Johannes B KrumpipeUnethisch

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Unethisch

Johannes Baptist Krumpipe

 

Blinzelnd sah Markus ins Licht. Seine Umgebung verschwamm in einem Raum ohne Grenzen, alles wurde von dem hellen Licht eingenommen, welchem er sich gegenübersah. Das Bett, in dem er lag, die Kommode, der Kleiderschrank, die Beistelltische mit den Fotos seiner Kinder. All das verlor seine Grenzen, verlor seine Formen. Zu Markus plötzlicher Erblindung kamen nun dröhnende Kopfschmerzen. Stöhnend hielt er sich seine rechte Hand an die Stirn. Er drehte sich zur Seite. Friedas Bettseite war verwaist. Ihr Kopfkissen lag quer auf dem Laken und ihre Bettdecke war völlig zerzaust. Langsam richtete sich Markus auf, seine Augen gewöhnten sich langsam an das helle Licht, welches durch die Glasfront zu seiner linken Seite ins Schlafzimmer fiel. Eigentlich stand er auf, bevor die Sonne das Zimmer mit ihrem hellen, warmen Licht flutete. Er hatte gestern wohl doch mehr als nur das eine Bier getrunken, als er mit seinem Klienten ihren Sieg vor Gericht gefeiert hatte. Hoffentlich war Frieda nicht allzu sauer. Die Kopfschmerzen klopften wieder vom Inneren an seine Stirn. Aua. Und er hoffte, dass sie noch Aspirin in der Küche hatten.

Seit seiner Beförderung wurden die gemeinsamen Familientage immer rarer, umso mehr war es zum Ritual geworden, dass er mit der ganzen Familie frühstückte. Er holte die Brötchen vom Bäcker, der seine Backstube nur wenige Straßen von ihnen entfernt hatte. Frieda deckte den Frühstückstisch und wenn er mit den frischen Brötchen zurückkehrte, weckten sie die Kinder.  

Doch heute hatte er seinen Teil des Rituals wohl nicht erfüllen können, denn als er in das große Esszimmer trat, schwebte ihm bereits der Duft von frischen Brötchen und Kaffee in die Nase. Schlaftrunken torkelte er dem köstlichen Geruch entgegen.

Frieda war gerade dabei Leonie ein Glas Kakao einzuschenken, als sie erschrocken zurückwich und sich ihre rechte Hand vor Überraschung vor den Mund hielt.

„Leonie, Jonathan, schaut! Ein Bewohner eines fremden Planeten besucht uns!“ Die Kinder lachten, während Markus seinen legendären „Ist-das-dein-Ernst,-Schatz?“ Blick aufsetzte, für den er seinen Kopf leicht schräg hielt und seine Augenbrauen fragend hochzog.

„Von welchem Planeten kommt er denn, Mami?“ fragte Jonathan aufgeregt, voller Vorfreude auf den nächsten Scherz seiner Mutter. Friedas Lippen beschrieben ein sanftes Lächeln.

„Ich würde sagen, er kommt aus dem Schlafzimmer-System, vom Planeten Bettus.“ Lächelnd schüttelte Markus den Kopf, bevor er ein todernstes Gesicht aufsetzte.

„Ganz recht und ich komme, um euch zu holen!“ Markus spurtete die letzten Schritte bis zum Tisch und begann seine Kinder zu kitzeln. Leonie und Jonthan lachten spitz auf, schlugen mit ihren Händen um sich und Frieda konnte nur gerade so eben noch Leonies Kakaoglas aus der Reichweite ihrer Arme bringen.

„Lass das, Papa!“ Jauchzend warf Jonathan seinen Kopf hin und her.

„Nein! Ich komme euch holen! In Bettus werden wir euch Erdlinge genau erforschen!“

„Ihhh! Mit diesen Saugnäpfen? Die kitzeln so, lass das Papa!“ Direkt vor Markus Gesicht tauchte eine Tasse frischen Kaffees auf, als würde die schweben, oder gebeamt werden. Dabei stand nur Frieda neben ihrem verspielten Ehemann und hielt ihm lächelnd seine Lieblingstasse unter die Nase.

„Vielleicht können wir unseren Besucher mit dem Austausch von Gütern besänftigen?“ Markus ließ von seinen Kindern ab, die noch einige Sekunden lachten und dann schließlich erleichtert aufatmeten.

„Was ist das für eine köstlich riechende goldbraune Flüssigkeit? Das kennen wir in Bettus nicht.“ Markus nahm Frieda die Tasse ab und trank den ersten Schluck Kaffee an diesem Morgen. Das tat gut! Auch gegen seine Kopfschmerzen half der Kaffee ausgezeichnet.

„Tja, wenn das so ist, muss unser außerirdischer Besucher wohl länger bei uns bleiben, wenn er unsere Rohstoffe genießen will.“ Frieda schlang ihre Arme um Markus Hals. Sie trug nur einen Bademantel, der ihren halbnackten Körper zwar verdeckte, aber ihre schöne Körperform erahnen ließ. Lächelnd drückte sie ihm den ersten Kuss des Tages auf den Mund, den Markus mehr als nur genießerisch erwiderte. Der erste Kaffee am Morgen und der erste Kuss seiner Frieda zusammen mit dem Spaß mit seinen Kindern ließ all seine Sorgen und Kopfschmerzen mit einem Schlag vergehen.

„Ich durfte Brötchen kaufen!“ rief Leonie mit einer Mischung aus Stolz und Freude.

„Ganz allein? Du wirst ja schon ein großes Mädchen.“ Leonie grinste bis über beide Backen.

„Ja, das wird sie.“  Frieda lächelte und strich Leonie über ihre braunen Locken, die ihr mittlerweile bis zu den Schultern reichten. Leonie war acht Jahre alt, ihr Bruder Jonathan war vor ein paar Wochen sechs geworden und freute sich schon auf seine Einschulung nach den Ferien.

 „Was machen wir heute, Papa?“ fragte Leonie. Die beiden Kleinen erwarteten jeden Sonntag mit größter Vorfreude.

„Was haltet ihr davon, wenn wir Minigolfen gehen und danach schön picknicken?“ fragte Markus und beobachtete die wachsende Begeisterung in den Augen seiner Kinder.

„Ja! Aber ich darf mehr als nur sechs Mal schlagen!“ forderte Jonathan aufgeregt.
„Sieben Mal.“ Korrigierte ihn seine Schwester mit genervt rollenden Augen.

Die Familie beendete ihr Frühstück und einer nach dem anderen verschwand im Bad.

Markus und Frieda bepackten das Auto mit den Kindern und den Sachen fürs Picknick. Jubelnd und voller Vorfreude ließen sie ihr Zuhause hinter sich und machten sich auf ins Grüne. An einem See unweit von München parkten sie. Hier war ihr Lieblings-Minigolf Platz. Sie liehen sich Bälle und Schläger, Jonathan und Leonie stritten sich, wer von ihnen mit dem roten Ball spielen durfte. Jonathan bestand darauf, dass er mit dem roten Ball spielen dürfe, weil er zu seinem FC Bayern München Trikot passen würde, während Leonie auf ihr rotes Sommerkleid mit den vielen weißen Punkten verwies.

„Natürlich geht es nur darum, dass er Ball zur Kleidung passt. So jung und schon so modebewusst“, flüsterte Markus Frieda zu und zwinkerte. Frieda lachte verlegen. Mit einem Schnick-Schnack-Schnuck Spiel konnte die Frage nach dem roten Ball geklärt werden. Zwar maulte Jonathan etwas, aber mit dem weißen Ball war er auch einverstanden.

Markus hatte schon immer gerne Minigolf gespielt und gewann fast jedes Spiel. Bei der einen oder anderen Bahn spielte er auch gerne etwas schwacher, damit seine Kinder ihn schlagen konnten und Jonathan durfte ohnehin mehr als nur sieben Mal schlagen, doch auf der Bahn mit dem Netz ließ er es sich nicht nehmen, sein ganzes Minigolftalent unter Beweis zu stellen. Frieda schaffte es eigentlich immer, doch meistens brauchte auch sie fünf oder sechs Versuche. Markus hingegen war ein Profi und schaffte es immer mit nur einem, oder allerhöchstens zwei Schlägen. Leonie und Jonathan sahen dann immer wieder begeistert zu, wie ihr Vater den Schläger schwang und sein grüner Ball engelsgleich, schnell und trotzdem so elegant und leicht über die Rampe genau ins Netz flog.

Es war die vierte Bahn, sie lag verborgen im Dickicht einiger Büsche.

„Papa schlägt als Erster!“ Rief Jonathan aus. Markus lachte.

„Natürlich doch.“ Er legte sich den Ball zurecht und wollte gerade leicht in die Knie gehen, als er von Leonie unterbrochen wurde.

„Papa, da liegt ein Handy im Netz! Kann ich es behalten?“ Leonie war aufgeregt, hüpfte auf der Stelle und zeigte auf das Netz, das leicht im Wind schwankte.

„Nein, Leonie, das gehört doch jemandem. Wir müssen es abgeben“, erklärte Frieda, während Markus das Handy aus dem Netz fischte. Es war ein einfaches Smartphone, nicht das neuste Modell, schien aber unbeschädigt und in einem guten Zustand zu sein. Markus inspizierte es genau, doch nirgendwo fand er eine Karte, eine Gravur oder einen anderen Hinweis auf den Besitzer.

„Wer verliert sein Handy denn an dieser Stelle?“, wunderte sich Frieda, während sie versuchte Leonie zu erklären, dass sie auch noch ein Smartphone bekommen würde, aber erst, wenn sie auf die weiterführende Schule kommt. Ratlos zuckte Markus mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Für ein Versehen ist der Platz eigentlich zu ungewöhnlich. Trotzdem sollten wir es abgeben.“ Markus schaltete das Display ein, vielleicht konnte man über das Hintergrundfoto Rückschlüsse auf den Besitzer des Handys ziehen. Das Smartphone verlangte keinen PIN von Markus, er konnte es ganz einfach entsperren. Ein Hintergrundfoto kam zum Vorschein.

Markus wurde plötzlich ganz kalt, eine Gänsehaut benetzte seinem Körper. Es war ein Foto von ihm und seiner Familie. Sie standen hier, auf diesem Minigolfplatz, an Bahn Vier mit dem Netz und Markus war gerade dabei auszuholen. Was sollte das? Spionierte man ihnen nach? Das Foto musste beim letzten Ausflug geschossen worden sein. Markus wollte nach rechts und links wischen, doch es gab nur einen Bildschirm und nur drei installierte Apps. Kamera, Fotos und SMS.
„Papa? Spielen wir weiter?“ Langsam nickte Markus auf Leonies Frage.

„Natürlich.“ Seine Stimme war leise, eingeschüchtert und etwas verängstigt. Frieda fiel das sofort auf. Bekümmert warf sie einen Blick auf ihren Ehemann, der das Handy langsam in seine Hostentasche stecke. Jetzt und hier vor den Kindern würde Markus gute Miene zum bösen Spiel machen. Heute Abend würde er sich ansehen, ob noch mehr Fotos von ihm und seiner Familie auf dem Smartphone waren.

„Was ist los?“ flüsterte Frieda und legte sanft eine Hand auf Markus Schulter ab. Markus schüttelte den Kopf.

„Nichts. Spielen wir weiter.“

Sie verbrachten noch einen schönen, heiteren und vergnügten Nachmittag. Beim Minigolf siegte Leonie am Ende, worauf diese vor Freude und Stolz aus dem Häuschen war und was sie dazu veranlasste, jubelnd über den Platz zu hüpfen. Markus war die restlichen Bahnen über abwesend gewesen und hatte selbst für einfache Hindernisse mehrere Versuche gebraucht. Als sich abzeichnete, dass Leonie ihre Eltern besiegen konnte, fing auch Frieda an, unauffällig schlechter zu spielen. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Mann absichtlich schlechter spielte, oder ob ihn etwas ablenkte. Immer wieder sah er sich um, er wirkte paranoid und geistesabwesend. Zumindest auf sie. Vor den Kindern war er der alte Spaßvogel. Auch das Picknick genossen sie sehr, doch auch hier fielen Frieda Veränderungen in Markus Verhaltensweisen auf. Er gab den Kindern Geld, damit sie sich Süßigkeiten und Limonade kaufen konnten. Dabei hatten sie doch Zuhause alles eingepackt.  Markus bestand auch darauf Thermoskanne tranken. Am Ende des Tages hatten sie kaum etwas von ihrem Proviant gegessen und bevor Markus das Auto startete, öffnete er die Motorhaube und warf prüfende Blicke in das Innenleben ihres Mercedes. Frieda wurde es spätestens jetzt zu viel.

„Kannst du mir sagen, was mit dir los ist? Du wirkst völlig paranoid. Und wieso hast du das Handy nicht abgegeben?“ Markus zuckte zusammen, als er Friedas zischend geflüsterte Stimme direkt neben sich hörte.

„Musst du mich so erschrecken?“ Markus schüttelte sich. Frieda legte einen mehr als nur besorgten Blick auf.

„Was ist los mit dir? Hat es mit dem Handy zu tun? Ich erkenne dich gar nicht wieder.“ Markus wollte Frieda belügen, zumindest nur kurz. Sie aus der Sache raushalten. Er vermutete, dass sich da nur jemand einen Scherz mit ihm erlaubte, aber sicher war er sich nicht. Als Staatsanwalt machte er sich nicht nur Freunde. Drohungen erhielt er oft, es gab ruhige Wochen, aber auch Wochen, wo fast täglich Drohbriefe ins Haus flatterten. Markus wusste, dass es meistens leere Drohungen waren, aber der Gedanke, dass womöglich ein Verfasser derartiger Drohbriefe so nah an ihm und seiner Familie gewesen war, ließ ihn erschaudern. Das war bisher noch nie der Fall gewesen.

Er wollte Frieda ablenken, eine Ausrede finden, doch an ihren kristallhellen, blauen Augen, die Markus nun streng ansahen gab es kein Vorbei. Er seufzte.

„Ich habe das Handy entsperrt und schau, welches Hintergrundfoto eingestellt ist.“ Friedas Blick war skeptisch, als Markus ihr das erzählte und das Handy rausholte. Überrascht, als sie den Sperrhintergrund sah und Markus das Handy mit seinem Daumenabdruck entsperren konnte. Erschrocken, als sie das entsperrte Hintergrundfoto sah.

„Das… das sind wir.“  Stammelte sie ungläubig. Markus nickte.

„Ich bin mir sicher, dass sich da nur jemand einen schlechten Schmerz mit mir erlaubt. Aber ich möchte vorsichtig sein.“ Frieda nickte bedächtig.

„Ich verstehe.“ Frieda sah ins Auto, stolz hielt Leonie Jonathan ihren Punktestand unter die Nase. Jonathan hatte die Arme vor der Brust verschränkt und streckte ihr die Zunge raus. Langsam wandte sie ihrem Blick wieder zu Markus.

„Tu bitte so, als würde der Wagen nicht anspringen. Wir rufen uns ein Taxi.“

Zum Glück war am nächsten Tag Montag und Markus und Frieda konnten ihre Kinder früh ins Bett schicken. Nachdem beide ihre Gute-Nacht Geschichte und ihren Gute-Nacht Kuss erhalten hatten, kehrte Frieda ins Wohnzimmer zurück. Markus saß in seinem Lieblingssessel und hielt das gefundene Smartphone in seinen Händen. Es war noch nicht entsperrt.

Zögernd und leichtfüßig näherte sich Frieda dem Sessel. Markus Kopf war gesenkt. Erst als sie neben ihm stand,
entsperrte er das Handy. Zitternd schwebte sein Zeigefinger nur Millimeter über dem Zeichen für die Foto-App. Schließlich öffnete er sie durch einen einfachen Klick, den er sich im Nachhinein lieber erspart hätte.

Ungläubig hielt sich Frieda eine Hand vor ihrem Mund, während Markus stur durch die Fotos klickte. Das erste Foto war recht einfach, es war wieder nur ein Zettel auf dem Holztisch. „Was du bist“ war dieses Mal die Botschaft. Es folgten Fotos von Markus alleine, oder mit seiner Familie. Fotos, wie er im Gericht stand, Fotos von ihm und seiner Familie am Frühstückstisch, bei einer Fahrradtour, beim Minigolfen, am See, auch Fotos von seinem Haus und seinem Auto ohne ihn und seine Familie. Schließlich war wieder ein Zettel auf dem Tisch abfotografiert. „Was ich bin“. Die darauffolgenden Fotos waren zwar auch alle in München aufgenommen worden, stammten aber aus einer anderen Welt. Sie zeigten ein hässliches Mietshochhaus, eine Müllhalde, Bilder von Obdachlosenlagern unter den Brücken und ein altes Taxi. Im Gegensatz zu den ersten Bildern war nie ein Mensch auf den Fotos zu sehen.

„Was du sein könntest“ lautete die Beschreibung der nächsten Bilder. Fassungslos schüttelten Markus und Frieda ihre Köpfe. Es waren dieselben Fotos. Das Mietshaus, die Müllhalde, die Brücken, das Taxi.

„Was soll das?“ Frieda war nicht weniger verwirrt als Markus.

„Du solltest zur Polizei gehen.“ Meinte Frieda energisch, doch dafür erntete sie nur ein Kopfschütteln von Markus.

„Und was sollen wir der Polizei sagen? Dass ein Unbekannter uns fotografiert hat? Das hier kann man eventuell als Stalking oder Nötigung auffassen, aber da sind Anzeigen gegen Unbekannt oft nicht besonders erfolgreich. Und eine richtige Drohung kann ich hier nicht erkennen. Ich denke, es handelt sich einfach um einen schlechten Scherz.“ Wirklich sicher war sich Markus da aber nicht mehr. Konnte es sein, dass jemand wusste, dass er…? Markus schluckte. Und wenn schon. Es war zwar illegal gewesen, aber er konnte doch nichts dafür.

„Na gut. Dann lass uns jetzt ins Bett gehen.“ Markus Frau sah sich um. Sie wohnten in einem modernen Haus mit großem Garten, welches sehr viele große Fensterfronten hatte. Frieda liebte es, wenn die Sonne durch die großen Fenster das ganze Haus durchfluten konnte, doch plötzlich fühlte sie sich durch die Fenster bedroht. Sie zeigten ihr auf, wie schutzlos sie vor der Welt da draußen war. My Home is my Castle, aber die großen Fenster sind heruntergelassene Zugbrücken.

„Und vielleicht lassen wir lieber die Jalousien runter.“ Markus lächelte sanft.

„Natürlich.“

Der nächste Tag begann ungewöhnlich dunkel. Zum ersten Mal seit Jahren musste Markus das Licht einschalten, um sich im Schlafzimmer zurechtzufinden. Die geschlossenen Jalousien verschluckten jedes Licht, welches von draußen eindringen konnte. Markus seufzte. Nur das Licht? Oder auch ungebetene Gäste? Das bestimmt nicht. Eine Jalousie war kein Hindernis.
Mühsam stand Markus auf. Heute Vormittag hatte er drei kleinere Prozesse, danach eine ausgedehnte Mittagspause und am Nachmittag fand ein größerer Prozess statt. Eigentlich wollte Markus seine Mittagspause nutzen, um die Akten durchzugehen und seine Anklage zu perfektionieren, doch er war sich siegessicher genug, um das zumindest kurz aufzuschieben. Er wollte heute unbedingt die Orte suchen, die auf den Fotos abgebildet waren. Markus griff zu dem neuen, rätselhaften Smartphone, das er wie einen Talisman auf dem Beistelltisch neben seinem Bett abgelegt hatte. Wenn er doch nur alle Orte erkennen könnte. Die Brücke konnte jede in München sein. Vielleicht war es die Reichenbachbrücke.

Das nächste Foto war noch schwieriger zuzuordnen. Ein verbeultes Taxi war im Vordergrund. Auf der Straße standen zahlreiche weitere Autos. Kennzeichen, auffällige Gebäude oder ein Straßenschild waren nicht zu erkennen, nur eine rote Mauer im Hintergrund. Markus überlegte angestrengt. Dann seufzte er. Bevor er sich diesem Rätsel stellen wollte, würde er frühstücken.   

Frieda und die Kinder schliefen noch. Meistens war er gerade auf dem Weg in sein Büro, wenn seine Frau und seine Kinder zusammen frühstückten. Frieda würde dann Jonathan in den Kindergarten und Leonie zur Schule bringen, bevor sie selbst zur Schule ging. Sie war Lehrerin an einem Münchner Gymnasium, noch waren weder Leonie oder Jonathan Schüler an ihrer Schule.

Rasch zog er sich an und nahm ein schnelles Frühstück zu sich. Er hatte zwar keine Chance die Mietskaserne oder den Müllplatz zu erkennen, doch die rote Mauer im Hintergrund des Fotos mit dem Taxi könnte die Mariahilfkirche sein. Diese liegt in der Au, auf der südlichen Isarseite gar nicht so weit von der Reichenbachbrücke entfernt. Das Hochhaus und die Müllhalde konnten theoretisch also auch weiter im Süden liegen. Markus seufzte. Das war weit weg vom schönen Schwabing, aber er musste wissen, wer diese Fotos geschossen hatte.

Markus hatte sich ein Taxi gerufen und natürlich fuhr nicht das verbeulte Taxi vom Foto vor seinem Haus vor. Das wäre auch ein zu großer Zufall gewesen. Während der Fahrt rief Markus einen Abschleppdienst an. Sein Auto sollte vom Minigolfplatz abgeholt und in einer Werkstatt auf Haut und Nieren, vor allem aber auf Bremsen und Reifen untersucht werden. Zum Glück war der Weg von seiner Kanzlei zum Gericht nicht weit. Bevor Markus ausstiegt, hielt er inne.

Er fragte den Taxifahrer nach den Orten auf den Fotos. Viel weiterhelfen konnte er nicht, aber er bestätigte den Verdacht, dass die rote Mauer zur Mariahilfkirche gehören könnte. Das Taxi kannte er nicht, aber es fiel ihm auf, dass es keine Werbung am Taxi gab, es sich also wahrscheinlich um das Taxi eines selbstständigen Fahrers handelte.

 Zum Glück hatte Markus die Akten für die Prozesse Heute bereits am Samstag erstellt und zusammengelegt. So hatte er sich Zeit gespart und heute wäre er zu sehr von diesen rätselhaften Fotos abgelenkt worden. Kurz überlegte er sich, ob er sich nicht krankmelden sollte. Doch das war überflüssig. Markus konnte sich zusammenreißen, sich nichts anmerken lassen, wenn es darauf ankam. Er durfte nur nicht zulassen, dass im Gerichtssaal das Bild von seiner Familie vor seinem inneren Auge auftauche, das ihm Angst einjagte. Oder das Bild von dem Zettel „Was du sein könntest“, das ihn verhöhnte. Markus hatte die schlechte Eigenschaft, auf seinen Fingernägeln zu kauen, wenn er nervös, beunruhig, aufgeregt oder verängstigt war, längst abgelegt, doch in diesem Moment hatte er große Lust, es vielleicht doch noch einmal zu tun.

Am Ende konnte er sich wie immer gerade noch zusammenreißen. In seinem ersten Prozess wirkte er noch etwas geistesabwesend, doch in den zwei darauffolgenden Prozessen ließ nichts darauf schließen, dass Markus innere Kämpfe austrug, die es mit keinem Gerichtsprozesss auf der ganzen Welt aufnehmen konnten. In seinem Kopf war Markus Ankläger und Angeklagter zur selben Zeit. Es war nicht gerecht, was er gemacht hatte; was man mit ihm gemacht hatte. Es war nicht gerecht was er war, es, also er, war sogar illegal. Aber das konnte keiner wissen. Und ihn traf keine Schuld. Ein schlechtes Gewissen hatte er deswegen aber nicht zum ersten Mal.

Die Mittagspause war eine Erlösung. In seiner Kanzlei konnte Markus seine Maske fallen lassen. Aus dem wie gewohnt lässigen, aber strengen und souveränen Staatsanwalt wurde wieder der besorgte Familienvater. Kopfschüttelnd betrachtete Markus nochmals die Fotos. Die Reichenbachbrücke und die Mariahilfkirche waren die einzigen Hinweise, die er hatte. Er seufzte. Bis zum Beginn des nächsten Prozesses hatte er fast vier Stunden Zeit. Das reichte. Entschlossen machte sich Markus auf zur Reichenbachbrücke. Er wollte denjenigen finden, der ihm und Frieda Angst machen wollte.

Unter der Reichenbachbrücke fand er nichts außer schlammige Erde. Wenn hier mal ein Obdachlosenlager gewesen war, war es geräumt worden. Also zog Markus weiter. Zuerst triumphierte er. Er hatte recht gehabt, er erkannte den Platz und die Kirche wieder. Das Foto war definitiv hier aufgenommen worden. Suchend blickte Markus sich um. Eine Müllhalde würde er hier in der Nähe nicht finden, die Au war immerhin ein Wohngebiet, welches größtenteils aus Mehrfamilienhäusern bestand. Hochhäuser konnte er hier keine entdecken. Also hielt er nach dem Taxi Ausschau. Doch es war nicht da. Zwar parkten drei Taxen vor der Kirche, aber diese glichen dem Taxi aus dem Foto nur in der Farbe. Markus wollte gerade einen der beiden Taxifahrer nach dem Taxi auf dem Foto fragen, als das Handy in seiner Hand vibrierte. Markus entsperrte es überrascht. Man hatte ihm zwei Fotos geschickt, ohne einen Text. Als Markus sie öffnete, zerbrach seine Welt in zwei Teile, unmittelbar danach blieb die Zeit stehen.

Jonathan und Leonie standen mit verweinten Gesichtern und einem Strick um den Hals je auf einem einfachen Wäschekorb. Der Hintergrund war dunkel, das Foto war mit einem Blitz geschossen worden. Die Angst war Markus Kindern ins Gesicht geschrieben, und Markus glaubte, auf den Fotos ihre Beine zittern zu sehen. Ihm fiel auf, dass sie beide nur auf Zehenspitzen standen. Markus wurde übel. Nur ein falscher Schritt und… Er wollte nicht daran denken. Er öffnete das zweite Foto.

Frieda saß an einem Stuhl gefesselt da, auch ihr Gesicht war verweint, ihre Tränen hatten ihre Wimperntusche verschmiert, feine schwarze Linien verliefen über ihre Wangen, wie schwarze Tränen der Angst. Ihre Arme waren mit Seilen fest an den Lehnen, ihre Beine an den Füßen des Stuhls gefesselt. Um ihren Bauch und Hals waren weitere Seile gezogen.

Markus wurde übel. Er versuchte die Nummer, die ihm diese Fotos geschickt hatte anzurufen, doch er wurde weggedrückt. Was sollte er tun? Zur Polizei gehen? Der Entführer hatte ihm keine Anweisungen gegeben. Markus musste sich setzten. Was verlangte man von ihm?

Die Antwort auf diese Frage bog gerade um die nächste Straßenecke. Markus schreckte auf. Das verbeulte Taxi hielt direkt vor ihm. Zögernd ging er auf den Wagen zu, seine Hand zitterte wie die eines Alkoholikers nach drei Wochen kaltem Entzug, als er nach dem Griff der Beifahrertür griff und einstieg.

„Normalerweise sagen mir meine Gäste, wo ich sie hinbringen soll. Dieses Mal ist es wohl anders.“ Markus blickte auf den Taxifahrer, doch dieser trug einen Mantel und eine Mütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Markus konnte nichts erkennen.

„Wer sind Sie? Und was haben Sie mit meiner Familie gemacht?“ Langsam schüttelte der Taxifahrer den Kopf.

„Alles zu seiner Zeit. Ich bringe dich zu deiner Familie. Und während der Fahrt kannst du über die Frage nachdenken, wer du bist.“ Der Motor wurde gestartet.

„Ich kann auch die Polizei holen.“ Markus Stimme war brüchig, er glaubte selbst nicht an das, was er sagte. Der Entführer seiner Familie lachte.

„Das musst du nicht. Wenn du willst, fahre ich uns beide zur Polizei und du kannst mich anzeigen. Die Polizisten werden mich verhaften und verhören. Und niemals werde ich sagen, wo ich deine kleine, heile Familie gefangen halte. Du weißt ungefähr wie lange ein Mensch ohne Wasser überleben kann? Bis die Polizei sie gefunden hat, sind Wochen vergangen, glaub mir.“

Die Fahrt ins Ungewisse begann. Der Fahrer blieb die ganze Zeit über konzentriert und sagte kein Wort mehr. Markus merkte weder wohin, noch wie lange sie fuhren. Voller Angst blickte er abwechselnd auf das Handy in seinen Händen und auf den Entführer.

Nach einiger Zeit hielt das Taxi vor einer heruntergekommenen Lagerhalle. Der mysteriöse Taxifahrer stieg aus und öffnete Markus die Tür. Wie fremdgesteuert und ohne eigenen Willen stieg Markus aus. Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen, Markus konnte kein Wohnhaus entdecken, nur Lagerhallen, Industriegebäude und er glaubte sogar die Müllhalde zu entdecken.

„Ich entschuldige mich dafür, dass alle Klischees bedient werden, aber leider sind diese Klischees mein Leben.“ Noch immer versteckte sich der mysteriöse Mann hinter seinem Mantel und seinem Hut.

„Und sie hätten auch dein Leben werden, können, das weißt du, oder? Komm mit.“ Der Mann ging voraus, ohne ein Wort, ohne Widerstand und ohne auch nur den Funken einer Idee, was er tun könnte folgte Markus ihm.

Das Lagerhaus war spärlich beleuchtet, trotzdem konnte Markus nur all zu gut sehen, was sich in der großen, langen Halle befand. Es war alles wie auf den Fotos. Er hatte die Hoffnung gehabt, dass dieser Taxifahrer irgendwie geblufft hätte.

„Papa! Papa bitte hilf uns!“ Jonathan und Leonie weinten, ihre Füße erreichten gerade eben die Kisten. Ihre Beine zitterten, wenn sie müde werden würden, oder stolperten…

„Markus!“ Aus der anderen Ecke des Raumes hallte Friedas helle, panische und ängstliche Stimme. Auch sie saß exakt so wie auf dem Foto gefesselt auf ihrem Stuhl. Das konnte nur ein Alptraum sein. Ein merkwürdiges Klacken ließ Markus erschaudern. Langsam drehte er sich zu seinem Entführer um. Er sah ihm nun zum ersten Mal ins Gesicht.

Der Mann hatte einen annähernd runden Kopf, schwarze, fettige Haare und einen zerzausten, ebenfalls schwarzen Bart, an dem sich aber auch schon das eine oder andere graue Haar fand. Seine grauen Augen wirkten auf Markus zugleich unendlich traurig, wie auch grüblerisch. Den Mantel hatte er geöffnet, eine schlanke Statur kam darunter zum Vorschein. In seiner rechten, ausgestreckten Hand hielt er eine Pistole, die er genau auf Markus richtete.

„Was wollen Sie?“ Markus bemühte sich um eine kräftige Stimme, doch jeder Ansatz von Stärke und Entschlossenheit seiner Worte wurde von seinem Rachen verschluckt. Das bemerkte auch der mysteriöse Taxifahrer, welcher höhnisch auflachte.

„Ich möchte dein Leben. Es steht nämlich mir zu. Du hast es dir nie verdient. Du bist sogar illegal, Markus Fuchs.“ Markus schluckte. Verwirrt und immer noch voller Angst, richteten sich die Augen seiner Familie auf ihn.

„Sie wissen es nicht? Sie wissen nicht wo, du herkommst? Warum du bist, was du bist? Warum du erfolgreich bist? Warum du intelligent bist, warum du gutaussehend bist, warum du eine Mutter hattest und nun eine eigene Familie hast? Sie wissen nicht, warum?“ In den Worten des Mannes war blanker und abgründiger Hass zu hören. Markus schwieg für einen Moment. Er wusste es.

„Dafür kann ich doch nichts! Ich habe es mir nicht ausgesucht. Und vielleicht waren meine Voraussetzungen anders, aber das Leben, das ich jetzt lebe, ist mein Verdienst. Ich habe hart gearbeitet, um dieses Leben zu leben, diesen Beruf erfolgreich zu bestreiten und diese Familie gründen zu können.“

Ein verhöhnendes Lachen hallte gespenstisch durch den Raum.

„Natürlich! Der hart arbeitende feine Herr. Der gleiche Herr, der die liebevolle Erziehung einer Mutter genießen durfte und mit allen möglichen Extras ausgestattet wurde. Mozart war bestimmt nichts gegen dich, Wunderkind.“  

„Schatz, wovon zur Hölle spricht er?“ Frieda riss an ihren Fesseln, die keinen Zentimeter nachgaben. Markus biss sich auf die Unterlippe und blickte betreten zu Boden. Der Geiselnehmer übernahm für ihn das Wort. Er zielte auf Markus, richtete seinen Blick aber nun auf Frieda.

„Sagt Ihnen der Begriff `Präimplantationsdiagnostik´ etwas, Verehrteste?“ Frieda nickte zögernd.

„Ja, natürlich. Es ist eine Untersuchung, ob ein Embryo gesund ist, oder nicht. Aber was hat Markus damit zu tun?“ Ein freches Grinsen zerschnitt das Gesicht des Entführers in zwei Hälften.

„Die Präimplantationsdiagnostik kann tatsächlich eine simple medizinische Untersuchung sein. Aber es gibt auch die Möglichkeit, das Embryo genetisch zu verändern.“ Der Mann richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Markus.

„Seine besonders hohe Intelligenz, sein Aussehen, seine Gesundheit, seine ganzen guten Gene wurden ausgesucht und wie bei einem Baukasten zusammengesetzt. Von allem nur das Beste für Markus Fuchs. Mein Bruderherz.“ Erschrocken und überrascht hielt Markus für einen Moment die Luft an. Der Unbekannte lächelte, hielt aber immer noch die Pistole auf ihn gerichtet.

„Wie war sie? Unsere Mutter Sabrina? Ich habe gehört, sie soll sich liebevoll um dich gekümmert haben. Weißt du was sie mit mir gemacht hat?“ Tränen stiegen in die Augen dieses Mannes, der mit jeder Sekunde merkwürdiger wurde. Sein ausgestreckter Arm zitterte. Wenn er nur kurz abgelenkt werden würde, konnte Markus ihn vielleicht überrumpeln.

„Sie hat mich weggegeben!“ Markus wich einige Schritte zurück, als sein neu entdeckter Bruder ihn anschrie.

„Als ihr Name noch Sabrina Karsten war. Ich weiß nicht, ob ich das Kind aus einem Onenightstand, einer Vergewaltigung oder einer unglücklichen Beziehung bin. Ich kenne meinen Vater nicht und hatte meine Mutter nur einen Monat bevor sie mich weggab. Weggeworfen wie eine Zeitung, die man nicht mehr lesen will, hat sie mich. Und dann hat sie sieben Jahre später den ach so tollen und reichen Unternehmer Klaus Fuchs geheiratet. Und mit ihm hat sie ein Kind bekommen. Ein Kind aus dem Reagenzglas. Und das hier ist meine Rache, dafür, dass sie mich weggeworfen hat.“ Ungläubig wechselte Friedas Blick zwischen ihrem Mann und ihrem Entführer. Markus hob langsam den Kopf.

„Ich wusste nicht, dass ich einen Bruder habe. Sie hat es mir nie erzählt. Du bist sieben Jahre älter als ich, sagst du? Dann hat sie dich bekommen als sie sechszehn war. Sie hat es sicher nicht böse mit dir gemeint, wahrscheinlich war sie nur überfordert und wollte das Beste für dich.“ Langsam wollte Markus einen Schritt nach vorne machen, doch sein Bruder schnauzte ihn an.

„Bleib stehen! Und wenn schon! Sie hätte sich um mich kümmern müssen, wie es sich für eine Mutter gehört! Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich wurde in den Pflegefamilien regelrecht durchgereicht. Ich habe nie Liebe erfahren, ich bin auch nicht so klug und optimiert wie du. Ich bin Timo Karsten und im Gegensatz zu dir kein Blender. Es dürfte dich gar nicht so geben, wie du bist. Die Veränderung von Genen ist hier illegal. Dein Leben steht mir zu!“  Der Ausdruck von Hass und Schmerz in Timos Gesicht wich einem von Brutalität und Freude. Es war ein grauenvolles, dämonisches Lächeln.

„Und deshalb werde ich dir nun dein Leben und deine Lieben wegnehmen. Oder besser gesagt: Du wirst es tun.“ Mit seinem Kinn deutete Timo auf Jonathan und Leonie.

„Stoß die Kisten um.“ Markus schüttelte den Kopf.
„Das kannst du nicht ernst meinen. Niemals werde ich das tun!“

„Du hast die Wahl. Entweder deine Kinder, oder deine Frau.“ Timo richtete seine Waffe nun an Markus vorbei direkt auf Frieda, die vor Schreck zusammenzuckte. Langsam, aber entschlossen ging Timo immer näher auf sie zu. Panisch wandte sie sich in ihren Fesseln, Tränen liefen über ihre Wangen. Der Lauf der Pistole war genau auf ihren Kopf gerichtet.

„Und, Brüderchen? Tust du´s jetzt?“ Timo drehte sich zu Markus um, der wie versteinert im Raum stand.

„Nein, nein bitte nicht. Wir können doch über alles reden. Ich kann dir Geld geben und dann kannst du dir auch ein gesegnetes Leben aufbauen.“ Verächtlich lachte Timo.

„Nein. Du kannst dir alles kaufen, aber mich nicht.“

„Mama! Nein!“ In der Lagerhalle wurde eine Symphonie des Schreckens gespielt. Der Schuss, der sich aus Timos Pistole löste, war der erste Ton, Friedas Schmerzensschrei der hohe Sopran, die ängstlichen Schreie der Kinder der zitternde Abklang. Die Halle bebte, kurz hatte Markus Angst, sie könne einstürzen, doch sie blieb stehen. Erleichtert atmete er auf, als er seine Frau weinen und zittern sah. Sie lebte! Timo hatte ihr lediglich in ihren linken Fuß geschossen. Frieda krümmte sich vor Schmerz, aber sie war am Leben!

„Ich kann das den ganzen Tag lang machen. Sie aber nicht. Also entscheide dich, Bruderherz. Stoß eine Kiste um.“ Timos Stimme war kalt und duldete keinen Widerspruch.

„Markus… bitte. Hör nicht auf ihn.“ Frieda atmete schwer. Sie hatte ihren Kopf zurückgelegt, Schweiß überströmte ihr gesamtes Gesicht. Timo verdrehte die Augen.

„Lass diesen kitschigen Quatsch. Also Markus, du hast die Wahl! Du darfst dir sogar aussuchen, welche Kiste du als erstes umstürzt.“ Markus schüttelte den Kopf.

„Das kann ich nicht tun, Timo. Aber ich möchte mit dir reden.“ Mit einer einzigen, schnellen Bewegung richtete Timo seine Waffe von Frieda auf Markus.

„Ich möchte aber nicht mit dir reden.“ Beschwichtigend hob Markus beide Hände.

„Das kann ich verstehen. Aber ich denke, dass du dich irrst. Es stimmt nicht, dass Sabrina dich nicht geliebt hat. Sie war nur überfordert, aber sie hat dich wertgeschätzt.“ Vor Wut zitterte Timos rechter Arm. Würde er jetzt abdrücken würden die Chancen, dass er Markus traf vielleicht gerade einmal bei fünfzig Prozent stehen.

„Woher willst du das wissen?!“, rief Timo wutentbrannt aus. Markus ging ganz langsam immer näher auf Timo zu.

„Du sagtest, dass meine Eltern alles an mir bestimmt haben. Wenn das stimmt, haben sie aber auch an dich gedacht, als sie mir das hier gaben.“ Mit zwei Fingern griff Markus in seinen Hemdkragen und rücke ihn etwas zur Seite. Ein unförmiges Muttermal kam zum Vorschein. Für einige Sekunden blieb Timo die Luft stehen. Er hatte genau dasselbe.

„Sabrina hatte dieses Muttermal nicht. Es verbindet nicht sie und mich. Es verbindet uns beide. Sie hat an dich gedacht, als sie es mir gab.“ Timo schluckte, Markus sah, dass er immer noch zornig und voller Hass war, aber auch mit den Tränen kämpfte.

„Ich möchte mit dir ein kleines Experiment machen. Wir beide schließen jetzt gleich die Augen und denken an ein Wort. Es wird dasselbe sein, weil wir Brüder sind. Auch wenn ich das erst seit kurzem weiß und auch, wenn wir in unterschiedlichen Welten groß geworden sind. Das gibt es oft, so eine Art Geschwister-Telepathie. Wenn wir nicht dasselbe Wort sagen, werde ich all deine Anweisungen befolgen. Wenn nicht, setzten wir uns zusammen und reden. Und wir vergessen das alles. Einverstanden?“ Noch immer zuckte die Pistole in Timos rechter Hand. Markus war mittlerweile stehen geblieben, er stand einen halben Meter von Timo entfernt. Langsam senkte sich die Pistole in Timos Hand.

„Na gut. Nur um dir zu zeigen, dass du dich irrst.“ Markus nickte. Dann schloss er die Augen. Die Szene war gespenstisch, unreal und grotesk. Markus und Timo standen sich gegenüber, beide atmeten flach. Vor Angst und vor Hass.

„Nicht schummeln“, sagte Markus leise. Er hatte gar nicht gesehen, ob Timo die Augen offengehalten hatte oder nicht. Für einen kurzen Moment würde er es jetzt aber nun tun.

Aus dem Nichts schlug Markus zu. Timo schrie auf, als er zu Boden ging. Die Pistole glitt ihm aus der Hand, geistesgegenwärtig stellte Markus einen Fuß darauf. Er atmete erleichtert auf, er hatte nicht gedacht, dass Timo auf diesem Trick reinfallen würde. Aber Timo war verzweifelt und vielleicht hatte er sogar gewollt, dass sie dasselbe Wort sagen würden.

„Papa, Hilfe!“ Der Schrei seiner Kinder riss Markus aus seinen Gedanken. Timo hatte sich aufgerichtet und rannte zu den beiden Kindern. Das Bild wie Timo seine Kinder von den lebenserhaltenden Kisten stoßen würde tauchte sofort vor Markus auf. Er bekam gar nicht mit, wie er die Pistole aufhob, zielte und Timo in den Rücken schoss. Der Knall war das nächste, was er bewusst wahrnahm. Timo torkelte nach vorne, drohte zu stolpern. Markus sprintete in einer rekordverdächtigen Zeit zu Leonie und Jonathan. Timo röchelte, stürzte nach vorne… und riss die Kiste, auf der Leonie stand, um.

Leonie schrie auf, kniff dien Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Doch noch bevor sie ins Nichts stürzen konnte, drückten die Arme ihres Vaters sie an seinen Körper. Breitbeinig stand Markus über seinem sterbenden Bruder und hielt Leonie so fest, dass er sie fast erstickte.

„Ich habe dich“, Flüsterte Markus seiner Tochter immer wieder ins Ohr. Während er Leonie mit seinem linken Arm weiter an sich drückte, versuchte Markus den Knoten der Schlaufe zu lösen. Er brauchte mehrere Versuche, seine Hände zitterten vor Anspannung. Nacheinander befreite Markus seine Familie. Weinend, aber erleichtert lagen sie sich in den Armen. Für Timo konnten sie nichts mehr tun.

 

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