MarioMassonUnbekannter Anrufer

6.02 Uhr. Es ist noch dunkel, als er losläuft und sich fragt, warum er das immer wieder tut. Hinter der alten Bahnbrücke biegt er links in den Park ab.  Es sind keine anderen Läufer zu sehen und er steigert sein Tempo. Immer die gleiche Strecke, immer die gleiche Zeit, vier bis fünf Mal die Woche, um den Körper und den Kopf frei zu bekommen.  Das macht er jetzt schon seit Jahren, seit er die Wohnung hier am Park hat.
Er stoppt abrupt.
Vor ihm leuchtet etwas im Gras.
Ein Handy, welches gerade einen Anruf erhält.
Unbekannter Anrufer.
Er sieht sich um. Weit und breit ist niemand zu sehen.
Er hebt das Handy auf, sieht auf das nun wieder dunkle Display und berührt es.
Es gibt keine Tastensperre und der fast leere Homescreen öffnet sich.
Als er das Hintergrundbild sieht, lässt er das Handy beinahe fallen.
Das kann nicht sein.
Das ist nicht möglich.
Sonja.
Kein Zweifel.
Es ist plötzlich still – im Park und auch in seinem Kopf.
Das kann nicht sein, denkt er wieder.
Ein Läufer grüßt im Vorbeilaufen, aber er reagiert nicht einmal.
Seine Gedanken überschlagen sich.
Er geht zur nächsten Bank und muss sich setzen.
Sonja.
Was hat das alles zu bedeuten?
Was passiert hier gerade?
Sie ist seit über 10 Jahren tot.
Er überlegt kurz und ihm wird bewusst, dass es sogar schon 12 Jahre sind. Sie wäre in diesem Jahr 30 geworden, wenn sie noch leben würde.
Ihm wird kalt und das liegt nicht an der kühlen Morgenluft, es ist der Gedanke, der ihn frösteln lässt. 
Sein Finger tippt erneut auf das Handy.
Er sieht wie hypnotisiert auf das Foto, dann hebt er den Blick, sieht sich kurz in dem Park um und zurück auf das Gerät.
Ihm springt nun der Ordner mit der Fotogalerie ins Auge und wie unter Zwang klickt er darauf.

Erschrocken sieht er die Bilder in der Übersicht.

„Das kann nicht sein“, entfährt es ihm kaum hörbar.

Seine Hände zittern, er schließt die Augen und als er sie wieder öffnet, will er nur noch weg. So aufgewühlt beeilt er sich, zurück zur Wohnung zu kommen. Er schließt die Tür hinter sich ab, sinkt langsam im Flur zu Boden und blickt ins Leere.

Sein Atem geht sehr unruhig und jetzt zittert auch sein ganzer Körper.
Zögernd holt er das Handy aus seiner Jackentasche, starrt es an und öffnet den Ordner mit den Bildern erneut.
Alle Fotos sind aus der Zeit, als Sonja noch lebte.
Sie alleine, sie zusammen mit ihm, mit Tom und mit der ganzen Clique.
Tränen schießen in seine Augen.

Sie ist tot.
Ich bin es schuld.
Ich habe sie getötet.

Seine Gefühle fahren Achterbahn mit ihm.

Alles kommt wieder hoch, alles was passiert ist, alles was er getan hat.

Jetzt wird ihm auch das Datum erst richtig bewusst:
3. März. Morgen wäre Sonja 30 Jahre alt geworden.
Sie steht wieder strahlend vor ihm, in ihrer Stammkneipe, und ihre Stimme, mit der sie so freudig von ihrem bevorstehenden 18ten Geburtstag erzählt, klingt in seinem Ohr.
Der Geburtstag, den sie seinetwegen nicht mehr erlebt hat.

Auch Tom sieht er vor sich und hört ihn sagen: „Heute Abend knacke ich sie. Jetzt habe ich lange genug gewartet.“

Sein Herz war stehen geblieben in diesem Moment. Ja, er war verliebt in Sonja, ohne dass sie es wusste. Sie war mit Tom zusammen, für den sie nur eine von vielen und ohne große Bedeutung war.

„Ich werde ihr heute im Auto den Sternenhimmel zeigen. Ich weiß auch einen netten Platz, der bei den Hühnern immer gut angekommen ist“, sprach Tom weiter.

Verzweifelt suchte er nach einer Lösung.
Das Auto!
Ja, wenn er nicht fahren kann, dann kann er ihr auch den Platz nicht zeigen, war sein rettender Gedanke.

Es war ein spontaner Einfall gewesen. Er dachte nicht lange darüber nach, schnappte sich seine Bierflasche und ging raus zu Toms BMW. Er zerbrach die Flasche an einer kleinen Mauer und stach die große Scherbe so in den Hinterreifen, dass sie richtig tief saß.
Der Reifen wird nachher leider platt sein und vielleicht soll ich sie ja dann nach Hause fahren, wenn Tom kein funktionsfähiges Auto hat. Dann ist sie sicher, dachte er und war mit sich und der Welt zufrieden.

Zwei Stunden später bemerkte er plötzlich, dass die beiden weg waren, ohne dass er es mitbekommen hatte.

Fast panisch lief er zum Parkplatz, um festzustellen, ob das Auto noch da war und sah, dass es weg war.

Sein Plan hatte nicht funktioniert und Tom würde sich nehmen, was er wollte. In der nächsten Stunde trank er mehr als sonst und auch mehr als für ihn gut war.

Am nächsten Morgen weckte ihn eine Freundin per Telefon aus seinem Rausch auf und erzählte ihm schluchzend, was in der Nacht passiert war.

Die beiden hatten im Wald einen Unfall gehabt. Sonja war tot und Tom schwer verletzt auf der Intensivstation. Der Wagen war aus einer Kurve geflogen.

Sonja war tot.
Tot.
Er kannte den Grund.
Er war der Grund.

Der Reifen hatte wohl erst während der Fahrt Luft verloren und bei Toms Fahrstil war dann eins zum anderen gekommen. Sein Denken kreiste danach nur noch um diesen einen Gedanken: Er hatte Sonja getötet, anstatt sie vor Tom zu retten, wie er es geplant hatte.

Das Leuchten des Telefons ruft ihn zurück in die Gegenwart.
Unbekannter Anrufer.
Was passiert hier?
Gebannt hält er den Atem an und starrt auf die Anzeige.
Unbekannter Anrufer.

Der Anruf ist beendet, das Display wird wieder dunkel und er atmet wieder.

Ein neuer Anruf.
Wieder unbekannter Anrufer. 
Er hebt vorsichtig ab, ohne sich zu melden. Durch den Lautsprecher klingt leise Purple Rain.
Sonjas Lieblingslied.
Er muss schlucken, doch es fällt ihm schwer, sein Mund ist trocken.
„Wer… wer ist da? Was soll das Ganze?“

Keine Antwort, nur das Lied läuft weiter.

Als es endet herrscht Stille.

„Wer ist da?“, fragt er erneut.

Es wird wieder laut. Lauter als vorher.

Quietschende Reifen.

Unverkennbar die Geräusche eines Autounfalls.

So, als wenn er danebenstehen würde.

Am anderen Ende wird aufgelegt.
Der Anruf ist beendet.

Er sitzt starr am Boden und hat jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren.

Seine Gedanken kehren zurück in die Vergangenheit. Die Kirche, der Friedhof, die weinenden Eltern. Die ganze Schule war da, Sonja  war  immer bei allen so beliebt gewesen. Die Wut aller richtete sich gegen Tom, obwohl dieser hilflos auf der Intensivstation noch mit dem Tod rang.

Die Unfallursache laut Polizei war überhöhte Geschwindigkeit in Kombination mit Alkohol.
Außer ihm kannte keiner die Wahrheit, hatte er damals gedacht und auch bis gestern noch geglaubt.

Ihm hatte der Mut und die Kraft gefehlt, ehrlich zu sein und die Wahrheit zu gestehen, Verantwortung zu übernehmen und auch Tom etwas von der Last zu nehmen. Es hätte ja weder Sonja wieder lebendig gemacht, noch Tom aus dem Rollstuhl geholfen, hatte er sich eingeredet.

7:21 Uhr Das Klingeln seines eigenen Handys reißt ihn aus diesen Gedanken. Es ist seine Chefin: „Guten Morgen. Ja, ja, ich weiß, dass du frei hast und es noch früh ist. Ich weiß auch aus erster Hand, wie früh du morgens immer auf bist. Denkst du bitte daran, mir gleich noch die E-Mail weiter zu leiten. Danke. Jetzt hast du schon wieder Ruhe vor mir. Genieß den Tag.“ Und weg ist sie.

Er braucht einen Kaffee und eine Dusche. Er weiß allerdings noch nicht, ob er eine heiße oder eine kalte braucht.

Nachdem er die Espressomaschine zum Aufwärmen eingeschaltet hat, stellt er sich unter die Dusche, lässt abwechselnd warmes und kaltes Wasser auf seinen Körper prasseln und versucht, etwas runterzukommen.  Es funktioniert nicht.

Seine Gedanken springen zwischen tief vergrabenen Erinnerungen und dem, was gerade passiert ist, hin und her.

 Als er aus der Dusche kommt, zieht er seinen Bademantel über und macht sich einen doppelten Espresso.

Auch nicht optimal, um runterzukommen, sagt er zu sich selbst, während er an die Flasche im Kühlschrank als Alternative denkt.

8:05 Uhr. Wieder holt ihn ein Klingelton aus seinen Gedanken. Diesmal ist es die Türklingel.

„Ja, bitte?“, fragt er vorsichtig über die Freisprechanlage.

„Express Paket. Welche Etage?“ – „Die dritte“, erwidert er und drückt auf. Der Paketfahrer gibt ihm ein Päckchen und ist schnell wieder weg. Schon gestresst am frühen Morgen, denkt er.

Dann sieht er auf den Absender, taumelt und kippt fast um. Er stützt sich gerade noch auf seinem Sideboard ab und fängt sich wieder.

Es ist Sonjas Adresse.

Tote können keine Päckchen versenden.

Ohne es zu öffnen, stellt er es in der Küche auf die Arbeitsplatte und sieht es einfach nur an.

Dann nimmt er endlich ein Messer aus dem Block und schneidet es vorsichtig auf.

Das Messer schlägt laut auf dem Steinboden der Küche auf, nachdem er den Inhalt sieht.

Eine zerbrochene Bierflasche und Sonjas Totenzettel.

 

Ihm fehlen die Worte und Gedanken.
Mit dem Päckchen in der Hand kniet er nun auf dem kalten Küchenboden.
Tränen laufen über sein ausdrucksloses Gesicht.
Wieder kommt die Vergangenheit hoch und zieht ihn in ihren Bann.
Die ersten Monate nach dem Unfall war er jede Woche mit Blumen auf dem Friedhof gewesen. Einige Male hatte er dabei Sonjas Schwester Linda getroffen und mit ihr geredet. Es war ihm sichtlich schwergefallen, was Linda aber sicherlich auf die Trauer und nicht auf sein schlechtes Gewissen zurückgeführt hatte.
Auch im Krankenhaus bei Tom, hatte er immer wieder neben dessen Bett gesessen. Erst nach drei Monaten war Tom ansprechbar gewesen und konnte begreifen, was passiert war. Also die Version von dem, was passiert war, die die Polizei vertrat. Die Version, die ihm die Schuld an dem Unfall gab. Die andere Wahrheit konnte Tom nicht kennen. Er hätte ihm gerne diese Last genommen und wollte in diesem ersten Jahr immer wieder zur Polizei, um alles klarzustellen. Mehrmals hatte er das Telefon in der Hand gehabt. Auch anonym eine Meldung zu machen,  mit der er sich nicht selbst belastete, aber Tom entlastet hätte, kam ihm damals in den Sinn. Ja, sogar ans Beichten für sein eigenes Seelenheil hatte er gedacht. Doch getan hat er nichts davon und im Laufe der Zeit verblasste sein Anteil an dem Unfall mehr und mehr.
Tom war der Fahrer.
Tom war angetrunken gewesen.
Tom war zu schnell gefahren.
Ja, er hatte mit seiner Idee nur helfen und sogar die Fahrt verhindern wollen. So musste man das wohl sehen und so wollte er selbst das auch sehen.

Knapp ein Jahr nach dem Unfall war er zum Studieren nach Köln gezogen und hatte ab dann kaum noch Kontakt zu seiner alten Clique, nur ein wenig über die Sozialen Medien. Dadurch wusste er auch immer wieder, was in der Gegend passierte, wenn auch zeitlich verzögert.  Dass Tom nicht mehr im Rollstuhl saß, sondern auf Krücken laufen konnte, erfuhr er. Und auch, dass Tom…

9:12 Uhr. Es klingelt wieder. Sein Handy. Peter ruft an. „Guten Morgen, ganz kurz nur. Ich schaffe das heute Mittag nicht. Lass uns nächste Woche mal sehen. Ok?“ – „Ja klar. Kein Stress.“ – „Super, ich melde mich.“

Auf dem anderen Handy werden wieder drei unbekannte Anrufe in Abwesenheit angezeigt.

Er versucht zu verstehen, was da in den letzten 3 Stunden passiert ist und warum.
Es war alles so weit weg gewesen, längst vergangen und für ihn tief begraben – wie Sonja.
Kannte außer ihm denn sonst jemand die Wahrheit?
Wieso passiert das jetzt?
Es war doch wenn auch ein Unfall.
Ist nicht alles verjährt?
Kann Moral oder ein schlechtes Gewissen verjähren?
Das schlechte Gewissen ist auf jeden Fall wieder da, vielleicht war es nie weg.


9:41 Uhr. Es klingelt wieder. Diesmal zuckt er regelrecht zusammen. An der Freisprechanlage hört er „Einschreiben!“ – „Ja, dritte Etage.“ Er öffnet, immer noch im Bademantel, die Tür, unterschreibt und nimmt den großen Umschlag entgegen. Es wundert ihn schon gar nicht mehr, dass wieder Sonjas Adresse als Absender draufsteht. Diesmal zögert er nicht lange und reißt den Umschlag auf. Es fällt eine Zeitung heraus. Es ist die alte Ausgabe des regionalen Wochenspiegels, mit dem Unfallfoto auf dem Titel. Jemand hat mit roten Edding Mörder darauf geschrieben.
Mörder.
Ich bin doch kein Mörder!
Nein.
Ja, ja ich habe auch Schuld, aber es war ein Unfall.
Sein ganzer Körper vibriert wieder und diesmal kommen die Tränen aus dem tiefsten Innern seiner Seele.
Durch die Tränen hindurch sieht er das Handy einmal kurz aufleuchten.
Es ist eine Nachricht gekommen.
Ich will nicht.
Es soll aufhören!
Er geht zum Kühlschrank, nimmt die Averna-Flasche, gießt sich ein halbes Glas voll und leert dieses in einem Zug. Mit dem warmen Gefühl, das der Kräuterschnaps im Magen auslöst, greift er sich das Handy, um die Nachricht zu lesen.
Es ist ein Video mit dem Titel: >Sonjas und Toms Mörder<.
Mörder?
Und wieso Toms Mörder?
Tom hatte vor…,er überlegt, oh mein Gott, vor sieben Jahren Selbstmord begangen. An Sonjas Geburtstag.
Wie konnte er auch das vergessen?
Er hat erst später davon erfahren, auch von der anonymen Bestattung auf einem Waldfriedhof. Damals war vieles noch einmal hochgekommen und er ist nie am Grab gewesen, um endgültig Abschied zu nehmen.
Sein Blick richtet sich aufs Neue auf das Handy und er startet das Video. Die Anzeige ist einen Moment schwarz, dann erscheint der Schriftzug >Sonjas und Toms Mörder<, wieder klingt Purple Rain aus dem Lautsprecher und er sieht sich selbst auf dem Parkplatz, wie er die Flasche zerschlägt und damit in Toms Reifen sticht. Das Ganze läuft in einer Endlosschleife und er schafft es nicht, weg zu sehen.
Die Szene wiederholt sich automatisch, immer und immer wieder.
Wieso gibt es eine Aufnahme?
Wer hat ihm diese geschickt?
Und wieso heute, mit dem ganzen Aufwand?

Gerade als er die Nummer des Absenders nachsehen will, wird wieder alles dunkel, als ob das Telefon aus wäre.
Keine Reaktion auf sein Tippen oder Drücken.
Dann plötzlich, wie von Geisterhand, springt das Display wieder an und zeigt, dass es gesperrt wurde.
Er gerät in Panik und ist gleichzeitig wie gelähmt.
Er schließt die Augen und will nichts mehr sehen oder hören.

Aus der Ferne ist ein immer lauter werdendes Klingeln zu vernehmen.

Was ist das?

5:42 Uhr. Sein Wecker klingelt.
Er öffnet schweißgebadet die Augen.
Er braucht einen Moment, um zu begreifen, wovon er gerade geträumt hat.
Es war schon lange nicht mehr präsent für ihn gewesen.
Ist morgen wirklich Sonjas Geburtstag und auch Toms Todestag?
Ja, ist es und es fühlt sich alles so real an.
Das Gefühl ist so intensiv, dass er
spürt, dass er erst einmal den Kopf frei bekommen muss.

Er trinkt einen Espresso, zieht seine Laufsachen an und geht raus auf die Straße.

6.02 Uhr. Es ist noch dunkel, als er losläuft und sich fragt, was dieser Traum bedeutet. Hinter der alten Bahnbrücke biegt er links in den Park ab.  Es sind keine anderen Läufer zu sehen und er steigert sein Tempo.

Er stoppt abrupt.

Vor ihm leuchtet etwas im Gras.

Ein Handy, welches gerade einen Anruf erhält.

Sein Herz bleibt fast stehen.

Sonja ruft an..

One thought on “Unbekannter Anrufer

  1. Hi Mario,

    eine spannende Geschichte, weil man eine Zeit lang denkt, dass Tom dahinterstecken könnte. Dann fällt er raus, da er gestorben ist. Und nach dem Traum geht’s noch mal los, mit offenem Ende – also erfährt man nie wirklich wer dahinter steckt.
    Eigentlich mag ich Geschichten, die einen am Ende zum weiterdenken anspornen, aber hier ist ein wenig zu viel offen gelassen…
    Dennoch, spannend erzählt, ich habe sie in einem Rutsch verschlungen, daher gibt’s einen Like von mir.

    LG Philipp

    PS: würde mich freuen, wenn Du dir auch meine Geschichte anschaust: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/tindermoerder

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