SarahHiVerdrängung

Er hasste den Geruch von warmem Popcorn. Früher hatte er ihn gemocht. Doch wenn er jetzt die Reste angegessener Nachos und zerrissener Plastiktüten aufsammelte hasste er all jene Gerüche, die ihn an seinen unterbezahlten Job in diesem verfluchten Kino erinnerten. Er hatte auch so schon genug zu tun, aber natürlich interessierte das die Menschen nicht, die ihre Sachen rücksichtslos auf ihren Plätzen vergaßen und hofften, man trüge sie ihnen hinterher.

Eine Nachricht prangerte wie eine Leuchtreklame in der Mitte des Displays jenes Handys, das er gerade von einem der Sitze aufgehoben hatte:

100473

Es arbeitete in seinem Kopf. Die Nummer kam ihm irgendwie bekannt vor. Das Passwortfeld öffnete sich und während er die Zahlen der Reihe nach eintippte, wurde es ihm bewusst. Es handelte sich um seinen Geburtstag. Doch noch mehr als dieser Fakt schienen ihn die Bilder zu irritieren, die er jetzt auf dem kleinen Bildschirm in seiner Hand zu sehen bekam. Ein Bild von ihm. Ein Bild aus seiner Kindheit, auf dem er höchstens ein Jahr alt gewesen sein konnte. Er saß auf einem bunten Spielteppich, mit Bauklötzen in der Hand, neben ihm ein anderer Junge, der etwa in seinem Alter sein musste.

Sein Herz pochte hart in seiner Brust. Was sollte das? Er zog seinen Finger über den Bildschirm und bekam ein weiteres Bild zu sehen: Er als Vierjähriger in einem Robin Hood Kostüm und schon wieder war da dieses andere Kind. Bei dem ersten Bild war es ihm möglich gewesen, es auf die sich allgemein ähnelnde Babygesichter zu schieben, doch jetzt konnte er die Ähnlichkeit zwischen den beiden Jungen auf dem Foto nicht leugnen.

Als Nächstes sah er sein 10 Jähriges Ich fröhlich auf einer Schaukel und es gab nun keinen Zweifel daran, dass die Gesichter auf dem Bildschirm miteinander verwandt sein mussten. Je länger er sich durch die Fotos arbeitete, desto kälter wurde ihm. Wieso gab es so viele Aufzeichnungen von ihm und diesem Fremden, an den er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte und die wichtigste aller Fragen war wohl: Wieso sah diese Person aus wie er selbst?

Die Zahl am unteren Bildschirmrand verriet ihm, dass er im Stande war, das letzte Bild aufzurufen. Ein Wisch nach rechts. Die Kraft in seinen Fingern ließ nach und das Handy schlug mit einem dumpfen Knall auf dem Boden auf. Er selbst ließ sich auf einen der Kinositze nieder, bevor seine Beine ihn ebenfalls im Stich gelassen hätten. Das war unmöglich. Auch auf dem letzten Foto waren dieselben Gesichter zu sehen, doch diesmal waren sie keine Kinder oder etwa Jugendliche. Von dem kaputten Display lachten ihm zwei gestandene Männer entgegen, beide einander mit einem Bier zuprostend.

Er konnte sich dunkel an den Moment der Aufnahme erinnern. Das musste vor etwas über einem Jahrzehnt auf einem Familienfest entstanden sein. Doch der Mann, der sein Gesicht mit ihm teilte, fehlte auf den Bildern die durch seinen Kopf schwirrten.

Er suchte nach Erklärungen und die einzig Logische davon, schien immer weiter Gestalt anzunehmen. Ein Streich. Jemand versuchte, ihn auf den Arm zu nehmen und er war prompt darauf reingefallen.

Als er das Smartphone vom Boden aufhob, stellte er erleichtert fest, dass es durch den Sturz keine weiteren Schäden als das zersprungene Display genommen hatte und öffnete den Nachrichtendienst, in dem nur diese eine Nachricht mit dem Code zu finden war. Er tippte:

Ihr habt mich erwischt.

Keine Minute später kam eine Antwort:

Kleinfeldstraße 84

Seine Verwirrung wuchs. Er hatte eine Auflösung oder den Anruf eines Kumpels erwartet, der ihm lachend erklärte, dass alles nur ein Scherz gewesen sei. Das unangenehme Gefühl im Bauch verstärkte sich noch weiter, als das Suchergebnis ihm bei der genannten Adresse einen Friedhof ganz in der Nähe präsentierte. Es war weniger seine Neugierde als das mulmige Gefühl, das ihn dazu bewegte seine Arbeit  unfertig zurückzulassen und sich ins Auto zu setzen, um wenige Minuten später auf dem Parkplatz des abgelegenen Friedhofes zu fahren. Das Handy auf dem Beifahrersitz leuchtete auf.

Südlicher Eingang, Sonnengasse (17)

Der Wind peitschte erbarmungslos auf ihn ein, als er das Friedhofstor erreichte. Ein etwas verdrecktes Schild führte ihn in die aufgeforderte Reihe, die er nun langsam entlangschritt, während er die Grabsteine zählte. Die düstere Wolkendecke lies kaum Licht durch, weshalb es ihm schwerfiel die Inschrift des Grabes zu lesen, vor dem er letztendlich stehengeblieben war. Der Grabstein war schlicht, keine besondere Form, keine Verzierungen. Wäre es nicht zu makaber gewesen, hätte er gesagt, dass er sich so auch seine eigene Grabstätte hätte vorstellen können.

Er trat einen Schritt näher heran und beugte sich etwas nach vorne, was wie immer dazu führte, dass ihm seine Brille ein wenig von der Nase rutschte. Trotzdem war er inzwischen nahe genug, um die einzelnen Buchstaben zu erkennen, die in einfachen Lettern einen Namen ergaben. Seinen Namen. Hätte er bis eben vielleicht doch über diesen Scherz gelacht, widerte ihn das Ganze jetzt nur noch an. Was für eine Person würde ihm einen so unmenschlichen Streich spielen wollen, wenn man es überhaupt als solchen bezeichnen konnte, denn eigentlich kam die Sache einer Art Mobbing viel näher. Das Handy in seiner Hosentasche meldete sich.

Wieso?

Diese Frage stellte er sich auch. Wieso dieser Grabstein und diese Nachrichten. Konnte es sein, dass der Absender selbst nicht wusste, was dieses Grab zu bedeuten hatte? Doch warum gab er sich nicht zu erkennen? Er tippte:

Was meinst du mit wieso? Wer bist du? Was soll das Spiel?

Noch während er diese Nachricht schrieb, spürte er einen Anflug von Wut in sich aufflammen, die zu einem größeren Feuer wuchs, als er die Antwort las.

Wieso musste er sterben?

Er verstand kein einziges Wort dieser Frage. Vielleicht wäre es besser, die Polizei einzuschalten. Doch natürlich wollte er keinen seiner Freunde in Schwierigkeiten bringen, selbst wenn das alles viel zu weit ging.

Seine Blicke flogen immer wieder zwischen dem Handy in seiner Hand und dem Grabstein vor ihm umher. Laut Inschrift war er genau heute vor 10 Jahren gestorben, was natürlich völliger Blödsinn war. Schließlich stand er gerade lebendig auf einem Friedhof. Trotzdem überlegte er, ob an jenem Tag ein besonderes Ereignis geschehen war. Eine Feier, vielleicht eine Hochzeit oder ein Geburtstag? Doch seine Erinnerungen gaben nichts preis.

Seine Hand vibrierte.

Liesdorferstraße 34

Sollte das eine Schnitzeljagd werden? Würde man ihn bei dieser Adresse aufklären? Er tippte besagte Straße samt Hausnummer in die Suchmaschine ein und bekam seine alte Grundschule als Ergebnis.

Eigentlich musste er zurück auf die Arbeit. Man würde ihn bald suchen, wenn sie sein Verschwinden nicht schon bemerkt hatten. Sein eigenes Mobiltelefon bestätigte seine Vermutung. Ein Kollege hatte bereits sechs Mal versucht, ihn zu erreichen. Das bedeutete aber auch, dass jener Kollege seine Schicht vermutlich schon übernommen, wenn auch nicht freiwillig. Er würde ihm später erklären, warum er seine Arbeit früher hatte verlassen müssen und niemand würde ihm unter diesen Umständen Vorwürfe machen, da war er sich sicher.

Also fuhr er zu seiner alten Schule, an die er sich gerne zurückerinnerte. Damals war sein Leben so sorgenlos gewesen. Zwar sah der Betonbau mit seiner nun bunten Fassade und der neuen Schaukel ganz anders aus als zu seinen Zeiten, weckte er doch lang vergessene Erinnerungen.

Die Spielgeräte waren leer und Stille statt Kinderlachen und aufgeregten Gesprächen hing über dem Gelände der Schule. Der Unterricht musste vorbei, die Kinder bereits zu Hause sein, denn auch im Inneren erblickte er keine Menschenseele. Ein langer dunkler Flur erstreckte sich vor ihm, die Lichter waren schon ausgeschaltet. Schatten an den Wänden deuteten auf Ausgehängte Plakate oder Ähnliches hin. Weiter hinten erspähte er eine kleine Lichtquelle, die sich als Vitrine entpuppte, in der Pokale und Fotos ordentlich nebeneinander ausgestellt waren. Kunst- und Musikpreise, aber die Mehrzahl stammte von sportlichen Wettbewerben. Er erinnerte sich dunkel daran, auch einmal auf einem solchen Podest gestanden zu haben, das er auf manchen gerahmten Bildern erblickte. Dann vergaß er für einen Augenblick zu atmen. Weiter unten, in einer der hinteren Reihen entdeckte er tatsächlich ein verblichenes Foto mit seinem Namen und der Information „Neuer Rekordhalter im Turnen“ darunter. Ein schiefes Lächeln über dem ganzen Gesicht hielt er eine kleine Trophäe in der Hand. Doch das alleine hatte ihm nicht den Atem geraubt, sondern viel mehr der Junge in dem blauen Sportshirt, der hinter ihm stand und ihm stolz eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Jener Junge, der genauso aussah wie er selbst. Sein Herz begann einen Marathon in seiner Brust. Seine Augen suchten verzweifelt nach einer weiteren Notiz, einem Text, einfach nach einer Erklärung. Sein vorheriger Verdacht, es handele sich um eine bearbeitete Fälschung war sehr schwer weiterhin aufrecht zu erhalten, denn dem Foto vor ihm war sein Alter deutlich anzusehen.

Er zog sein Handy aus der Tasche und fotografierte das Bild durch das Glas der Vitrine. Als er den Vorgang auch mit den Fotos auf dem fremden Telefon wiederholen wollte, blinkte eine neue Nachricht auf dem Display. Den Nachrichtenton hatte er wohl vor Aufregung überhört.

Siehst du es?

Selbstverständlich sah er es. Wie sollte er auch nicht. Wieso sagte der Typ am anderen Ende nicht endlich, was hier vor sich ging.

Ja ich sehe das Foto. Wer ist dieser Junge?

Und weil er endgültig kein Verständnis mehr für diese Geheimnistuerei hatte:

Sag mir, wer zum Teufel du bist!

Bei der Nachricht, die er zurückbekam, hätte er das Ding in seiner Hand am liebsten gegen die nächste Wand geworfen. Statt einer Antwort auf nur eine seiner Fragen, zeigte der Messanger nur eine weitere Adresse. Doch für ihn war das Spiel vorbei.

Ich mache nicht mehr mit. Entweder du verrätst mir, wer du bist und was das Ganze soll oder das Handy wandert in den Müll.

Er hoffte wirklich, dass seine Drohung Wirkung zeigen würde, denn andernfalls war er nicht sicher, was er als Nächstes tun sollte. Wie gewohnt ließ die Nachricht nicht lange auf sich warten:

Du möchtest Antworten? Fahre zu der Adresse!

Es war nicht so, dass er eine ausformulierte Erklärung erwartet hatte, aber wenigstens eine Reaktion oder vielleicht ein kleiner Hinweis. Wie ein paar Körner die man Hühnern hinschmiss, damit sie kamen, nur um dann ihre Eier stehlen zu können. Doch diese Person wusste, dass sie ihn an der Angel hatte und dass er ihren Befehlen auch ohne Lockmittel folgen würde.

Also kehrte er dem Stück Vergangenheit den Rücken zu und fuhr in die Richtung, in die sein Navigationsgerät ihn schickte.

Da er die Adresse vorhin nicht nachgeschlagen hatte, war er umso überraschter, als er auf einmal vor einem Krankenhaus zum Stehen kam. Doch es war nicht irgendein Krankenhaus, hier hatte er vor über vier Jahrzehnten das Licht der Welt erblickt.

Eine zweite Nachricht war inzwischen eingetroffen:

Frage nach Stefanie Knecht.

Er atmete tief durch, dann betrat er das Krankenhaus. Der typische Geruch von Desinfektionsmittel fand augenblicklich einen Weg in seine Nase und die Empfangsdame warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, als er für einen kurzen Moment angeekelt die Nase verzog.

„Kann ich ihnen weiterhelfen?“, fragte sie höflich aber bestimmt.

„Stefanie Knecht. Ich suche eine Stefanie Knecht.“ Er wünschte, er hätte mit der gleichen Bestimmtheit reden können.

„Ihr Büro ist den Gang runter, die dritte Tür links.“

Noch ein kurzes Nicken, dann folgte er ihrer Weisung, klopfte an die Tür und trat ein. Das Büro war dunkel und Stefanie Knecht nicht anwesend. Seine Gedanken fuhren Achterbahn. Sollte er warten? Oder doch einfach gehen und das Handy wegschmeißen? Aber wer war dieser mysteriöse Junge auf den Fotos? Und nicht zu vergessen der Grabstein mit seinem Namen darauf. Nein, er konnte nicht einfach gehen, also beschloss er, auf einem der Stühle Platz zu nehmen und zu warten. Es mochte Zufall sein, doch daran glaubte er nicht mehr, dass genau zwei Akten vor ihm auf dem Schreibtisch lagen und die Obere davon seinen Namen trug.

Ein Schulterblick auf die Tür, um sicherzugehen, dass ihn niemand beobachtete und er griff zu der weißen Krankenhausakte. Eine Seite dokumentierte seine Geburt mit allen Daten, die es zu vermerken gab. Auch wenn es ihn interessierte, hatte er jetzt nicht die Geduld sich die Details seiner Geburt genauestens durchzulesen. Doch ein Wort fiel ihm selbst beim Überfliegen des Dokumentes ins Auge:

Zwillingsgeburt

Ein Wort, das seinen Puls sofort in die Höhe schießen lies. Zwillingsgeburt. War das möglich? Es ergab durchaus Sinn. Der Junge auf den Fotos, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen war. Obwohl die Gedanken in seinem Kopf so ungeordnet waren, wie die Fäden eines Wischmops wurde er sich auf einmal der zweiten Akte auf dem Tisch bewusst. Sofort griff er nach ihr. Der Vorname war ein anderer, aber der Junge, zu dem diese Akte offensichtlich gehörte, trug denselben Nachnamen wie er selbst. Auch hier konnte er sich einzig und alleine auf nur ein Wort konzentrieren: Zwilling.

Zitternd zog er das Handy aus seiner Hosentasche und schrieb:

Woher weißt du von meinem Zwilling? Wer bist du? Wo ist mein Bruder?

Das waren nur einige seiner tausend Fragen. Wenn all diese Fotos tatsächlich ihn und seinen Zwillingsbruder zeigten, wo war er dann und wieso konnte er sich nicht an diese Momente erinnern? Er wollte seine Mutter anrufen, seinen Vater, seinen jüngeren Bruder, irgendjemand musste ihm alles erklären. Es klingelte ein paar Mal, bevor er die beruhigende Stimme seiner Mutter hörte.

„Hallo?“

„Mama?“ Wie lange war es her, dass er zum letzten Mal mit ihr gesprochen hatte. Das Handy in seiner Hand zitterte. Schweigen am anderen Ende. „Mama bist du noch da?“ Er klang wie ein verängstigter Junge, der alleine in den Keller geschickt worden war. Stille.

„Mama, habe ich einen Zwillingsbruder?“, stellte er die unausweichliche Frage.

„Was hat er nur getan?“, hörte er sie sagen. Dann teilte ihm das gleichmäßige tut tut tut die getrennte Verbindung mit.

Säße er nicht immer noch auf einem Stuhl, wäre er spätestens jetzt zusammengebrochen. Seine Wahrnehmung versagte und er sah alles durch einen Schleier von Tränen. Er fühlte sich einsam, von aller Welt verlassen. Von seiner Mutter verlassen.

Ein Signalton und ein vibrieren holten ihn in die Realität zurück. Er wischte sich über die Augen, um die eingetroffene Nachricht lesen zu können:

Am Siegling 19

Diese Adresse brauchte er nicht nachschlagen. Es war seine Eigene.

Den weg an der Empfangsdame vorbei zum Ausgang und damit zu seinem Auto bezwang er ohne zu wissen wie. Die beiden Akten hielt er fest umklammert unter seiner Jacke und auch als er ins Auto stieg ließ er sie nicht los. Selbst als er vor seinem Haus parkte waren seine Finger fest um das Papier geschlungen.

Die Haustür stand offen. Das taube Gefühl in ihm wich einer bösen Vorahnung. Der Flur lag im Dunkeln. Das spärliche Tageslicht, das sich dem Ende zuneigte, erhellte gerade einmal die Fußmatte mit dem „Herzlich Sillkommen“ Schriftzug darauf.

„Hallo?“, rief er in seine eigene Wohnung. Natürlich war ihm bewusst, dass ihm kein Einbrecher jemals antworten würde.

Langsam bewegte er sich vorwärts, die Hand nach dem Lichtschalter ausgestreckt. Als das Licht anging, wünschte er sich, er hätte es ausgelassen. Sämtliche Bilder, die an den Wänden gehangen hatten, lagen zerbrochen auf dem Boden. Familienfotos, Bilder aus Urlauben. Alles lag in Scherben vor ihm.

Er folgte der Spur der Verwüstung bis vor die angelehnte Tür des Wohnzimmers. Von dort hörte er aufgeregte Stimmen.

„Das kannst du nicht machen“, schrie eine aufgebrachte Frauenstimme. Es war seine Mutter.

„Er muss sich erinnern“, fauchte eine andere, fast verzweifelte Stimme zurück. Die Stimme seines Bruders.

„Du weißt genau wie ich, dass ihm das nicht helfen würde“, entgegnete seine Mutter etwas ruhiger.

„Aber vielleicht würde es mir helfen.“ Dann hörte er ein Schluchzen.

Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, doch konnte keine Ergebnisse präsentieren.

„Mama?“, fragte er deshalb leise durch den Spalt in den Raum. Fast augenblicklich erschien seine Mutter vor ihm.

„Wir sollten wo anders hingehen“, erklärte sie, ohne ein weiteres Wort einer Erklärung.

„Mama was ist hier los?“ Seine Kraft verließ ihn allmählich. Er wollte ihr die Akte zeigen, doch sie drückte ihn sanft aber bestimmt weg von der Tür.

Nein! Nicht jetzt. Nicht noch mehr Geheimnisse. Mit einem Ruck riss er sich los und stürmte ins Wohnzimmer. Was dann geschah, bekam er nicht mehr mit. Sein Kopf explodierte. Nicht weil ihn jemand niedergeschlagen oder gar in den Schädel geschossen hatte. Nein, er wurde überrollt von Erinnerungen. Er sah Wände, die mit Blut bespritzt waren. Ein lächelndes Gesicht, nicht seines, aber eines, das dem seinem ziemlich ähnlichsah. Er hörte Kinderlachen und den dumpfen Aufprall eines leblosen Körpers. Seinen Bruder, der mit ihm auf ihren 18. Geburtstag anstieß und seine Leiche auf dem Fußboden in jener Wohnung in der er sich gerade befand.

Er sackte in sich zusammen und fiel. Niemand fing ihn auf. Er fiel. Immer weiter und auch als seine Knie von dem harten Boden gebremst wurden, fiel er weiter. Weiter in ein tiefes schwarzes Loch.

„Die Wahrheit wird uns alle irgendwann vernichten“, hatte sein Bruder einmal gesagt, der den er umgebracht hatte. Der, dessen Namen er jetzt trug, weil das Leben seines Bruders so viel besser gewesen war, als sein eigenes.

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