nicht auf die Reihe gekriegt hast?“

„Vorsicht!“ Franziska hob die Pistole, starrte sie entschlossen an. „Und jetzt steig wieder ein.“

Louisa zuckte reflexartig zurück. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie gerade in Gefahr schwebte. Aber sie sah auch, wie Franziskas Arm zitterte. „Wo willst du mit mir hin?“ Louisa wurde selbstbewusster und fühlte sich tatsächlich außerhalb des Autos auch sicherer. Sie würde nicht wieder einsteigen.

„Steig ein!“

„Nein!“

„Steig ein!“ Franziska klang entschlossen. Sie kam näher, hob die Pistole noch ein Stück an.

„Entschuldigen Sie bitte…“ Die beiden jungen Frauen fuhren herum, sahen einen Mann auf sie zukommen. Wo kam der jetzt her? Hier waren zwar einige Autos, aber die hatte keine von beiden großartig beachtet.

„Ich habe mich verfahren, kennen Sie sich hier aus?“

„Hauen Sie ab!“, schrie Franziska.

„Entschuldigung, ich wollte nicht stören.“

„Dann verschwinden Sie!“, schrie Franziska und näherte sich jetzt dem Mann. Louisa verstand die Situation gerade nicht, aber das war nicht so wichtig. Sie verstand, dass das ihre Chance war. Den Moment der Ablenkung wollte Louisa nutzen, um die Polizei zu rufen, aber sie hatte das Handy noch im Auto. „Verdammt!“

Plötzlich ertönten Sirenen und nur Sekundenspäter erschien ein Polizeiauto. Jemand anderes schien einen ähnlichen Gedanken gehabt zu haben.

„Hast du die Bullen gerufen?“, giftete Franziska Louisa an. „Das hast du nicht getan!“ Sie kreischte und überbrückte die paar Meter zu Louisa, hob erneut die Waffe und zielte auf sie.

Louisa hatte mit diesem Wechsel der Situation nicht gerechnet. Das alles ging ihr in diesem Moment viel zu schnell. Die Pistole. Der Angriff. Ein Schuss.

Reflexartig schloss sie ihre Augen, hörte den Lärm um sie herum nur noch dumpf, wie durch eine Mauer. Sie spürte keinen Schmerz. Den hatte sie erwartet. Sie merkte, dass sie zum Schutz die Arme über ihren Kopf gezogen hatte. Vorsichtig senkte sie diese und öffnete flatternd die Augen. Sie fühlte sich in diesem Moment wie eine Unbeteiligte in der Situation, als würde sie nur am Rand stehen und eine Szene betrachten. Dabei war sie mittendrin. Einer der Polizisten lief auf sie zu. Er sagte oder fragte etwas. Seine Lippen bewegten sich, doch die Worte drangen nicht zu ihr durch. Das Rauschen in ihren Ohren übertönte alles. Sie wusste nicht, ob sie ihren Augen trauen konnte. Franziska lag am Boden. Da war eine rote Pfütze. Blut! Erschrocken starrte sie den Polizisten bei ihr an. Wieder bewegten sich seine Lippen. Wieder hörte sie ihn nicht.

Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Louisa wankte, hielt sich den Kopf und merkte kaum, wie sie gestützt wurde. Sie wurde auf den Boden gesetzt. In dem Moment als sie den Asphalt unter ihren Händen spürte, als sie sich abstützte, hatte sie das Gefühl zu fallen. Erschrocken riss sie ihre Augen auf. Plötzlich war alles wieder da. Die Geräusche rund um sie herum waren überraschend laut. Die Bilder, die ihre Augen einfingen, waren überraschend klar.

„Ist alles okay mit Ihnen?“

Louisa drehte verwirrt den Kopf. Der Polizist. „Ja… ja, was ist passiert, was war…“ Sie wollte aufstehen, wurde zurückgehalten. „Bleiben Sie noch einen Moment sitzen.“

„Okay.“ Sie nickte hektisch und fuhr sich durch die Haare. „Was machen Sie hier?“ Während sie die Frage stellte, kam ein Krankenwagen um die Ecke gefahren. Louisas Blick ging zu Franziska. Sie lag noch am Boden. Die Angst kroch wieder in ihr hoch. Dieses Bild und die möglichen Konsequenzen verstand sie erst jetzt. „Franziska! Was ist mit ihr?“ Obwohl sie von ihr gerade mit einer Waffe bedroht worden war, hatte Louisa Mitleid mit ihrer alten Schulfreundin. Wieder wollte sie aufstehen und wieder wurde sie zurückgehalten.

„Keine Sorge. Sie wurde nur am Arm getroffen. Kennen Sie diese Frau?“

„Ja.“ Und so erzählte Louisa was passiert war.

 

Einige Stunden später wurde sie von einem Taxi bei ihrer Mutter abgesetzt. Die Polizei hatte sie mitgenommen. Ihr Auto stand noch auf dem Parkplatz, aber das war egal. Sie musste das erst mal verarbeiten. Die Vernehmung hatte sie hinter sich gebracht, nachdem ihr attestiert worden war, dass sie nicht weiter verletzt war. Nun braucht sie seelische Unterstützung. Jetzt war ein Moment, wo man wieder Kind war und einfach nur die Mama brauchte. Und das war vollkommen in Ordnung.

 

Louisa holte sich ein paar Sachen aus ihrer Wohnung und blieb ein paar Tage bei ihrer Mutter. Es war fast eine Woche vergangen, als sie wieder in ihre alte Wohnung zurückkehrte. Sie leerte ihre Taschen. In ihrer Handtasche war nur ein Handy. Das andere hatte die Polizei mitgenommen. Es war besser so. Sie wollte es nicht haben. Warum auch? Das alles war doch jetzt vorbei, oder nicht? Zum Glück hatte der Mann, der sie auf dem Parkplatz angesprochen hatte, kurz zuvor die Polizei gerufen. Die hatte Franziska an eben jenem Tag festgenommen. Es würde ein Prozess folgen, in dem sie aussagen musste. Bis dahin würde es noch etwas dauern.

Louisa wollte nichts mehr als damit abschließen und vergessen. Aber konnte sie das wirklich? Franziska hatte damals etwas nicht verarbeitet, was sie selbst wiederum als Quelle genutzt hatte, um stärker zu werden. Um zu erfahren, was sie wirklich wollte. Sie wollte Menschen, speziell Frauen helfen, die in Notlage waren. Nie hätte sie geglaubt, dass Franziska das all die Jahre belastet hatte. Und dabei waren sie nur indirekt beteiligt gewesen.

Louisa stand im Wohnzimmer mit ihrem Handy in der Hand. Kurz zögerte sie, doch dann öffnete sie ihr Telefonbuch. Während sie durch ihre Einträge ging, setzte sie sich auf ihr Sofa. Sie wählte einen Kontakt aus und rief diesen an. Mit jedem Klingeln wurde sie nervöser, obwohl sie wusste, dass es richtig war. Richtig und vor allem wichtig.

„Hallo? Hier ist Tanja.“

Als sie die Stimme hörte, bildete sich unwillkürlich ein Lächeln auf ihren Lippen. „Hey Tanja, hier ist Louisa, wie geht es dir?“

3 thoughts on “Tut es dir nicht mehr weh?

  1. Hi, grundsätzlich gefällt mir die Geschichte. Allerdings kommt mir die Handlung kaum nachvollziehbar vor.
    Warum redet Louisa nicht mir ihrer Mutter oder Freundin von dem Handy ? Da war ja nichts zu sehen, was sie irgendwie belastet. Wenn Drohanrufe oder ähnliches bei einem eingehen, wäre doch die erste Reaktion, mit jemanden darüber zu reden und/oder zur Polizei zu gehen und nicht tagelang zu warten, oder ?

    Trotzdem hat mir die Geschichte, schon wegen dem ernsten Thema gefallen.

    P.S. vielleicht hast Du ja Lust, auch meine Geschichte zu lesen ? Sie heißt Glasauge

  2. Moin,

    tolle Geschichte die du uns hier präsentierst! Verständlich geschrieben und dennoch spannend. Wie du die Situation immer mehr zum großen Showdown hintreibst hat mir richtig gut gefallen. Das häufige Klingeln des Telefons ohne das jemand was sagt, der Teddy der für die verdrängten Erinnerungen sorgt. Richtig gute Stilmittel die du da einsetzt.

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank ( Geschichte: Der Ponyjäger)

Schreibe einen Kommentar