beate.teÜber Leichen gehen…

Feierabend. Wochenende.

Ich war einer der Letzten, lief den leeren Flur entlang und traf auf den Chef.

„Ah, Sie sind noch da. Wir sind ja so froh, dass wir uns damals für SIE entschieden haben. Sie haben sich gut eingearbeitet und die Zahlen sprechen nur Gutes. Viele Bewerber waren scharf auf diesen Posten, wären zur Not über Leichen gegangen, aber Sie machen ihre Sache sehr gut. Weiter so!“

Da war es wieder, mein schlechtes Gewissen. Ich hatte es mir natürlich nicht anmerken lassen, aber als er sagte „wären über Leichen gegangen“, blitzte sofort das Bild der kleinen Prinzessin auf, die in ihrem weißen Kleidchen durch ein Gebüsch am Fahrbahnrand auf ihrem Kinderfahrrad schnurstracks auf die Straße, vor mein Auto fuhr.

Eine Stunde zuvor hatte ich die Zusage für diesen Job erhalten und vor Aufregung kribbelte mein ganzer Körper. Meine Träume würden alle wahr werden. Einen schicken Wagen fahren, eine pompöse Hochzeit mit Janine feiern, zwei Kinder, ein Häuschen, einen Hund und zwei Meerschweinchen haben. Endlich bekäme ich die Belohnung für die vielen Stunden, Wochen und Monate des einsamen Büffelns und die mit Auszeichnung abgeschlossenen Prüfungen.

Ich MUSSTE diese sensationelle Nachricht Janine unbedingt sofort mitteilen. Deshalb griff ich nach meinem Handy. Da passierte es.

Den spitzen Schrei, den Schlag an meine Windschutzscheibe und die Stille, die dann folgte, als ich den Wagen zum Stehen brachte, werde ich nie vergessen.

Die roten Tupfen auf ihrem weißen Kleidchen waren keine Rosen, es war Blut. Tiefrotes Blut. Mit zitternden Armen hob ich sie auf, strich ihre dunklen blutverschmierten Haare aus dem Gesicht. Ihre Augen waren weit geöffnet und starr.

Ich schüttelte sie, schrie, weinte, bettelte sie an, aufzuwachen, aber nichts geschah. Sie war tot!

Dann wurde mir klar, dass ich nichts mehr für sie tun konnte. Nur für mich konnte ich etwas tun, um meinen Traum nicht sterben zu lassen…

Ich legte sie ins weiche Gras, streichelte ihr durchs Haar, strich ihr Kleidchen glatt, jammerte ihr Entschuldigungsschwüre ins Ohr und fuhr dann einfach wieder los.

„Über Leichen gehen!“ … Es war doch keine Absicht… nie würde ich… Was hätte ich ändern können?… Nichts.

Ich drückte den Fahrstuhlknopf. Janine wartet sicher schon auf mich. Wir wollten uns am Abend eine Lokation für unsere Hochzeitsfeier ansehen.

Die Fahrstuhltür öffnete im Parkhaus. Da stand er, mein Luxusschlitten. Grau metallic, seriös, edel. Ich strich zart über den Lack. Was für ein Gefühl. Sanft umgriff ich den Türöffner und der Wagen öffnete sich. Keyless, natürlich.

Mit meinem Schuh berührte ich etwas, das am Boden vor meiner Autotür lag.  Ich bückte mich. Da lag ein Handy. Ich hob es auf. Vielleicht ist es jemand aus der Jackentasche gefallen? Ich öffnete meine Autotür, warf meine Tasche auf den Beifahrersitz und setzte mich.

Durch meine Bewegungen leuchtete der Bildschirm auf. Ich sah auf das Display und im selben Moment war mir, als hätte mich ein Feuerball getroffen. Das Display zeigte mich, als ich das kleine Mädchen in seinem weißen Kleid mit den rosenartigen Tupfen in den Armen hielt. Daneben mein Auto und unter dem Vorderreifen das verbogene Fahrrad.

Ich starrte auf das Foto. Mein Blut schoss mir in den Kopf, meine Schläfen pochten.

Wie konnte das sein? Das Unglück passierte in einer ruhigen Straße am Ortsausgang. Da war doch niemand!

Wie schockgefroren saß ich im Auto, aber mir war, als brenne das Fegefeuer in mir.

Warum lag dieses Handy an meinem Auto?

Wie kam es in die Tiefgarage meines neuen Arbeitgebers? Wer schoss dieses Foto? Und, um Himmels Willen, was bezweckt er damit?

Ich konnte nur verschwommen das Display sehen und wischte mir die Tränen aus den Augen. Diese süße kleine Prinzessin. Diese eine verdammte Sekunde! Hatte meine Zukunft zerstört und ihre beendet.

Ein Quietschen ließ mich aus meiner Lethargie aufschrecken. Im Seitenspiegel sah ich einen jungen Mann, der mit einem Schlüssel in den Lack meines Autos entlang kratzte und an meiner Fensterscheibe stehen blieb. Mit einer Handbewegung deutet er an, dass ich die Scheibe runterfahren sollte.

Noch immer in Schockstarre handelte ich wie ein Roboter.

„Na? Interessantes Foto!“

Er spuckte diese Worte durch seine schmalen Lippen und schaute mich durchdringend an. Seine Körperhaltung erinnerte mich an die Typen, die im Schulhof täglich eine Schlägerei hatten, denen es scheinbar nichts ausmachte, auszuteilen oder auch einzustecken. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie eine Schlägerei, all meine Probleme konnte ich stets mit Worten lösen.

Doch in diesem Moment wusste ich, dass ich hier mit Worten nichts, aber auch garnichts lösen könnte.

„Was wollen Sie von mir?“

Er streckte seine Hand ins Auto und packte mich am Kragen, würgte mich.

„VERDAMMT! Du Schwein! Das war meine Schwester. Dafür wirst du bezahlen. Dein verdammtes Leben lang!“

Seine Stimme überschlug sich, er holte aus und verpasste mir einen Kinnhaken. Ich konnte mich nicht wehren, so eingeklemmt hinterm Lenkrad.

„Du hörst von mir! Ich weiß wo du wohnst,“ zischte er, ließ mich los, kickte mit seinem Fuß gegen meine Autotür und verschwand wieder, schneller als ich schauen konnte.

Ich zitterte am ganzen Körper. Das Parkhaus war menschenleer, wo war er? Ich schaute in den Rückspiegel, mein Kinn blutete und mit einer Handbewegung wischte ich es sauber. Schnell schloss ich das Fenster meines Wagens.

Raus hier, nur noch raus, dachte ich und fuhr los.

Er weiß wo ich wohne? JANINE! Oh Gott, er wird doch nicht zu Janine fahren!

In diesem neuen Luxuswagen hatte ich natürlich eine Freisprechanlage. Ich konnte ihre Nummer nun mit Sprachbefehl anrufen, ohne das Handy zu berühren.

„Hallo?“

Ich war noch nie so froh, ihre Stimme zu hören.

„Janine, es ist etwas später geworden, lass uns doch gleich „Am Schlosshof“ treffen.“

„Wieso, was ist los? Du klingst so komisch, keuchst du?“

„Nein, nein, alles gut. Ein Irrer hat meinen Wagen zerkratzt, hier im Parkhaus, darüber habe ich mich gerade sehr aufgeregt. Das wird die Versicherung schon regeln. Mach dir keinen Kopf. Wir sehen uns dann dort?“

Janine lachte.

„Natürlich, Schatz.“

Wie ich sie liebte! Niemand dürfte unser Glück zerstören.

„Am Schlosshof“ führte uns der Wirt durch die Räume, sprach von der möglichen Bestuhlung, Sektempfang und wir bekamen ein Probeessen.

„Sieht doch alles wunderschön aus, was meinst du? Sollen wir gleich zusagen?“

Ich nickte, konnte mich aber kaum konzentrieren. Deshalb übernahm Janine die Entscheidungen. Was für eine tolle Frau.

Da sie mit ihrem eigenen Wagen gekommen war, fuhr sie vor mir los.

Ich schaute mir mein Auto genauer an, den zerkratzen Lack, die Delle an der Fahrertür.

Was wird der Typ wollen? Geld, ganz sicher Geld. Ich sollte jetzt nicht anfangen zu weinen. Mir war schlecht.

Langsam wurde es dunkel. Kurz bevor ich zuhause war, zwei Straßen vorher, stand er mitten auf der Straße. Breitbeinig, die Arme verschränkt. Er trug Jeans, Stiefel und ein weißes Hemd. Wie ein Cowboy, nur ohne Hut. Hätte er jetzt eine Pistole gezückt, ich hätte mich nicht gewundert.

Ich bremste, hielt an. Kein Mensch weit und breit. Nur er und ich, wie in einem Duell.

Wie gesagt, ich hatte noch nie eine Schlägerei, musste mich noch nie wehren. Aber hier ging es um alles. Mein Traum, meine Leben, meine Zukunft.

Mein Fuß nahm mir das Denken ab. Er drückte aufs Gas, das Auto fuhr los, ich hielt direkt auf ihn zu.

Den dumpfen Schrei, den Schlag auf meine Motorhaube und die folgende Stille wollte ich schnell wieder vergessen. Er lag auf der Straße, bewegte sich nicht mehr und sein Blut malte rote Rosen auf sein weißes Hemd.

Diesmal stieg ich nicht aus. Ich drehte um und fuhr zu meiner Janine nach Hause.

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