Ann-ChristinVater aller Dinge

Melissa

Melissa spürte die wärmende Sonne auf ihrem Gesicht. Der helle Lichtstreifen fiel direkt auf ihre Augen. Sie gab ein müdes Brummen von sich und versuchte gegen das Erwachen anzukämpfen, an dem Traum festzuhalten, der sich aufzulösen versuchte, eben noch so real war, im nächsten Moment bereits vergessen. Es gelang ihr nicht. Sie drehte sich auf die andere Seite, den Arm ausgestreckt, um den Körper des Mannes zu umfassen, neben dem sie die Nacht verbracht hatte. Ihr Arm ging ins Leere. Ein Auge vorsichtig öffnend schielte sie auf die rechte Bettseite, auf welcher tatsächlich kein Männerkörper mehr lag.

Melissa hatte Ben zwei Wochen zuvor im Fitnessstudio kennengelernt. Sie trainierte an der Dipmaschine, als er sie darauf hinwies, dass sie die Übung nicht optimal ausführte und Gefahr lief, sich zu verletzen. Solche Dummschwätzer konnte Melissa normalerweise gar nicht leiden, doch als sie zu ihm aufblickte, blieb ihr die genervte Erwiderung im Hals stecken. Seine blauen Augen und das charmante, leicht neckische Lächeln ließen sie stocken. „Ich bin Ben.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Tut mir leid, eine alte Angewohnheit, du trainierst wirklich gut. Darf ich dich als Entschuldigung für die Unterbrechung auf ein Gurkenwasser einladen?“.

Auf das Gurkenwasser folgten zwei Verabredungen zum Dinner und – er sah mit dem fliederfarbenen Hemd so heiß aus, dass Melissa weder widerstehen konnte, noch wollte – die erste gemeinsame Nacht. Dass er ihre Wohnung an diesem Morgen so früh verlassen hatte, passte nicht zu seinem bisherigen Verhalten, störte sie jedoch gar nicht. Sie war nicht auf der Suche nach einem Anhängsel.

Melissa gähnte herzhaft und streckte sich ausgiebig, was auch viel besser ging, wenn sich kein Mann neben ihr breitmachte. Sie hielt in ihrer Bewegung inne. Ihre Fingerspitzen waren gegen einen Gegenstand aus Aluminium gestoßen, der ihre sonnengewärmte Haut zurückzucken ließ. Sie richtete ihren Blick auf ihre Hände, erkannte, dass Ben sein Handy vergessen haben musste und griff danach, während sie gleichzeitig den Bildschirm zu entsperren versuchte. Der Mann schien nichts zu verheimlichen zu haben, das Handy war durch keinen Code gesperrt. Es erschien sofort die Galerie, in welcher ein Foto geöffnet war.

Melissa stockte der Atem, sofort saß sie kerzengerade in ihrem Bett, starrte auf das Display. „Was zum..“, setzte sie an, schlug sich die Hand vor den Mund. Das geöffnete Foto zeigte sie als kleines Kind mit einem Teddy im Arm. Sie kannte das Bild, es hing an der Wand im Eingangsbereich ihres Vaters und ließ sie immer etwas wehmütig werden. Es war unmöglich, dass Ben dieses Foto kannte. Sie wischte auf dem Display nach links und es erschien ein großer Play-Button, der ein Video kennzeichnete. Melissa drückte mehrmals hastig darauf, es startete.

Ben war zu sehen, nur sein Gesicht und der Kragen seines fliederfarbenen Hemdes. Die Kamera wurde gedreht, jetzt waren zwei Gläser Rotwein im Fokus und eine Hand, die aus einem kleinen Fläschchen eine Flüssigkeit in eines der Gläser tropfen lies. Melissa kniff die Augen zusammen. Ihr Herz klopfte immer schneller, sie hörte den Puls in ihren Ohren hämmern. Ben drehte die Kamera erneut, sodass wieder sein Gesicht zu sehen war. Mit seinem neckischen Grinsen schielte er auf das Fläschchen, das er ins Bild hielt. Ein Schriftzug ließ sich nicht ausmachen, zu erkennen war jedoch ein Warnzeichen, schwarz auf orangenem Grund, ein Totenkopf über zwei gekreuzten Knochen.

Melissa beugte sich unwillkürlich nach vorne, die aufsteigende Übelkeit lies Galle in ihre Speiseröhre fliesen. Im Video war jetzt Bens Stimme zu hören. Sie übertönte die Jazz-Musik, die bereits die ganze Zeit im Hintergrund lief, Melissa aber erst jetzt wahrnehmen konnte, zuvor all ihre Konzentration auf die visuellen Eindrücke gerichtet. „Melissa, Süße, kommst du? Ich habe uns den Wein geöffnet, der in deiner Küche stand.“ An dieser Stelle brach der Film ab. Melissa starrte mit leerem Blick weiter auf das Telefon, tausende Gedanken schwirrten durch ihren Kopf, nicht einen konnte sie klar fassen. In der Wohnung war es still, was das Pochen ihres Pulses in den Ohren nur noch lauter erscheinen ließ, so laut, als würde ihr Kopf jeden Moment platzen. Hä? Was soll das? Das Zimmer begann sich vor ihren Augen zu drehen.

Das Klingeln eines Telefons durchbrach ihre Starre. Sie vernahm es zunächst nur gedämpft, durch das Rauschen in ihren Ohren. Ihr Geist versuchte sich an dem bekannten, immer klarer werdenden Geräusch festzuhalten, sich daran zurück aus der sich anbahnenden Ohnmacht zu ziehen. Sie richtete sich auf, drehte den Kopf stirnrunzelnd nach links und rechts. Das Telefon in ihrer Hand war ruhig. Melissa brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass es ihr eigenes Handy auf dem Nachttisch war, welche das Geräusch von sich gab. Auf dem Display sah sie die Nummer ihres Büros. „Luisa? Guten Morgen,“ begrüßte sie ihre Sekretärin, räusperte sich. „Guten Morgen, Frau Klein. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich habe soeben ein Paket für sie entgegengenommen mit der deutlichen Aufschrift PERSÖNLICH und DRINGEND. Ich war unsicher, ob sie den Vormittag im Homeoffice verbringen, deshalb wollte ich nur kurz Bescheid geben.“ Melissa schluckte. „Alles klar, Luisa, super, Dankeschön. Stellen Sie das Paket einfach auf meinen Schreibtisch, ich komme bald.“ Sie versuchte das Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen.

Erneute wendete sie sich Bens Handy zu, nahm ihren Mut zusammen und wischte wieder nach links, doch es schien keine weiteren Überraschungen bereit zu halten. Sie wischte zwei Mal nach rechts, auch hier geschah nichts. Das Foto und das Video schienen die einzigen Dateien in der Galerie zu sein.

Das alles musste ein makaberer Scherz sein, versuchte Melissa sich zu beruhigen. Sie lachte hysterisch auf. Sollte sie zur Polizei gehen? Ins Krankenhaus? Abgesehen von der wohl nachvollziehbaren Aufregung fühlte sie sich gut, keine Anzeichen einer Vergiftung. Würde man ihr diese Geschichte glauben? Ein Handy, das sie in ihrem Bett gefunden hat und die Bitte, auf jegliche Arten von Gift getestet zu werden, würden sie ziemlich bloßstellen.

Sie hatte vor einigen Jahren einen Psychotherapeuten besucht. Lange musste sie mit sich ringen, um überhaupt nur einen Termin zu vereinbaren. Vor dem ersten Gespräch hatte sie es sich in letzter Minute eigentlich noch anders überlegt, hat das Wartezimmer verlassen und war bereits auf dem Weg nach Hause. Als sie die Tür des Gebäudes öffnete, sah sie auf der anderen Straßenseite eine ehemalige Kommilitonin – und schloss die Tür sofort wieder. Viel zu peinlich wäre es ihr gewesen, wenn diese sie gesehen hätte, wie sie aus dem Gebäude eines Psychotherapeuten gekommen wäre. Und dann rief auch schon die Empfangsdame nach ihr und jede Fluchtmöglichkeit war dahin. Und zugegeben, das Gespräch hatte sie nötig. Das zweite Staatsexamen ihres Jura-Studiums lag noch nicht lange hinter ihr. Sie hatte es mit Prädikat abgeschlossen, doch der Preis hierfür war nicht gering gewesen. Sie machte keine halben Sachen und hatte seit dem ersten Semester alles gegeben.

Die Termine bei dem Therapeuten halfen ihr, fanden jedoch ein abruptes Ende, nachdem sie ihrem Therapeuten auf der Weihnachtsfeier der Kanzlei begegnete. Er war der Ehemann einer Kollegin. Sie ging dieser Kollegin danach strikt aus dem Weg, konnte sie doch nie sicher sein, welche Qualität das Bettgeflüster des Ehepaars hatte, was sie wusste. Es war nie gefahrlos, sich Menschen zu öffnen.

Das Paket!, fiel es ihr wieder ein. Private Pakete bekam sie nie ins Büro geliefert. Vielleicht war es von Ben und lieferte eine logische und harmlose Auflösung der ganzen Geschichte. Sie überlegte einen Moment, Luisa zu bitten, das Paket zu öffnen, doch wollte sie ihre Sekretärin in diese wahnwitzige Geschichte nicht reinziehen. Sie musste sich schnellstmöglich selbst auf den Weg machen.

„Da sind Sie ja schon, Frau Klein. Soll ich Ihnen einen Kaffee ins Büro bringen?“ Luisa schaute von ihrem Empfangstresen auf. „Danke, nein. Ich bin die nächsten zehn Minuten nicht zu sprechen.“ Melissa stürzte in das Büro, schloss die Tür etwas zu heftig und verdunkelte die Glasscheiben. In der nächsten Sekunde hatte sie den Karton bereits aufgerissen und starrte verdutzt auf einen Strauß gelber Tulpen. Das konnte nicht sein Ernst sein. Stand er auf solche perversen Spielchen? Menschen in Todesangst zu versetzen und den Spaß mit einem Strauß Blumen aufzuklären? Sie suchte in dem Karton nach weiteren Hinweisen. Nichts. In dem Strauß entdeckte sie eine Grußkarte – oder etwas, das nach einer Grußkarte aussah. Sie zog sie heraus. „Marie Silver..“, es handelte sich um die Todesanzeige eines kleinen Mädchens. Bevor sie einen weiteren klaren Gedanken fassen konnte, klingelte ihr Handy.

„Papa!“ Melissa ließ sich auf den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch fallen.

„Schatz, geht’s dir gut? Wo steckst du? Ich dachte wir sind zum Frühstück verabredet.“ Die Stimme ihres Vaters zu hören, ließ sie einen Moment durchatmen. „Oder bist du nach deinem Date gestern Abend nicht aus dem Bett gekommen? Ben war sein Name, oder?“

Melissa schloss die Augen. „Mist, das Frühstück hab‘ ich total vergessen. Das tut mir so leid! Der Morgen war merkwürdig. Und Ben… ist vielleicht ein bisschen anders als ich dachte.“ Sie überlegte, was sie ihrem Vater erzählen konnte. „Papa, hast du dieses Baby-Foto von mir noch hängen, wo ich im Krankenhaus liege mit meinem Teddy? Der mit dem Herz in den Händen. Komischerweise…“, sie wurde von der Anklopf-Funktion ihres Handys unterbrochen. Das konnte Ben sein! „Sorry, ich muss schnell Schluss machen, da ist jemand in der Leitung. Melde mich später. Hab dich lieb.“

Tatsächlich blinkte auf dem Display Bens Name. Ihr Herz begann zu rasen, mit feuchten Händen nahm sie das Gespräch an, ohne etwas zu sagen. Sie lauschte, hörte ihn durch die Leitung atmen.

„Süße. Ich muss mein Handy bei dir liegen gelassen haben. Hast du es gefunden? Und haben dir die Blumen gefallen?“ In seiner Stimme lag Verachtung, die entweder neu war oder die sie zuvor nur nicht wahrgenommen hatte.

„Ja und ja.“ Ihre Stimme zitterte. Sie musste sich zusammenreißen. „Ben? Was ist los? Was ist das für ein Video, ist das ein Scherz?“ Sie hatte viele Fragen, konnte aber nicht alle gleichzeitig stellen und riskieren, dass er das Gespräch beendet, ohne eine Antwort zu geben.

„Das Video sollte doch selbst für dich Blondchen ziemlich eindeutig gewesen sein. Geht’s dir denn gut, Süße?“ Das Süße spukte er angewidert aus. „Noch wird es das wohl. Und wenn du brav bist, dich meinen Weisungen fügst, wird dich das Gift schon nicht umbringen. Was nicht bedeuten soll, dass es keine tödliche Wirkung haben kann. Es ist in der Tat lebensgefährdend, solltest du nicht rechtzeitig ein passendes Gegengift verabreicht bekommen. Ins Krankenhaus musst du dich aber gar nicht erst bemühen, die werden dir in der kurzen Zeit, die noch bleibt, nicht helfen können. Ich hingegen schon.“ Er lachte. „Dass die Polizei in diesem Fall nicht unser Freund und Helfer ist, sollte klar sein. Sehe ich einen Polizisten – ups, ich Tollpatsch – würde mir das Fläschchen mit dem Gegengift wohl aus der Hand fallen und so unglücklich auf dem Boden landen, dass es zerbricht.“

Melissa atmete tief ein. Sie musste sich zusammenreißen, durfte Ben nicht merken lassen, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. „Was willst du?“

 

Frank

Franks Blick ruhte auf dem Handy, an welchem er eben von seiner Tochter abgewürgt wurde. Er hatte ein ungutes Gefühl, das heutige Verhalten passte so gar nicht zu Melissa. Das mittwöchliche Frühstück in seiner Wohnung war ihr beinahe heilig, sie hatte es noch nie verpasst. Ob es mit diesem Ben zu tun hatte? Frank meinte, einen beunruhigten Tonfall in Melissas Stimme erkannt zu haben, als sie von ihm sprach. Vielleicht bildete er sich das aber nur ein. Auch mit ihren 32 Jahren war Melissa noch seine kleine Prinzessin, was er ihr gegenüber so nicht mehr zugeben dürfte. Sie war eine unabhängige, beruflich erfolgreiche Frau und kam sehr gut alleine zurecht. Trotzdem kennt sicher jeder Vater das Gefühl, sein kleines Mädchen das erste Mal auf dem Arm zu halten, in dieses winzige Gesicht zu blicken und zu wissen: für dieses wunderschöne Wesen würde ich alles geben – von diesem ersten Moment an, für den Rest meines Lebens. Umso schlimmer war es zu ertragen gewesen, als Melissa als Kleinkind sterbenskrank wurde. Diese Hilflosigkeit, die er zu dieser Zeit empfunden hatte.. Frank wischte sich mit der Hand über das Gesicht, um die Vergangenheit zu vertreiben.

Er erhob sich, lief in den Eingangsbereich seiner Wohnung. Warum hat Melissa von dem Foto gesprochen? Gerade dieses Foto erinnerte ihn täglich daran, wie zerbrechlich sein Mädchen war, trotz ihrer toughen Art. Sie hält ein Teddybär im Arm, der wiederum ein rotes Herz trägt. Es war ein Geschenk vom Krankenhaus, das Melissa vor ihrer Operation bekommen hatte, so wie all die tapferen Kleinen dort, welchen eine schwere Operation bevorsteht. Frank stutzte. „Wie kann das sein?“ Er blickte auf den Boden, doch auch dort war nichts zu finden. Das Bild hing nicht an seiner üblichen Stelle an der Wand. Er holte das Handy aus der Hosentasche, versuchte erneut Melissa zu erreichen, vergeblich. In seiner Brust breitete sich eine Unruhe aus, ein ungutes Gefühl, welches er nicht ganz zuordnen konnte. Er musste sich überzeugen, dass es ihr gut ging. Frank griff nach seiner Jacke und machte sich auf den Weg zu Melissas Büro.

 

Melissa

Er hatte ihr zwei Koordinaten genannt und sie zu dieser Stelle befohlen. Laut Navigationssystem lag der Ort mitten im Wald. Sie konnte noch immer nicht einschätzen, welche Geschichte Ben hier abzog aber nach kurzem Abwiegen ist sie zu dem Entschluss gekommen, dass ihr wohl nichts anderes übrig blieb, als ihn dort zu treffen.

Ihr kam eine Idee. Sie wählte die Nummer von ihrem Trainer aus dem Fitnessstudio. „Mark? Hör zu, ich weiß, Datenschutz, DSGVO, aber du musst mir unbedingt einen riesigen Gefallen tun. Ich würde dich nicht bitten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.“ Sie bremste das Auto, hielt am Straßenrand. „Kannst du mir sagen, ob ein Ben Janson im Studio registriert ist?“ Sie klopfte mit den Fingern auf das Lenkrad, ungeduldig wartend.

„Negativ“, gab Mark zurück.

„Fuck.“ Melissa schlug mit der Hand aufs Lenkrad. „Vielleicht..“, sie überlegte. Die Todesanzeige kam ihr wieder in den Sinn, die in den Blumen steckte. Wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass auch ihre Angehörigen sich demnächst mit Todesanzeigen und Blumen in Buketts beschäftigen mussten oder steckte mehr dahinter? Der Name des Kindes weckte keine Assoziationen. „Gibt es jemanden mit dem Nachnamen Silver?“

„Klar.“ Diesmal musste er nicht lange überlegen. „Das müsstest du doch aber besser wissen als ich. Mit Julius Silver habe ich dich letztens erst reden sehen.“

Melissas Kopf brummte. „Mark, Tausend Dank. Ich muss Schluss machen. Bye.“

Sie lenkte ihren Wagen in einen Waldweg, den sie trotz Navigationssystem fast verpasst hätte. Auf beiden Seiten des Weges war der Wald dicht mit Laubbäumen bewachsen. Auf der Fahrt hatte sie nach Julius und Marie Silver gegoogelt, erfolglos. Dann hatte der Akku ihres Handys den Geist aufgegeben.

Der Weg endete abrupt, ebenso ruckartig bremste sie. „Scheiße, scheiße, scheiße“, sie ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken. Die Panik, die sie seit Stunden zu unterdrücken versuchte, bahnte sich ihren Weg an die Oberfläche. Den Rest des Weges musste sie zu Fuß gehen, es gab keine andere Möglichkeit. Sie hatte Angst vor dem Wald, vor der Abgeschiedenheit, der Einsamkeit dort. Andere schützen gerade das am Wald, sie nicht. Nach ihrer Operation hatte sie viele Waldausflüge gemacht. Sie war noch schwach, durfte nicht mit den anderen Kindern im Wohngebiet spielen, die ihre Grenzen nicht einschätzen konnten. Damit sie überhaupt an die frische Luft kam, hat ihr Großvater sie mit in den Wald genommen, sie haben Spaziergänge gemacht und er hat ihr die verschiedenen Baumarten gezeigt. Eines Tages – sie erklärte ihrem Großvater gerade, dass das Klopfen eines Spechts wie ein Liebeslied in der Specht-Sprache ist – stöhnte er kurz auf und kippte um. Sie kann sich nicht erinnern, ein zweites Mal in ihrem Leben diese Hilflosigkeit gespürt zu haben wie in dieser Abgeschiedenheit. Sie versuchte ihn aufzuwecken, merkte aber schnell, dass dies keinen Erfolg hat. Dann lief sie blindlings durch den Wald, auf der Suche nach anderen Menschen. Sie waren auf ihren Spaziergängen selten jemandem begegnet, was sie sonst immer aufregend fand, jetzt nicht mehr. Als sie endlich auf jemanden stieß, konnte sie kaum noch den Weg zurück zu ihm finden. Ihr Großvater überlebte, doch Harmonie empfand sie im Wald nie mehr.

Nicht zu vergessen, dass der Wald zugleich der perfekte Platz für böse Menschen war. Sie konnten ihre perfiden Pläne fernab vieler Menschenseelen durchführen. Ungestört. Melissas Fantasie war durch viele Krimis und Thriller genährt, doch in diesem Moment schienen solche Gehirngespinste nicht allzu weit hergeholt. Sie öffnete die Tür des Wagens und machte sich auf den Weg.

„Ooh, Trommelwirbel, die glückliche Gewinnerin trifft ein. Der Hauptpreis ist: das Gegengift.“ Ben stand lässig gegen einen riesigen Baum gelehnt, an dessen Seite ein Bach floss. Seinen Augen strahlten Verachtung aus, die ihn wie einen anderen Menschen aussehen ließ. Sie konnte kaum glauben, dass dies der gleiche Mann war, der ihren Körper in der letzten Nacht liebkost hatte. Ein Schauer lief ihr über den Körper, sie ekelte sich.

Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, hatte Angst das Falsche zu sagen, seinen Hass noch intensiver werden zu lassen. Womit hatte sie seinen Zorn auf sich gezogen? Ohne das zu wissen, konnte jedes Wort es nur schlimmer machen. Sie presste die Lippen zusammen. Unter normalen Umständen hätte es sie rasend vor Wut gemacht, still zu bleiben, obwohl sie wusste, dass sie im Recht war. „Hallo Ben – hier bin ich.“ Ihr Mund zuckte, was einem Lächeln ähnlich, im nächsten Moment schon wieder verschwunden war.

„Na komm schon her, ich beiß doch nicht! Hol dir deinen Gewinn ab!“ Er hielt ein Fläschchen in der Hand.

Wieso sollte er sie vergiften, in den Wald locken und ihr dort das Gegengift geben? Das ergab natürlich keinen Sinn. Wieso war sie nur so verdammt naiv gewesen, alleine hierher zu kommen? Naiv und eitel. Vielleicht war er aber einfach nur psychisch krank und damit zufrieden, Spielchen zu spielen, die Oberhand zu haben. Und was blieb ihr eigentlich anderes übrig? Sie machte einen Schritt auf ihn zu, streckte die Hand aus. „Warum machst du das?“ Mehr eine rhetorische Frage. Einen Seelenstriptease erwartete sie nicht. Sie hätte ihn gerne gefragt wer Marie war, hatte jedoch zu große Angst vor seiner Reaktion.

„Trinken! Deshalb bist du doch hier.“ Er drückte ihr das Fläschchen in die Hand.

„Und wieso sollte ich dir glauben, dass das ein Gegengift ist?“

„Mir ist eigentlich scheiß egal was du glaubst und was nicht. Trink oder lass es. Was bleibt dir schon anderes übrig?!“

Ihr Bauch rumorte. Möglicherweise waren das die ersten Anzeichen der Vergiftung. Sie trank.

Das Rumoren verebbte. Alles okay. „Danke.“ Diesmal ein etwas längeres Lächeln.

Schon im nächsten Moment verschwamm Ben vor ihren Augen, ihre Beine gaben nach. Sie hatte das Bewusstsein verloren.

 

Frank

Frank raste die Straße entlang, die auf beiden Seiten von dichten Bäumen begrenzt wurde.

Im Büro hatte er weder Melissa noch ihre Sekretärin angetroffen, dafür jedoch etwas anderes: einen Strauß gelber Tulpen. Dies hätte schon genügt, um ihn zu beunruhigen, wird er doch das Bild nie vergessen: Berge von gelben Tulpen, aufgetürmt auf einem Grab. Ihre Lieblingsblumen, das hatte er später erfahren.

Neben dem Blumenstrauß auf Melissas Schreibtisch, fiel sein Blick auf eine ausgeschnittene Todesanzeige, die dort fehl am Platz wirkte. Als er den Namen las, schnappte er sich die Anzeige und rannte zu seinem Auto. Auf dem Weg nach unten versuchte er erneut, Melissa zu erreichen, doch das Handy war aus. Er öffnete die App, mit der er ihr Telefon orten konnte, wenn auch nur zu dem Zeitpunkt, in dem das Handy ausging. Vater und Tochter fühlten sich beide wohler mit dieser App, deshalb hatte sie damals ihre Erlaubnis erteilt. Der letzte Standort war in einem Wald. Er wusste welcher Wald das war und auch, an welchem Baum in diesem Wald er Melissa vermutlich finden würde. Er informierte die Polizei.

Und fuhr so schnell er konnte.

 

Melissa

Ihr Kopf schmerzte. Ebenso ihre Armgelenke – sie ließen sich nicht bewegen. Panik schoss in ihren Körper. Sie riss die Augen auf, vor welchen der Wald sich leicht drehte. Als die Welt wieder an Schärfe gewann, sah sie Ben, weiterhin lässig an den breiten Baum gelehnt. Er grinste. Trotzig wendete sie den Blick ab – und erstarrte. An dem Ast zu Bens rechter Seite war ein Seil befestigt, das in Richtung Boden hing und mit einer Schlinge endete. Eine Schlinge, die groß genug war, um einen Kopf hindurch zu schieben. Und sich zu erhängen. Ben war ihrem Blick gefolgt und hatte mit offenkundiger Befriedigung ihre Reaktion aufgenommen.

„Hallo, Schlafmütze. Mein Fehler – ich muss die Fläschchen vertauscht haben.“

„Warum machst du das? Ich hab‘ dir nichts getan!“ Zurückhaltung konnte sie jetzt offensichtlich auch nicht mehr retten. „Und wer ist Marie, Ben?“

Er schluckte, sein Adamsapfel bewegte sich. „Nimm den Namen nicht in deinen Mund.“ Er spuckte die Wörter förmlich aus. „Und tu nicht blöder als du es bist. Wäre ich für den Tod eines Menschen verantwortlich, könnte kein Tag vergehen, ohne an ihn zu denken.“

„Ich versteh‘ nicht…,“ sie stockte. Er musste sie verwechseln. Sie spürte einen Anflug von Erleichterung: wenn ihm die Verwechslung klar wird, muss er sie gehen lassen, hatte er keinen Grund mehr sie festzuhalten. „Das ist ein Missverständnis! Ich bin nicht die, die du suchst. Ich kenne nicht mal eine Marie und habe keinem Menschen etwas getan. Hör mir doch zu!“

„So, du kennst also keine Marie. Dann will ich dir mal auf die Sprünge helfen.“ Er griff hinter sich, zog ein Kuscheltier hervor, ein Bär, der ein Herz festhielt. Melissas Bär, der von dem Foto. Er streckte ihr den Bären entgegen, kam einen Schritt näher.

„Woher hast du meinen Teddy?“ Die Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Deinen Teddy? Das ist natürlich nicht dein Teddy. Ich bin kein Dieb, das bist nur du.“ Er überlegte. „Wie auch immer. Ich habe kein Interesse daran, die Sache hier noch weiter in die Länge zu ziehen, du nervst. Ich führe dein Spielchen fort und tu so, als wäre der Name Marie, der Name meiner Schwester, dir unbekannt.“ Er blickte auf den Bären, überlegte einen Moment. „Spürst du dein Herz in der Brust schlagen? Wie es das Blut durch deine Adern pumpt, dich am Leben hält? Das Herz, das du Marie geklaut hast, das ihr zustand?“ Seine Stimme wurde leiser, dünner. „Wir haben so lange gewartet. Viel zu lange. Bis der Arzt eines Tages endlich ins Behandlungszimmer kam, den Bären hatte er hinter dem Rücken versteckt. Er zog ihn hervor, zeigte ihn Marie und er erklärte ihr, dass dies ein ganz besonderer Bär sei. Den bekommen nur die tapfersten kleinen Kinder und werden von ihm durch den großen Kampf begleitet, der ihnen bevorsteht. Endlich gab es ein Spenderherz.“

Melissa lauschte gespannt. Sie freute sich für Marie, wohl mehr als die meisten es täten, immerhin steckte sie bereits in der gleichen Situation. Doch hatte diese Geschichte, abgesehen von dieser Gemeinsamkeit, augenscheinlich nichts mit ihr zu tun.

„Der Kampf der kleinen Kriegerin ging dann doch sehr schnell zu Ende. Kurz darauf sprach der Arzt erneut mit uns. Es sei unverzeihlich, sagte er, doch hatte es eine Verwechslung gegeben. Leider war das Herz nicht für Marie, aber ganz sicher das nächste. Ein nächstes sollte es nur nicht mehr geben. Als sie starb, hielt sie den Teddy fest im Arm.“ Er musste sich sammeln, durchatmen. Seine Augen glänzten. Melissa blieb still, war gebannt von der Geschichte, auch wenn sie ihre Rolle nicht kannte.

„Ich verlor meine Schwester. Meine kleine, hilflose Schwester. Natürlich war ich meiner Mutter nicht genug.“ Er strich abwesend über die raue Rinde des Baumes. „Hier an diesem Baum fand ich sie. Wie sie in der Schlaufe hing. Sie hatte sich erhängt, kam nicht klar mit der Sache. Ziemlich einprägsames Bild für einen kleinen Jungen, aber vermutlich nicht nur für ihn.“

Melissas Atem ging kurz. Auf ihren Armen standen die Härchen hoch, doch sie versuchte es sich nicht anmerken zu lassen.

„Erst Jahre später konnte ich herausfinden, wie diese Verwechslung damals zustande kam. Aber das alles weißt du sicher besser als ich. Frank war der Vater aller Dinge, nicht nur deiner. Er hatte den Arzt damals bestochen. Dein Leben war Maries Tod.“

„Das ist nicht möglich! Es tut mir furchtbar leid für deine Schwester, für deine ganze Familie. Aber du musst etwas verwechseln. Papa würde so etwas nie tun.“ Ihre Stimme klang nicht so sicher, wie die Worte es vermuten ließen.

„In diesem Fall ist eine Verwechslung ausgeschlossen. Es war fast schon lächerlich einfach, ein Teil deines Lebens zu werden. Ich heiße übrigens Julius – dir das zu verraten, hätte meinen Plan natürlich gefährdet. Und wir beide werden jetzt dafür sorgen, dass sich deinem Vater das gleiche Bild in den Kopf brennt, wie es in meinem Kopf verankert ist. Deiner Reaktion habe ich entnommen, dass du die Requisiten bereits staunend zur Kenntnis genommen hast. Kommen Sie näher, Madame!“

Melissa rührte sich nicht vom Fleck. „Das ist ein riesiger Irrtum! Glaub mir das doch!“

Ben wurde ungeduldig. Er fasste Melissa am Kragen und zog sie zum Baum.

„Du hast eben doch gesagt, du würdest niemals damit klarkommen, einen Menschen zu töten. Du musst das nicht tun. Bitte.“ Melissas Stimme brach. Sie schluchzte.

„Gut aufgepasst. Aber ich muss auch gar nicht damit klarkommen.“ Er zog eine Pistole aus einem Fach an seinem Gürtel. Melissas Augen weiteten sich. „Keine Sorge, die ist nicht für dich. Die ist für mich, wenn meine Arbeit hier erledigt ist. Wenn die Seelen meiner Familie endlich in Frieden ruhen können.“ Er schien entschlossen, ohne Angst. Vollkommen überzeugt von seiner Aufgabe. „Gleich geht alles ganz schnell. Tschüss, Melissa.“

Er hob sie ein Stück vom Boden hoch, trug sie zum Baum und legte ihren Kopf durch die Schlinge. Durch die Fesselung von Armen und Beinen hatte sie kaum Chancen, sich zu wehren. Langsam ließ er sie los, sodass der Tod nicht sofort durch einen Genickbruch eintrat, sondern die Schlinge sich zuzog und zunächst die Blut- und Sauerstoffversorgung des Gehirns unterband. Wie bei seiner Mutter. Noch im selben Moment griff er zur Waffe, hielt sie sich in den Mund und drückte ab. Melissa begann währenddessen zu zappeln in dem Versuch, sich aus der Schlinge zu befreien. Die zog sich auf diese Weise noch fester zu.

 

Frank

Sein Herzschlag setzte einen Moment aus, als er einen Schuss hörte, direkt vor sich. Ich bin zu spät. Er rannte.

Vor ihm am Baum hing seine Tochter, eine Schusswunde war im ersten Moment nicht auszumachen. Er hob sie an, um dem Seil die Spannung zu nehmen und schaffte es, Melissa zu befreien, legte sie auf den Boden. Atmet sie noch? 

Im Hintergrund hörte er die Sirenen näher kommen.

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