a.l.mooneVerbleibende Erinnerungen

Kapitel 1 – Ein Unwetter zieht auf
Wir stellten die Figuren auf. Auch wenn wir uns am Anfang des Spiels befanden, wusste ich, dass sie es war, die das gläserne Schachbrett kontrollierte. Ich wusste, dass ich nicht gewinnen konnte und dennoch spielte ich. Wieso, fragt ihr euch?
Es ging im wahrsten Sinne um Leben und Tod und ich musste mit ansehen, wie eine Figur nach der anderen vom gläsernen Brett fiel und in tausend Teile zersprang, bis nichts mehr von mir übrig war(…)

„Hey, hier ist Tara. Ich bin gerade nicht erreichbar, aber hinterlasse mir doch gerne eine Nachricht nach dem Ton.“
„Hey Tara. Es tut mir leid, aber ich kann heute Abend nicht zu deiner Party kommen. Mein Vater hat vorhin angerufen. Er meinte, er hätte einen Käufer gefunden und ich solle sicherheitshalber nochmal nachsehen, ob ich irgendwas wichtiges im alten Haus vergessen habe. Ich glaube jedenfalls nicht, dass ich vor neun Uhr abends wieder zu Hause bin. Ruf mich bitte an, wenn du das hier abhörst.“
Claire Villan stand an einem kleinen See, der den Mittelpunkt des verschlafenen Dorfes bildete, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat. In der Ferne sah sie ihr altes Haus. Es verschwand zur Hälfte im Wald und stand direkt am Wasser.
Sie begann zu zittern und fasste sich an den Hals. Erinnerungen kamen in ihr hoch. Für einen kurzen Moment sah sie eine kleinere Version ihrer selbst auf der Veranda herumlaufen. Das kleine Mädchen sprang immer wieder hoch und streckte die Hände aus. Dabei versuchte sie einen kleinen Glitzerpunkt zu fangen, der in der Luft herumflatterte. Ein eigentlich wunderschönes Bild, eine schöne Erinnerung. Doch mit jeder Sekunde, die verstrich, lief das Kind näher zum See und schon bald würde die Szenerie zu Claires größtem Alptraum werden, wäre da nicht …
Liam Williams, Claires fester Freund, kam dazu und nahm ihre Hand. „Bereit, wann immer du es bist“, sagte er mit sanfter Stimme und einem aufmunternden Lächeln auf den Lippen.
Er schaffte es einfach immer wieder, Claire ein Lachen oder zumindest ein Schmunzeln zu entlocken. Liam wusste genau, wie wichtig und schwer dieser Ausflug für seine Freundin war. Am liebsten wäre Claire nämlich nie wieder hierher gekommen, doch vor ein paar Tagen, mit dem Anruf ihres Vaters, musste sie schmerzlich feststellen, dass dieses Kapitel noch nicht beendet war. Und- da war sie sich sicher- das würde es nicht sein, bis sie sich den Dämonen der Vergangenheit stellte. Ihren Dämonen.
Die beiden liefen zum schmalen Waldpfad, der zu Claires alter Heimat führte. Das Dickicht hatte sich so weit ausgebreitet, dass es den Eingang versperrte.
„Das haben wir gleich.“ Liam holte ein Taschenmesser hervor, aber als er gerade die dünnen Äste durchschneiden wollte, ergriff Claire seinen Arm.
„Warte noch.“ Sie überlegte kurz und biss sich auf die Unterlippe. „Was ist, wenn ich es mir anders überlege?“
„Dann drehen wir um.“
„Einfach so?“
Liam lachte laut auf und schüttelte den Kopf. „Was soll uns denn aufhalten?“
Doch Claire war gar nicht zum Lachen zumute, weshalb Liam auf sie zuging und ihre Hände nahm.
„Ein Wort und wir verschwinden auf der Stelle“, versprach er. Das gab ihr etwas Mut.
Claire atmete tief durch. Dann nickte sie und Liam machte sich daran, einen Weg durch das Dickicht freizumachen. Lange war der Weg noch nicht zugewachsen, dafür ließ sich das Geäst zu leicht entfernen. Und mit jedem Schritt, den Liam weiter nach vorne trat, wurde Claire nervöser. Gleich war es soweit. Gleich hatte er es geschafft.
„Na bitte. Gehen wir.“ Er machte eine Handbewegung, die Claire dazu aufforderte, den Wald zu betreten. Sie zögerte eine Sekunde, ging dann aber auf Liam zu, nahm seine Hand und betrat den Wald.
„Er sieht noch genau so aus wie früher“, sagte Claire mehr zu sich selbst als zu Liam.
Sie liefen ein Stück, Hand in Hand, und wenn man die wahren Gründe ihres Erscheinens nicht kannte, hätte man meinen können, die beiden seien ein überglückliches Paar, das sich eines Tages dazu entschlossen hatte, einen kleinen Waldspaziergang zu machen, um die Natur zu erkunden. Aber aus diesem Grund waren sie nicht hier.
Claire bemerkte den umgefallenen Baumstamm auf einer Lichtung, fernab des Pfades. Sie blieb stehen und betrachtete die beiden Kinder, die so taten, als seien sie die Pferde und der Baumstamm ihre Hürde. Immer wieder sprangen sie darüber, wieherten- was allerdings eher an einen sterbenden Hund erinnerte- und lachten zwischendurch.
Liam sah ebenfalls in die Richtung und wirkte verwirrt. „Alles in Ordnung?“, fragte er, was Claire aus ihren Gedanken holte.
„Ja … Siehst du den Baumstamm da vorne? Ich hab da früher mit …“
Sie erinnerte sich nicht. Wie konnte sie das nur vergessen?
„Meiner Schwester oder … vielleicht einer Freundin gespielt. Ich weiß es nicht mehr.“
Sie gingen weiter und kurze Zeit später kamen sie am Haus an. Es hatte sich so gut wie nichts verändert. Isoliert vom Rest des Dorfes stand es einfach nur da. Allein und trostlos. Die gelbe Farbe der Front war ausgeblichen, genau wie das- normalerweise- strahlend rote Dach. Der weiße Gartenzaun war Morsch und ein Stück weit im Boden versunken. Auf den Fenstern befand sich ein schmieriger Film und von den Rahmen bröckelte der Kipp.
„Hier habt ihr gewohnt?“
Claire nickte. „Es fühlt sich seltsam an, wieder hier zu sein.“
In diesem Moment sah sie ihr jüngeres Selbst aus dem Haus rennen- weinend und mit einer Stoffpuppe im Arm. Sie lief in Richtung der Lichtung, an der Claire und Liam gerade vorbeigelaufen waren. Kurz danach kam die hagere Gestalt des Monsters im grauen Fell herausgelaufen. Es war das Monster, vor dem Claire damals so große Angst gehabt hatte. Das Monster, das nur sie gesehen hatte. Das Monster, das ihr jeden Tag weh getan hatte. Das Monster, von dem Claire beinahe im See ertränkt worden wäre, als es mal wieder wütend war.
Doch jetzt wirkte es weniger monströs und viel mehr aufgelöst, beinahe traurig. Traurig darüber, dass das kleine Mädchen weglief. So hatte Claire es noch nie gesehen. Und sie konnte diesem Anblick nicht länger standhalten.
Deshalb schloss sie die Augen. Dabei unterdrückte sie einen Anflug von Tränen. Und schließlich, als sie sie wieder öffnete, war es verschwunden.
Liam sprach zu Claire, doch sie hörte ihn vorerst nicht. Erst, als er sie zum Haus zerrte, kehrte sie in die Realität zurück.
„Schnell, lass uns reingehen. Es fängt gleich an zu regnen.“
Über ihnen braute sich ein Unwetter zusammen. In der Ferne konnte man schon das erste Donnergrollen hören. Der Wind blies durch die dichten Nadelbäume und brachte eine Schar dunkler Wolken mit sich.
Als die beiden an der Tür ankamen, fragte Liam nach einem Schlüssel. Claire verdrehte die Augen und seufzte. „Oh nein, ich hätte ihn mir bei meinem Vater abholen müssen.“
„Du hast keinen Schlüssel dabei?“
Ohne groß nachzudenken, ging Claire auf die ausgeblichene rote Tür zu, drehte den Türknauf und öffnete sie.
„Glücklicherweise ist mein Vater sehr vergesslich.“
Sie traten ein, machten die Tür hinter sich zu und beobachteten das aufziehende Unwetter durch eines der Fenster neben der Tür.
„Wer vergisst denn, ein abgelegenes Haus abzuschließen?“
Claire zuckte die Achseln. „Was soll denn hier passieren? Das Dorf liegt mitten in einem Wald und wird hauptsächlich von alten Menschen bevölkert. Ich glaube nicht, dass die auf die Idee kommen würden, ein Graffiti in diesem Haus anzubringen. Und die wenigen Kinder, die hier leben, würden nicht mal in die Nähe des Hauses kommen. Ich habe dir ja von dem Ruf dieser Gemäuer erzählt.“
Mit diesen Worten nahmen sie die Situation einfach als glücklichen Zufall hin. Aber Liams Misstrauen war weder unbegründet noch dumm. Nein, das war eine sehr wichtige Frage von ihm.
Wieso sollte ihr Vater ein abgelegenes Haus, das ein jeder beschädigen und berauben kann- und das, ohne dabei gesehen zu werden- offen stehen lassen?
Die Antwort darauf ist einfach.
Das hat er nicht.

Kapitel 2 – Die Fotos
Vielleicht konnte ich die zerbrochenen Figuren nicht mehr retten, aber ich konnte sie ersetzen. Neue, stärkere Figuren zieren nun das Schachbrett. Ich habe sie bereits vor langer Zeit aufgestellt, doch du merkst es nicht einmal. Und das, obwohl sie deinen genau gegenüberstehen. Es ist so offensichtlich, aber du bist immer noch blind. Oder zumindest willst du es sein(…)

Claire und Liam verließen den Eingangsbereich und standen nun am Fuße der großen Treppe, die in den ersten Stock führte. Doch bevor sie sich ihr altes Zimmer ansah, wollte Claire erstmal den unteren Bereich des Hauses besichtigen. Sie gingen durch das Wohnzimmer in die Küche und schließlich ins Esszimmer, von wo aus man die Terrasse durch eine große Glastür betreten konnte.
„In den letzten Tagen hat es nicht viel geregnet“, merkte Claire an, woraufhin Liam sich von dem großen Gemälde an der Wand abwandte.
„Woran erkennst du das?“, fragte er, wobei er sich neben sie stellte.
„Die Terrasse ist nicht überschwemmt. Mutter hat es gehasst, wenn der Wasserspiegel des Sees zu hoch war und das Wasser immer näher ans Haus geschwemmt wurde. Aber es stand noch nie unter Wasser. An der Türschwelle hat es immer gestoppt. In den See durften wir nicht, aber wenn das Wasser auf der Terrasse stand, war es für Mutter in Ordnung, wenn wir darin spielten.“
„Wir? Redest du wieder von deiner Schwester?“
Claire überlegte. Es war nicht ihre Schwester gewesen, mit der sie im Wasser geplanscht hatte- das wusste sie- aber mit wem sie wirklich draußen gespielt hatte, hatte sie verdrängt.
„Ich glaube schon“, antwortete sie deshalb.
„Eigentlich dachte ich immer, das Verhältnis zwischen deiner Schwester und dir war schwierig.“
„Eigentlich war ich- bis wir umgezogen sind- immer allein. Aber meine Erinnerungen scheinen etwas anderes zu behaupten.“
Claire entfernte sich von der Schiebetür. Sie betrachtete den Raum. Die zurückgelassenen Möbel waren alle mit weißen Tüchern abgedeckt. Die ließen sie damals hier, um sich voll und ganz auf einen Neuanfang zu konzentrieren. Die Familie wollte das alles hier hinter sich lassen. Sie wollten es vergessen. Aber nicht selten holt die Vergangenheit einen ein, egal wie weit man wegläuft.
Liam kniete sich vor einen Pappkarton mit der Aufschrift Vorsicht zerbrechlich!
„Hey, sieh mal. Hier sind alte Tagebücher drin.“
Claire sah sich weiter um, als sie erwiderte: „Meine Mutter hat früher Tagebuch geschrieben. Lass sie lieber dort, wo sie sind.“
Ein Möbelstück war nicht abgedeckt. Der große Esstisch in der Mitte des Raumes war kein bisschen staubig und es fehlte ein Stuhl an einem der Kopfenden. Außerdem lag dort etwas. Ein kleiner Gegenstand, der Claire nur allzu bekannt vorkam.
„Mein allererstes Handy“, murmelte sie, als sie den Gegenstand aufnahm und die Einschalttaste drückte. Es funktionierte noch, doch es war mit einem Passwort versehen.
Aus der Küche ertönte ein Knall, was sowohl Claire als auch ihren Freund aufhören ließ. Liam bedeutete ihr im Esszimmer zu warten, während er der Ursache des Geräusches auf den Grund ging. Sie nickte. Ihr Herz klopfte heftig und ihre rechte Hand umklammerte den Klotz in ihrer Hand, der einmal ihr Handy gewesen war.
Kurze Zeit später gab Liam Entwarnung. Der Wind hatte eines der Fenster geöffnet und den Regen ins Haus gelassen. Er kümmere sich darum, hatte er noch gesagt, doch Claire war schon wieder mit dem Handy beschäftigt. Sie überlegte, welches Passwort sie wohl damals gewählt hatte. Da es sich um einen Zahlencode handelte, probierte sie alle Geburtsdaten ihrer Familienmitglieder, bis es sich schließlich beim 26. April 1997 entsperrte.
Das Hintergrundbild war schwarz, es gab die typischen Apps und auch sonst war nichts Besonderes an diesem alten Ding. Zumindest dachte Claire das, bis sie die Galerie öffnete. Diese bestand aus achtzehn Fotos.
Die ersten zwölf zeigten Claire als Kind mit ihrer Familie und waren einfach aus irgendwelchen Fotoalben abfotografiert worden. Auf den restlichen sechs Bildern war sie ebenfalls zu sehen, aber schon im vorangeschrittenen Alter.
Das war verdammt seltsam. Ein Streich ihres Bruders? Jedoch wohnte der mehrere hundert Kilometer von ihrer jetzigen Wohnung entfernt und würde sich wohl kaum die Mühe machen, nur für diese Fotos zu ihr zu kommen. Aber sie selbst hatte sie nicht gemacht. Und als sie sie genauer betrachtete, fiel Claire etwas auf, obgleich ihr Blick immer noch verschwommen war. Irgendjemand …
Ein Blitz zuckte über den Himmel und der laute Donnerschlag im Anschluss ließ sie zusammenzucken. Beinahe wäre sie auf den rutschigen Fliesen ausgerutscht und hingefallen, aber sie konnte sich noch an der Tischkante festhalten. Das Handy hingegen, hatte weniger Glück. Es fiel zu Boden und rutschte durch ein Loch in der Wand.
„Mist!“, fluchte Claire und sah nach dem Handy, das allerdings verschollen war. Dann inspizierte sie den Boden. An dieser Stelle befand sich irgendeine rutschige und wohlriechende Flüssigkeit. Vermutlich Seife. Jetzt war sie sich sicher, dass ihr irgendjemand einen Streich spielen wollte. Dabei konnte es sich nur um ihren Bruder oder vielleicht noch ihren Vater handeln. Die beiden waren schon immer schräg gewesen und hatten nur Dummheiten im Kopf. Mit diesem Gedanken beließ sie es dabei und machte sich auf den Weg nach oben. Ihre Schuhe putzte sie auf dem Teppich im Flur ab und blickte schließlich die Treppe hinauf in den ersten Stock.
„Liam?“
„Claire?“
„Ich gehe jetzt hoch. Es wäre nett, wenn du mich ein bisschen allein lässt.“
Sie ging nach oben. Das Gewitter war kaum noch zu hören. Es war still. Sehr still. So wie immer. Selbst das Ticken der Standuhr im Eingangsbereich verlor sich in dieser endlosen Stille. Lediglich die Treppenstufen knarrten und Claire hatte Angst, sie würden unter ihrem zierlichen Gewicht nachgeben. Dieses Haus war eine einzige Bruchbude. Sie fragte sich, wie ihr Vater es so verkümmern lassen konnte.
Und ja, ihr Vater hatte das Haus tatsächlich verkümmern lassen. Doch das hier war nicht seine Schuld. Claire verstand das nicht. Noch nicht.
Die obere Etage stand voll mit Kartons, auf denen Achtung zerbrechlich  geschrieben stand. Alles Dinge, die sie eigentlich mitnehmen wollten und schließlich zurückgelassen haben, weil sie meinten, es sei besser so.
Und hinter den offenen Türen lauerten die Erinnerungen. Die Dämonen, vor denen Claire so große Angst hatte. Sie schrien, eine Tür lauter als die andere. Allerdings war es die Tür am Ende des Ganges, die Claire am meisten fürchtete. Es war die stillste aller Türen. Hinter ihr war nur das Tropfen eines Wasserhahnes zu hören.
Genau wie damals.

Kapitel 3 – Verbleibende Erinnerungen
Jetzt, wo du dein Spiel nicht länger unter Kontrolle hast.
Jetzt, wo deine Figuren fallen. Langsam. Fast unmerklich. Eine nach der anderen.
Jetzt, wo das Schachbrett mir gehört, machst du dich klein, tust so, als seist du missverstanden worden und denkst wirklich, du kommst damit durch. Doch ich werde nicht ruhen, bis deine letzte Figur gefallen und das Spiel beendet ist. Und kurz bevor ich das letzte Stück deiner Seele in den Abgrund schmeiße, aus dem ich mit Not und Mühen entkommen bin, halte ich kurz inne und flüstere dir ins Ohr:
„Vergiss mich nicht. Niemals wieder.“

Claire setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Sie atmete schwer. Ein bleierner Geruch lag in der Luft.
Sie kam an der ersten, angelehnten Tür an, öffnete sie etwas weiter und blickte in das verlassene Zimmer. Ein kleines blondes Mädchen saß vor dem Bett auf dem Boden, ihre Beine waren angewinkelt und sie schaukelte vor und zurück. Dabei schrie und weinte sie elendig, als wäre etwas in ihr, das sie herausschreien wollte. Sie wirkte verloren, einsam und als sie innehielt- ihren Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet- wirkte sie auf einmal ganz leer. Leer von allem.
„Es tut mir leid. Ich hätte da sein müssen. Ich hätte für dich da sein müssen“, wisperte Claire. Die nächsten Worte fielen ihr besonders schwer. „Aber das ist nicht meine Schuld. Dr. Evans sagt-“
Das Mädchen drehte ihren Kopf langsam in Claires Richtung. „DR. EVANS IST EIN LÜGNER. ES IST ALLES DEINE SCHULD. ALLES DEINE SCHULD!“ Ihre Augen standen weit offen. Es wirkte beinahe so, als würden sie jeden Moment aus ihren Höhlen springen.
Plötzlich sprang das Mädchen auf und lief schreiend auf Claire zu, die den Knauf ergriff und die Tür ruckartig zuzog. Drinnen ertönte ein Klopfen, das unmittelbar zu einem aggressiven Hämmern wurde und schließlich verstummte. Es war jetzt ruhiger als zuvor.
Claire ging weiter, wobei sie versuchte, den Anflug von Tränen zu unterdrücken und ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bringen.
Hinter der nächsten Tür befand sich ein weiteres, altes Zimmer. Es war leer, das Fenster geöffnet. Claire ging darauf zu und blickte auf das Vordach über der Terrasse. Ein kleiner Junge saß dort und sah in die Ferne. Er war ruhig, doch innerlich schrie er. Das tat er immer- seine Gefühle in sich hineinfressen.
Er dachte an nichts, zumindest hatte er das Claire erzählt. Er fühlte sich einfach nur hilflos und …
„Und leer“, flüsterte sie. Damals hatte er behauptet, er würde niemandem die Schuld geben. Doch Claire war der Meinung, dass er sich entweder rausredete oder sich einfach nur irrte. Bestimmt gab auch er ihr die Schuld dafür. Und was war nun schlimmer? Das kleine Mädchen, das ihre Wut herausschrie und ihre ehrlichen Vorwürfe gegen Claires Kopf warf oder der Junge, der einfach schwieg?
Claire ging rückwärts auf die Tür zu und schloss sie, nachdem sie ausgetreten war. Es war schlimm das zu sehen. Es schmerzte so unfassbar doll. Aber das alles war nichts im Vergleich zu dem, was sie hinter der leisen Tür sehen würde.
Die nächste Tür- ein weiteres Schlafzimmer- offenbarte einen Mann mittleren Alters, der schwer atmend und weinend auf und ab ging. Er wusste weder ein noch aus und starrte immer wieder das Telefon auf dem Nachtschrank an. Wenn er es nahm, war es endgültig. Er hatte Angst vor diesem Schritt und das Letzte, woran er dachte, war die Schuldfrage. Doch auch das sah Claire nicht ein.
Das Klicken der Tür, als sie sie schloss, ließ das Tropfen des Wasserhahnes lauter werden. Die anderen Türen waren leiser geworden. Es war so weit.
Mit zitternden Händen griff sie den Türknauf der angelehnten Tür. Sie konnte sie einfach schließen und gehen. Aber Claire war bewusst, dass das nichts bringen würde.
Hinter ihr ertönte die Stimme des kleinen Mädchens aus dem ersten Zimmer. Claire drehte sich um. Das Mädchen fiel auf die Knie. Sie weinte bitterlich, wobei sie die Worte wieso habt ihr nichts getan im Sekundentakt wiederholte.
„Wieso habt ihr nichts getan?“
„Wieso habt ihr nichts getan?“
„Wieso habt ihr nichts getan?“
„Wieso habt ihr nichts getan?“
Die Worte hallten von den Wänden wider und trieben Claire in den Wahnsinn.
„Hör auf, bitte“, murmelte sie, doch das Mädchen machte weiter.
„Wieso habt ihr nichts getan?“
„Wieso habt ihr nichts getan?“
„Wieso habt ihr nichts getan?“
„Wieso habt ihr nichts getan?“
„Ich weiß es nicht“, hauchte Claire, wobei sie ihren eigenen Worten nicht so richtig glauben konnte, und plötzlich war es nicht mehr das Mädchen, sondern der Mann aus Zimmer drei, der hinter ihr im Flur stand. Er lächelte unter den Tränen.
„Wir müssen uns das verzeihen“, sagte er, bevor Claire sich wieder der Tür zuwandte und sie mit bebenden Händen endlich weiter aufschob.
Der Wasserhahn der Badewanne war nicht richtig zugedreht worden. Die glasklaren Tropfen vermischten sich mit der roten Flüssigkeit in der Wanne. Dunklere Flüssigkeit bahnte sich ihren Weg über den Rand der Badewanne bis zum Boden und bildete eine Lache auf den strahlend weißen Fliesen. Der Saum eines weichen, mittlerweile grauen Pullovers hatte ebenfalls eine tiefrote Farbe angenommen. Nur ein kleiner Teil der hochgekrempelten Ärmel, der nicht mit dem Wasser in Berührung kam, zeigte die übliche Farbe.
Als Claire näher trat, tauchten neben ihr der Mann, das Mädchen und der Junge auf. Ihre Blicke waren gläsern, ungläubig.
„Wieso habt ihr nichts getan?“
„Wieso habt ihr nichts getan?“
„Wir müssen uns das verzeihen.“
„Wieso habt ihr nichts getan?“
Schweigen
„Wir müssen uns das verzeihen.“
„Wieso habt ihr nichts getan?“
„Wieso war ich so blind“, fragte Claire, woraufhin die Stimmen verstummten und die Menschen verschwanden.
„Sag mir, hätte ich dich davon abbringen können?“ Claires Stimme zitterte. Sie bekam diesen Satz kaum raus.
Schweigen.
Sie würde die Antwort niemals bekommen. Vielleicht hätte sie sie in Mamas Tagebüchern gefunden, aber dafür war es nun zu spät.
„Unsere Streitereien waren so nichtig und unwichtig. Sie waren ganz normal, aber deine Reaktionen darauf, waren es nicht. Du kannst nicht jedes Problem mit Gewalt lösen. Das geht einfach nicht. Ich weiß, ich hätte mit dir reden müssen. Ich hätte dir das früher sagen müssen, aber … ich konnte nicht. Und ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, dass nicht ich die Geisteskranke in der Familie war. Mutter geht es so schlecht. Wir müssen auf sie aufpassen, sie pflegen. Immer musste ich dir verzeihen. Immer. Und du … Kinder spielen nun einmal mit Puppen, haben Fantasiefreunde und machen nicht immer das, was ihre Eltern von ihnen wollen…“ Claire wischte sich die Tränen aus den Augen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
Sie ging zur Tür, warf einen letzten Blick hinein und flüsterte: „Ich hätte es versuchen müssen. Es tut mir leid … Aber du kannst nicht mir allein die Schuld dafür geben. Nicht dieses Mal.“
Dann schloss sie auch die letzte Tür und das Tropfen des Wasserhahnes verstummte. Claire sank zu Boden und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Claire!“, ertönte eine Stimme von unten, die sie hochschrecken ließ.
„Alles gut. Mir gehts gut, Liam. Gib mir noch ein paar Minuten!“
Sie fing sich wieder- zumindest einigermaßen- und dachte, das Schwerste habe sie geschafft. Doch das war erst der Anfang. Ihr letzter Dämon wartete noch auf sie.
Das letzte Zimmer war ihr eigenes. Die einzig weiße Tür im Haus. Sie schob sie weiter auf und blickte zuerst auf die pinken Tapeten, dann auf den rosafarbenen Teppichboden und ihr altes Bett, das nicht bezogen war. In den Kisten unter ihrem Bett befanden sich ihre alten Stofftiere. Auch sie wiesen keinerlei Gebrauchsspuren auf.
Das alles war so merkwürdig. Das komplette Haus war verwahrlost und schmutzig, außer dieses Zimmer. Es wirkte zwar verlassen- hier waren nur die Dinge, die Claire damals zurückgelassen hatte- aber trotzdem gepflegt. Als hätte sich jemand um dieses Zimmer gekümmert. Aber wieso sollte das jemand tun?
Hinter ihr tauchte die junge Claire auf und nahm ein Holzbrett aus der Wand. Durch die Tapete war es kaum vom Rest der Wand zu unterscheiden. Dahinter befand sich die Dunkelheit. Und das finale Kapitel ihrer Geschichte.
Sie erinnerte sich nicht an den Gang in der Wand, aber das schob sie auf das Chaos, das sich in dieser Nacht im Haus breitgemacht hatte. Sie wollte jede Faser ihrer Erinnerungen erkunden, um sie endlich hinter sich zu lassen. Deshalb nahm sie ihr Handy aus der Tasche, schaltete die Taschenlampe ein und betrat den dunklen Gang hinter der Wand.
Sie ging eine halbe Ewigkeit einfach nur geradeaus und sah immer wieder auf den Boden, in der Hoffnung, sie findet das Handy, das ihr vorhin runtergefallen war. Denn damit war sie auch noch nicht fertig. Dabei bemerkte sie nicht, dass die Struktur des Hauses dies gar nicht zuließ. Normalerweise hätte sie schon längst abbiegen und sich in der Wand befinden müssen, die zwischen ihrem und dem Zimmer ihrer Schwester stand.
Doch stattdessen kam sie an einer Tür an. An einer weißen Tür. Auch diese war nur angelehnt und als sie sie aufschob, befand Claire sich in ihrem alten Zimmer. Aber es war nicht das verlassene Kinderzimmer von vorhin, nein, es war eine perfekt nachgebaute Kopie dessen, was es früher einmal war.
Das Bett war mit rosafarbener Bettwäsche bezogen, hinter der Tür hing der türkisfarbene Bademantel, der Teppich wies hier und da einige Kekskrümel auf, die Claire verloren hatte, als sie mampfend durch das Zimmer stolziert war, die Puppe lag zugedeckt im Bett und der Lichtstrahl der Lampe auf dem Nachttisch offenbarte ihr altes Handy, das darauf lag.
Claire legte den Kopf schief. Das war es, das Handy. Wie war das möglich?
Sie ging darauf zu, entsperrte es und sah sich die Fotos erneut an. Dabei fielen ihr die Daten auf, an denen sie gemacht wurden.
Die ersten vierzehn, aus dem Fotoalbum abfotografierten Fotos waren so editiert worden, dass sie das tatsächliche Datum zeigten, an dem sie gemacht wurden. Von Claires Geburt an wurde jedes Jahr am gleichen Tag- der 26. April und damit Claires Geburtstag- ein Familienfoto gemacht. Und ein jeder hätte gesehen, dass die Gesichter der Anwesenden mit jedem Jahr trauriger wurden. Sie lächelten alle, aber ihre Augen verrieten, was die Zeit mit ihnen gemacht hatte.
Nach den ersten vierzehn Fotos gab es eine Pause von insgesamt vier Jahren. Vier Jahre der Einsamkeit. Vier Jahre der Unterdrückung. Vier Jahre in Gefangenschaft.
Die darauffolgenden Fotos zeigten Claire, wie sie vier Jahre gealtert war. Sie hatte jedes Mal den gleichen Gesichtsausdruck, hielt das Handy jedes Mal mit der gleichen Hand, im gleichen Winkel und stand jedes Mal an exakt der gleichen Stelle. Hinter ihr war der nicht abgedeckte Küchentisch zu sehen.
Sie verstand. Endlich.
In ihrer Panik warf Claire das Handy gegen die Tür. Der Bademantel fiel runter und offenbarte Kratzspuren und getrocknetes Blut. Claires Herz sprang ihr aus der Brust. Sie setzte sich aufs Bett und griff nach der Stoffpuppe. Diese trug ein rotes Kleid, auf dem der Name Lilith eingestickt war.
Ohne groß darüber nachzudenken, riss Claire ihr den Kopf ab und und zerfetzte ihren Körper. Sie schrie, weinte und schluchzte unaufhörlich. Die Einzelteile warf sie quer durch das Zimmer, wobei der Kopf der kleinen Puppe auf meinen Schuhen landete.
Claire erstarrte bei meinem Anblick. Als ich plötzlich lächelte, wurde ihr schlecht. Sie verstand, was sie getan hatte. Was für einen Fehler sie begangen hatte.
Langsam- zitternd- schüttelte sie den Kopf. „Du verstehst das nicht. Du bist blind“, flüsterte sie, kaum hörbar. Doch ich griff schweigend den Türknauf mit meiner rechten und hielt meine linke Hand hoch. In ihr befand sich ein Schlüssel.
„Vergiss mich nicht. Niemals wieder.“
Mit einem Ruck schloss ich die Tür, steckte den Schlüssel ins Schloss und verriegelte sie. Aus dem Inneren vernahm ich Schreie und ich glaubte zu hören, wie Claire versuchte die Tür einzutreten. Aber das war mir egal. Ich war frei und ließ den Käfig aus verbleibenden Erinnerungen endlich hinter mir. Sie hatte mir so viel Leid zugefügt. Mich eingesperrt. Dabei verlangte ich nichts, außer ein wenig Sonnenlicht.
Mit klopfendem Herzen ging ich die Treppe runter und dabei genau auf die glänzend rote Haustür zu. Die flüsternden Türen in der oberen Etage verstummten, als ich die Haustür öffnete. Ein frischer Wind pfiff durch meine Haare und ließ mein rotes Lieblingskleid wehen. Liam rief Claires Namen.
Ich schloss meine Augen und trat hinaus.
Als ich sie wieder öffnete, lag ich auf dem Boden neben dem Esstisch. Mein Kopf dröhnte vom Aufprall. An der Tischkante klebte noch etwas Blut.
Der Schmerz tat so unendlich gut. Er beflügelte mich, denn ich spürte ihn. Nach so vielen Jahren spürte ich wahrhaftigen Schmerz.
„Claire, oh mein Gott, du bist wach.“ Liam atmete tief durch und nahm mich in den Arm. „Ist alles in Ordnung?“
Ich nickte. „Ja, mir geht es toll. Lass uns nach Hause gehen.“
„Was ist mit der oberen Etage? Wolltest du nicht …“
„Die Vergangenheit sollte endlich ruhen. Ich habe soeben das finale Kapitel abgeschlossen.“
Ich blickte zu der Kiste mit der Aufschrift Vorsicht zerbrechlich. „Können wir sie mitnehmen? Mamas Tagebücher? Ich weiß nun, wessen Schuld es war und ich möchte sie verbrennen. Endgültig.“
Er kam auf mich zu- lächelnd, so wie immer. „Natürlich. Ich bin stolz auf dich.“
Ich lächelte und damit verließen wir das verblichene Haus und gingen zum Auto. Die Kiste mit Mamas Tagebüchern war sicher im Kofferraum verstaut.
Ich spürte etwas Kaltes an meinem Hals. Es war eine Kette mit einem herzförmigen Anhänger. Der Name Lilith prangte als Gravur auf der Rückseite. Wie passend, dachte ich und steckte ihn wieder unter meinen Pullover, ehe ich aus dem Fenster des fahrenden Wagens blickte.
Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und die Bäume raschelten im leichten Wind. Und in der hintersten Ecke meines Verstandes hörte ich Schreie. Sie waren kaum vernehmbar. Es würde nicht lange dauern, dann verblassten auch sie.
Zusammen mit den anderen, verbleibenden Erinnerungen an diesen Ort.

3 thoughts on “Verbleibende Erinnerungen

  1. Echt coole Geschichte, hat was mysteriöses und es gibt noch so viele ungeklärte Fragen, die ich mir jetzt am Ende stelle, aber genau das mag ich. Das regt zum Nachdenken an und jeder kann seinen eigenen Ideen dazu folgen. Besonders gut hat mir die Stelle gefallen, als Claire im Badezimmer ist, also vom Schreibstil her, hat mich zumindest im Zusammenhang mit der Vorgeschichte emotional berührt.
    Wenn dir offene Enden gefallen, kannst du dir gerne meine Geschichte anschauen, wenn du Lust hast (Null Negativ), liebe Grüße 🙂

  2. Hey, eine tolle Geschichte hast Du geschrieben! 👏 Sie hat eine tolle mystische, schaurige Atmosphäre. Wirklich ein super Schreibstil. Interessanter und spannender Plot, könnte ich mir auch als Film vorstellen. Hoffentlich bekommst Du noch mehr Likes, mein ♥️ hast Du!

    Vielleicht magst Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, das würde mich sehr freuen. 🌻🖤

    Liebe Grüße, Sarah! 👋🌻 (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

  3. Danke dir für deine Geschichte. Die Atmosphäre hat mir wirklich gefallen. Ich konnte mich sehr gut in Claire hineinversetzen und es hatte wirklich etwas Geheimnisvolles…zum Teil fast so, als würde ich einen Film sehen.

    Ich mag offene Enden, aber hier waren mir ein paar Fäden zu lose – wenn ich das so sagen darf. Mir hätte es besser gefallen, wenn ein paar Teile deutlicher bzw. klarer gewesen wären. Ich finde aber allem in allem hat sie Potential.

    Der Titel gefällt mir übrigens sehr gut. Ebenso die Partien mit dem Schach und die Gesamtlänge.

    Liebe Grüße,
    Jenny /madame_papilio (Nur ein kleiner Schlüssel)

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