TamaraVergangenheit

1

Milas aufgeregtes Bellen reißt mich aus meiner Konzentration. Gerade wollte ich einen letzten Kommentar in das Manuskript von „Hilf mir, kleine Taschenlampe“ einfügen, eine bezaubernde Geschichte über ein kleines Mädchen, das sich im Dunkeln fürchtet und mit seiner Taschenlampe bewaffnet die Furcht zu bekämpfen versucht. Seufzend stehe ich auf, als ich das Läuten der Türklingel höre. „Mila, sei still!“, sage ich, wohlwissend, dass das nicht den gewünschten Erfolg haben wird. Eines der wenigen Dinge, die ich ihr auch nach intensivstem Training nicht aberzogen bekomme. Zu viele Schäferhund-Gene, schätze ich. Ich greife nach Milas Halsband, während ich die Türe öffne. „Leonie, was tust du denn hier?“, frage ich die unerwartete Besucherin verblüfft. Statt einer Antwort grinst sie und hält mir einen großen Pizzakarton und eine Flasche Wein hin. „Ich halte meine Schwester vom Arbeiten ab und sorge dafür, dass sie nicht verhungert. Schau dich an, du bist viel zu dünn!“, murmelt sie vorwurfsvoll, während sie sich an mir vorbei ins Haus drückt und sofort auf die Knie geht, um Mila zu begrüßen. Der Pizzakarton gerät in eine gefährliche Schieflage. „Na, dann komm doch herein.“, lache ich und bücke mich, um die Pizza vor dem Aufprall auf dem Boden und einer interessierten Hundenase zu retten. „Du rettest mich wirklich vor dem Verhungern!“, sage ich, während ich in die Küche gehe, den Pizzakarton auf die Anrichte stelle und mich umdrehe, um Teller und Weingläser aus dem Schrank zu holen. „Ich habe gar nicht bemerkt, was für einen Hunger ich habe!“ „Du warst also tatsächlich noch am Arbeiten!“, sagt Leonie vorwurfsvoll. „Hey, Abgabetermine sind Abgabetermin!“, verteidige ich mich. „Klar, es gibt immer ein Manuskript, das von der umwerfend guten Emma Kaufmann gerettet werden muss.“ Als sie meinen genervten Blick sieht, zuckt sie mit den Achseln, schnappt sich die Teller und die Pizza und geht damit ins Wohnzimmer. Ich folge ihr genervt mit den Gläsern und dem Wein. Auf diese Diskussion habe ich heute wirklich keine Lust. Wortlos lasse ich mich aufs Sofa fallen, öffne den Wein und schenke uns großzügig ein. Währenddessen, verteilt Leonie die Pizza auf unseren Tellern. „Das werde ich morgen bereuen!“ Bedauernd blickt sie auf das Pizzastück, das sie sich vors Gesicht hält, zuckt dann wieder die Achseln und beißt dann genussvoll in das Dreieck. Ich muss wieder lachen. „Gibt es etwas Neues?“, frage ich sie mit vollem Mund und hoffe, dadurch von der Diskussion um meine Arbeitszeit abzulenken. Es scheint zu funktionieren, denn Leonie beginnt mir davon zu erzählen, dass sie zu einem Lehrergespräch in die Schule ihrer Tochter Nele eingeladen ist, weil Nele wiederholt den Unterricht geschwänzt hat. „Interessiert sich nur dafür, ob die Farbe ihrer Nägel zu der ihres Oberteils passt! Ich weiß nicht, was ich noch tun soll, Emma! Kannst du nicht mal mit ihr reden? Dich findet sie cool! Du bist nicht so eine Spießerin wie ihre furchtbare Mutter!“ „Du bist doch nicht furchtbar!“ Sie schaut mich traurig an, seufzt dann und schiebt sich das letzte Stück Pizza in den Mund. „Nein, aber sag das mal diesem Pubertier, das mit mir unter einem Dach lebt. Und ihr Vater hat nichts Besseres zu tun, als ihr zum 16. Geburtstag einen Vespa-Roller zu versprechen. Den Führerschein dazu könnte ich ihr ja schenken, vielen Dank auch. Ich dachte eher an etwas, was unter 50 Euro kostet, da der feine Herr sich ja zu schade ist, Unterhalt für seine Tochter zu bezahlen.“ Sie leert ihr Weinglas in einem Zug. „Entschuldige bitte, manchmal fällt mir einfach die Decke auf den Kopf. Aber dafür habe ich ja dich: Ich bringe dir einfach eine sündhaft fettige Pizza, an deren Rückständen auf meine Hintern ich noch zwei Wochen werde arbeiten müssen, und halte dich gleichzeitig davon ab, dich zu Tode zu arbeiten. Zwei Fliegen mit einer Klappe nennt man das dann wohl!“ Sie hat sich nachgeschenkt und prostet mir zu. Womit wir also wieder beim Thema wären. Dass ich nicht antworte und stattdessen konzentriert an meinem Weinglas nippe, lässt sie wohl zu dem völlig richtigen Schluss kommen, dass ich auf diese Diskussion heute nicht einsteigen werde, denn sie sagt: „Na gut, dann nicht.“ Ich habe fünf Jahre lang Literaturwissenschaften studiert, währenddessen gearbeitet und unzählige Praktika gemacht, um diesen Job zu bekommen. Ich arbeite gerade ein Jahr beim Kids-Verlag und muss mich immer noch täglich beweisen. Für die Tatsache, dass ich vorhabe, mich für diesen Job unersetzlich zu machen, werde ich mich sicher nicht rechtfertigen. „Hast du was von ihm gehört?“, fragt sie mich nun stattdessen. Ich versteife mich und tue so, als wüsste sie nicht, von wem sie redet, während ich konzentriert am Teig meines letzten Pizzastücks knibbele. „Von wem soll ich etwas gehört haben?“ „Du weißt genau, von wem ich rede! Ben! Super gutaussehend, super Job, super süß und super verliebt in dich!“ „Leonie, bitte…“, beginne ich, doch sie unterbricht mich, indem sie die Hand vor mein Gesicht reißt, mit der Handfläche zu mir, und meine Stimme nachäfft. „Bitte, du verstehst das nicht.“ Mit ihrer normalen Stimme fährt sie fort: „Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist und ich werde dich nicht drängen, es mir zu erzählen, aber bitte denke noch einmal darüber nach. Ben ist völlig fertig, ich glaube, er versteht nicht, was dein Problem ist. Wir sprechen nicht über dich, keine Sorge!“, wirft sie schnell ein, als sie sieht, wie ich die Augenbrauen hebe. „Aber er sieht fürchterlich aus und wenn wir uns unterhalten, erzähle ich eben auch mal von dir. Bitte, denk noch einmal über die Sache nach und ob sie es Wert ist, so einen Typen gehen zu lassen.“ „Leonie, es tut mir leid, aber ich möchte nach wie vor nicht darüber reden. Ich verstehe deine Sorge um mich, aber…“ Ich hebe die Schultern, weiß nicht, was ich noch sagen soll. Ich kann ihren Blick nicht deuten, als sie mich jetzt ansieht. Das Band, das mich und meine Schwester verknüpft, ist schon immer sehr eng gewesen. Doch es gibt Momente, da scheint sie mir plötzlich meilenweit entfernt, in ihrer ganz eigenen Welt versunken. „Ist gut.“, sagt sie schließlich und da ist sie wieder, meine verrückte, starke große Schwester, die immer ein Lächeln für mich hat und mir die Schrecken vom Leib hält. Sie war schon immer meine kleine Taschenlampe, die mir die Schrecken vor der Nacht nimmt.
Den Rest des Abends unterhalten wir uns über Belanglosigkeiten. Als sie schließlich geht, drückt sie mich fest an sich und flüstert mir ins Ohr: „Ich hab dich lieb, Kleine!“ „Ich dich auch!“, antworte ich leise und aus irgendeinem Grund steigen mir dabei die Tränen in die Augen. Als sie schon fast an ihrem alten, heruntergekommenen Auto ist, das neben meinem neuen kleinen Flitzer noch schäbiger aussieht, rufe ich ihr noch zu: „Ach, und wegen der Sache mit Nele… Mach dir keine Sorgen, das geht vorbei! Bei mir ging es auch vorbei! Und wenn du möchtest, rede ich gerne mal mit ihr!“ „Das wäre schön! Danke!“, sagt sie mit einem Lächeln und steigt in ihren Wagen.

2

Ich möchte mich gerade zurück an meinen Schreibtisch setzen, um endlich das Manuskript für den letzten Durchlauf in der Grafik fertigzustellen, als Mila schon wieder unruhig wird. Sie tappt vor der Haustüre umher, als müsste sie dringend in den Garten, um ihr Geschäft zu verrichten, dabei fiept sie leise. „Was ist denn, mein Mädchen?“, frage ich sie mit ruhiger Stimme, als ich neben ihr in die Hocke gehe. „Zur Antwort springt sie an der Tür hoch und bellt einmal laut. Wirklich seltsam. Ich beschließe, sie in den Garten zu lassen, vielleicht muss sie wirklich nur mal Pipi. Kaum habe ich die Türe geöffnet, schießt sie schon nach draußen und verschwindet in der Dunkelheit. „Mila!“, rufe ich ihr leise nach. Wo ist sie denn hingerannt? Nach nur mal schnell Pipi sieht das nicht aus. Angestrengt starre ich in die Dunkelheit, kann aber nichts erkennen. Da höre ich Mila plötzlich laut bellen. Ich fluche und laufe nur auf Strümpfen hinaus in den Garten. Gott sei Dank ist der Boden trocken. „Mila, komm her!“, rufe ich nun schon lauter als zuvor. Aus einigen Metern Entfernung höre ich ein leises Fiepen. Je weiter ich Richtung Straße gehe, desto mehr wird mein Sichtfeld vom Licht der Straßenlaterne erleuchtet. Innerlich fluche ich, dass ich nicht schon längst das Licht an meiner Haustür habe reparieren lassen, dann würde ich bis zum Auto nicht halb blind dahinstolpern müssen. Plötzlich bleibe ich stehen. Mila ist nicht allein. Sie läuft um eine Gestalt herum, die sich zu ihr hinabgebeugt hat. Gibt sie ihr etwas zu fressen? Ich kann nicht erkennen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, dazu spendet auch die Straßenlaterne zu wenig Licht. „He! Wer sind Sie? Gehen Sie weg von meinem Hund!“, rufe ich der Gestalt laut zu. Meine Stimme klingt glücklicherweise nicht so schwach, wie ich mich fühle. Was will diese Person? Ist sie zufällig vorbeigekommen, als Mila hinausgestürmt ist? Oder war sie schon da und der Grund für Milas Unruhe? Als die Gestalt meine Stimme hört, richtet sie sich langsam auf. Sie trägt Lauf-Shorts und einen dunklen Kapuzen-Pullover, die Kapuze hat sie ins Gesicht gezogen. Langsam wird mir die Sache unheimlich. „Mila, zu mir!“, rufe ich der Hündin zu. Endlich besinnt sie sich auf ihre Erziehung und kommt zu mir gelaufen. Als sie sich erwartungsvoll neben mich setzt, leckt sie sich über die Lefzen. Muss schmackhaft gewesen sein, was diese Person ihr zugesteckt hat. Die Gestalt hat sich nicht vom Fleck gerührt. „Entschuldigen Sie, ich hoffe, mein Hund hat sie nicht überrascht.“, entschuldige ich mich. Die Gestalt rührt sich immer noch nicht, antwortet mir auch nicht. Mir wird immer mulmiger. Alles in mir drängt mich dazu, einfach umzudrehen und nach drinnen zu gehen, doch etwas hält mich davon ab. Wie die Person dasteht und mich ansieht. Völlig still, ohne die kleinste Bewegung, ohne einen Laut von sich zu geben. Da, plötzlich, als ich gerade noch einmal zu einer Entschuldigung ansetzen möchte und dann ins Haus zurückgehen, kommt Bewegung in mein Gegenüber. Den ersten Schritt macht es langsam, fast zögerlich, den nächsten schon sicherer. Mit jedem Schritt auf mich zu scheint die Person schneller und selbstbewusster zu werden. Vor Schreck kann ich mich nicht von der Stelle rühren. Die Zielstrebigkeit, mit der sie nun auf mich zukommt, lässt in mir blanke Panik aufsteigen. Alles in mir schreit danach, mich einfach umzudrehen und ins Haus zu laufen, stattdessen bringe ich nur ein schrilles Quieken zu Stande: „Halt, kommen Sie nicht näher!“ Plötzlich blendet mich helles Licht. Instinktiv kneife ich die Augen zu, nehme den Arm schützend vors Gesicht und drehe mich der Lichtquelle zu. „Emma, was ist los!“, höre ich meinen Nachbarn Patrick rufen. Langsam gewöhnen sich meine Augen an das flutlichtartige Licht der Gartenbeleuchtung. „Patrick, alles in Ordnung!“ Während ich ihn durch den Garten näherkommen höre, wende ich mich wieder dem Rasen vor seiner Hecke zu – er ist leer. Die Gestalt ist verschwunden. Mila hat das Interesse völlig verloren und schnüffelt um mein Auto herum. „Entschuldige bitte die Störung! Mila wollte nach draußen und hat dabei wohl einen Jogger überrascht. Ich hoffe, ich habe euch nicht geweckt!“ Ich blicke Patrick entschuldigend an, der nur in Shorts und einem T-Shirt bekleidet neben mir steht. „Keine Sorge, ich habe dich nur rufen gehört und dachte, ich sehe mal nach dem Rechten.“ Ich bedanke mich noch einmal bei ihm, drehe mich um und gehe zurück zu meiner Haustüre. Die ganze Situation ist mir peinlich. Ich sollte wirklich schlafen gehen, wenn ich mich schon von einem Jogger so verunsichern lasse.

3

Als ich am frühen Nachmittag meinen PC ausschalte und das Büro verlasse, beschließe ich, mit Mila einen Abstecher bei Leonie zu machen. Wir wohnen nur wenige Kilometer voneinander entfernt, also lasse ich das Auto stehen und genieße den milden Frühsommerabend und gehe mit Mila los. Sie ist heute ziemlich schlapp, trottet lustlos neben mir her, schnüffelt hier und da, tollt aber nicht so ausgelassen umher wie sonst. Den Großteil des Weges gehen wir über einen Radweg und können ungefähr einen Kilometer vor unserem Ziel auf einen schattigen Waldweg abbiegen, der am Fluss entlangführt. Ich atme die warme Luft ein, genieße das Singen der Vögel und die Stille und muss das erste Mal seit gestern Abend nicht an Ben oder sonstige unangenehme Dinge denken. Schon kommt die Brücke in Sicht, die über den breiten Fluss führt und die wir überqueren müssen, um nach wenigen Minuten zum Wohnhaus zu kommen, in dem Leonie mit Nele eine Wohnung bewohnt, seit ihr Mann sie verlassen hat. Ich sehe schon das kleine Bänkchen, das einen wunderschönen Blick auf den Fluss bietet und ein Stück unterhalb des Weges neben der Brücke eine Ruhestätte für müde Wanderer und rastende Familien bietet. Auf der Brücke sitzt ein alter Mann. Ich sehe mich nach Mila um, die ein Stück abseits des Weges ins hohe Gras verschwunden ist und dort zu schnuppern beginnt. Ich kenne diese Art von aufgeregtem, unruhigen Schnuppern, die kleinen Schritte, die sie macht, um eine geeignete Stelle zu finden, und krame schon nach einer Tüte in meiner Hosentasche, um das, was Mila da am Wegesrand hinterlässt, pflichtschuldig aufzusammeln. Als ich wieder aufstehe, fällt mein Blick ans andere Flussufer und die Bank, vielmehr auf den Mann, der von der Bank aufgestanden ist und zu mir herüberzuschauen scheint. Ich erstarre. Vorhin hat mein Blick ihn nur gestreift, jetzt jedoch sehe ich genauer hin. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, die Haare auf meinen Armen stellen sich auf. Gleichzeitig bricht mir kalter Schweiß aus allen Poren und in meinen Ohren summt es. Ich kenne diesen Mann. Zuerst habe ich ihn nicht erkannt, weil er gut zwanzig Jahre älter aussieht, als ich es erwartet hätte. Aber je länger ich ihn anstarre, desto sicherer bin ich mir, dass er es ist. Sein Körperbau, seine Körperhaltung, das alles erkenne ich wieder und das alles reißt mir mit ungeahnter Brutalität die sorgsam und mühsam weggepackte Vergangenheit aus dem Unterbewusstsein nach oben. Er hat mich auch erkannt, das erkenne ich an der Art, wie er dasteht, ganz ruhig, ohne eine Regung, und wie er zu mir herübersieht. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber ich habe es vor meinen Augen, als stünde er nicht mehrere Meter entfernt, sondern direkt vor mir. In mir baut sich etwas auf, etwas Großes, Mächtiges, das in meiner Brust anschwillt und immer größer wird und durch meine Kehle nach draußen dringt. In dem Moment bricht im hohen Schilfgras am Ufer neben mir der Tumult los. Mila hat ihre Schlappheit wohl vergessen und stürzt sich laut kläffend und bellend ins hohe Schilf am Flussufer neben mir, wo sie eine Entenfamilie aufschreckt, die schimpfend und quakend in den Fluss flüchtet. Ein kleiner Schrei entfährt mir und ich zucke heftig zusammen. Ich bemerke, dass ich dringend auf die Toilette muss, ich habe das Gefühl, dass ich es kaum noch aufhalten kann, mir hier und jetzt in die Hose zu machen wie ein kleines Baby. Mein Blick, der kurz durch Mila abgelenkt war, schießt zurück zum anderen Flussufer und meine Augen huschen umher auf der Suche nach ihm. Ein schmerzhafter Stich fährt mir ins Genick, als ich hektisch den Kopf herumreiße, panisch die Brücke absuche. Ist er schon auf dem Weg zu mir? Kommt er? Mein Atem rast. Doch die Brücke ist leer. Wie irre fahre ich herum, drehe mich hektisch auf der Stelle und schaue um mich. In meinem Kopf habe ich die irre Idee, er könnte es irgendwie geschafft haben, hinter mich zu gelangen und sich mir nun unbemerkt von hinten nähern. Aber der Waldweg ist leer. Niemand ist hier, ich bin vollkommen allein. Mila hat die Jagd aufgegeben und kommt zu mir. Sie setzt sich neben mich, stupst meine zitternde Hand an. Langsam komme ich wieder zu mir. Ich merke, dass ich immer noch kurz und flach atme und dass mir dadurch langsam schwindelig wird. Ich muss mich beruhigen. Ich lasse mich auf den Boden sinken. Meine Beine, eben noch bereit, mich in irrsinniger Geschwindigkeit von hier wegzubringen, scheinen nun keine Kraft mehr zu besitzen. Ich knie auf dem Waldboden, spüre das Adrenalin aus meinem Körper verschwinden und bemerke, wie nur Müdigkeit zurückbleibt. Unkontrolliert beginne ich zu weinen, schluchze, mein ganzer Körper wird geschüttelt. Mila fiept laut und stupst mir immer wieder ins Gesicht. Nach einigen Minuten lässt das Weinen und das Zittern nach und ich kann mir die Augen abwischen und aufstehen. Was macht er hier? Er war es, ich bin mir völlig sicher! Aber wie kann das sein?

4

Als Nele die Tür öffnet, kann ich sehen, wie die Freude, mich zu sehen, in Entsetzen umschlägt. „Tante Emma, was ist los? Du siehst furchtbar aus!“ Mit großen Augen starrt sie mich an. „Ist was passiert?“ Ich winke ab, während ich an ihr vorbei in die Wohnung gehe. Mila hat nur ein müdes Schwanzwedeln für Nele übrig und lässt sich dann schwerfällig im Wohnzimmer auf den Teppich fallen. „Ist deine Mutter nicht da?“, frage ich meine Nichte. „Nee, die hat nen Anruf bekommen und ist dann voll hektisch abgedampft. Keine Ahnung, wo sie hin ist und wann sie wiederkommt.“ Ich lasse mich auf die Couch fallen. „Kannst du mir was zu trinken bringen bitte?“, frage ich kraftlos. Nele geht in die Küche und kommt mit einer Flasche Wasser und einem Glas zurück. Ich bin mir sicher, dass sie ihrer Mutter nicht so widerstandslos den Gefallen getan hätte, egal in welchem Zustand diese hier aufgetaucht wäre. Kurz überlege ich, ob ich jetzt gleich das versprochene Gespräch mit ihr suchen soll, aber ich habe einfach keine Kraft dazu. Ich bin einfach zu beschäftigt mit mir selbst und der Frage, was er hier gemacht hat. „Alles klar bei dir?“, frage ich also nur. Sie zuckt mit den Schultern. „Klar!“ Gedankenversunken füttert sie Mila mit Hundekeksen. Sie scheinen selbstgebacken zu sein, eine Leidenschaft von Leonie. Eigentlich ist Nele ein wirklich nettes, kluges und empathisches Mädchen. Wirklich schlimm, was die Pubertät mit einem macht, denke ich. Aber ich weiß auch, dass diese Phase vorbeigehen wird. Halbherzig wage ich doch einen Vorstoß. „Wie läuft’s denn so hier?“ Als Antwort schnaubt sie und lacht kurz auf. „Mama ist total durchgedreht. Die spinnt zur Zeit noch mehr rum als sonst.“ „Aber meinst du nicht, dass du es ihr auch nicht ganz leichtmachst?“, hake ich vorsichtig nach. „Nee, also mit mir hat das nix zu tun! Echt nicht!“ Irgendetwas in ihren Augen sagt mir, dass sie die Wahrheit sagt. Ich erkenne den Ausdruck darin wieder. Ich habe ihn selbst oft genug im Spiegel gesehen, als ich in Neles Alter war. Darin liegt eine unendliche Trauer, eine Sehnsucht nach etwas und gleichzeitig eine grenzenlose Verzweiflung. Dieser Ausdruck lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen und eine tiefe Welle Mitleid erfasst mich. Leonie und ich haben uns immer geschworen, dass wir alles daransetzen würden, unseren Kindern diesen Blick zu ersparen. Nele senkt den Blick auf ihre Hände und knibbelt an ihren Fingernägeln herum. „Seit sie Opa hergeholt hat, ist alles noch schlimmer geworden. Sie ist einfach nicht mehr sie selber. Sie weint viel, wenn sie denkt, ich kann sie nicht hören und sie ist so zerstreut. Und immer wütend. Egal was ich mache, sie ist so wütend!“ Erneut rinnt mir ein kalter Schauer den Rücken hinab, aber nicht wegen dem tiefen Mitleid, das ich für meine Nichte empfinde. Es ist das, was sie gesagt hat, was alles andere nebensächlich erscheinen lässt. Seit sie Opa hergeholt hat… „Sie hat Opa hergeholt?“ Mehr als ein Flüstern bringe ich nicht zustande. Nele schaut von ihrem ramponierten Nagellack auf. „In der Klapse konnte er nicht bleiben. Da hat sie ihn in das Pflegeheim hier im Ort geholt.“ Als ich ihn vorhin gesehen habe, hat mein Körper sofort in den Fluchtmodus geschalten. Jetzt hingegen bin ich völlig klar. Mein Denken scheint um ein Vielfaches geschärft. Ich habe mich nicht getäuscht, denke ich. Mein Vater ist wieder da.

5

Langsam stehe ich auf. Ich muss hier weg. „Nele, entschuldige mich, ich muss los. Mila, komm!“ Mila hebt müde den Kopf, sie scheint immer schlapper zu werden. Als sie sieht, wie ich zu Tür gehe, steht sie schnaufend auf und trottet mir nach. Ich möchte gerade die Wohnungstür öffnen und nach draußen gehen, als ich am Rand meines Blickfelds etwas wahrnehme. Auf der Kommode neben der Garderobe leuchtet ein Display auf. Leonies Handy! Sie muss es vergessen haben. Jemand hat ihr ein Foto geschickt, auf der Schnellanzeige auf dem Display ist es zu sehen. Etwas daran kommt mir bekannt vor, so bekannt, dass ich einen Schritt nach vorn mache, ohne es bewusst zu bemerken. Ich nehme das Handy in die Hand. Ich habe mich nicht getäuscht. Ich kenne es. Zwei Personen sind darauf zu sehen, ein Mann und eine Frau. Er hat einen Arm um ihre Schulter gelegt und hat ihr sein Gesicht zugewandt, sein Gesichtsausdruck hat etwas Tröstendes. Sie starrt geradeaus auf ein Gebäude, das nur im Ansatz zu erkennen ist. Das Foto scheint aus geringer Distanz aufgenommen zu sein, aber ein karger Busch scheint zwischen dem Fotografierenden und den beiden Personen auf dem Foto zu sein, denn die untere Bildhälfte wird von Zweigen umrahmt. Der Mann spricht ermutigend auf die Frau ein und versucht sie zu überreden, in das Gebäude zu gehen. Das weiß ich, denn die Frau auf dem Foto bin ich. Der Mann auf dem Foto – und der Absender, wie ich plötzlich wahrnehme – ist Ben.

6

Ich tippe auf das Foto in der Schnellanzeige und sofort öffnet es sich in der Messenger-App, über die das Foto verschickt wurde. Unter dem Foto steht: „Was soll das, Leonie? Wir waren glücklich, bis du angefangen hast, dich einzumischen. Ich passe auf sie auf, habe immer ein Auge auf sie! Sie braucht dich nicht mehr, sie hat mich – also lass uns in Ruhe!“ Was soll das alles? Ich verstehe das einfach nicht! Woher kommt das Foto? Und was meint Ben damit, dass er immer auf mich aufpasst. Wir haben uns seit Tagen nicht gesehen, seit ich ihm gesagt habe, dass wir nicht mehr zusammen sein können. Moment mal – stimmt das? Mich beschleicht ein seltsames Gefühl, als ich an den Jogger von gestern Abend denke.

Würde er soweit gehen und mir auflauern, mich bespitzeln und nachts vor meinem Haus herumlungern? Ben hat einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, das stimmt, aber würde er so weit gehen? In meinem Kopf kreisen die Gedanken. Papa – Ben – Leonie – das Foto. Wieso hat sie Papa nach Hause geholt? Sie hat mir geschworen, ihn von mir fernzuhalten. Und wieso schickt Ben Leonie dieses Foto? Wer hat es aufgenommen? Was soll das alles? Ich weiß natürlich genau, wo es aufgenommen wurde. Vor einem Zentrum für Psychiatrie, vor der „Klapse“, wie Nele es so schön ausgedrückt hat. Ben wollte mich überreden, mit meiner Vergangenheit abzuschließen, damit wir alle unseren Frieden damit finden können. Er hat mich begleitet, mich unterstützt, mir den Rücken gestärkt. Hineingehen konnte ich trotzdem nicht. Und hinterher konnte ich ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich habe Ben wirklich geliebt. Ich liebe ihn immer noch. Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, erst meine Gegenwart, dann meine Vergangenheit vor anderen Menschen zu verbergen, zu verstecken und sie zu verschweigen. Bei Ben hat das alles plötzlich nicht mehr funktioniert. Meine sorgsam verpackte Vergangenheit war plötzlich wieder untrennbar mit der Gegenwart verbunden – mit Ben verbunden. Nassgeschwitzt und außer Atem komme ich zu Hause an. Wer mich sieht, muss denken, ich sei auf der Flucht. Was in gewisser Weise auch stimmt. Ich fliehe vor meiner Vergangenheit. Ich fliehe vor meinem Vater. Wie schon mein ganzes Leben. Wird das jemals aufhören? Werde ich jemals die Person sein können, die ich sein will, oder wird er mich immer wieder einholen und mich zu dieser Person machen? Mila kommt nach mir ins Haus getrottet und als ich sie zum ersten Mal seit meiner Flucht aus der Wohnung meiner Schwester ansehe, erschrecke ich. Es ist, als würde ich nach einer durchtanzten Nacht in einem Club an die frische Luft treten und plötzlich wieder völlig klar sehen können. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Ihr Atem geht stoßweise, ihre Brust hebt und senkt sich schwer, Schaum steht ihr vor dem Maul. Sie hat sich sofort auf den Teppich vor der Couch fallenlassen und ich beuge mich nun vorsichtig zu ihr hinunter. In diesem Moment sind alle anderen Gedanken wie weggeblasen und tiefe Reue überflutet mich. Dieses Rätsel wird sich lösen, ich werde einfach Leonie anrufen und sie fragen, was das alles zu bedeuten hat. Mein völlig kopfloses Weglaufen hat gar nichts gebracht – und die sowieso schon schwache Mila ans Ende ihrer Kräfte getrieben. Wieso hatte ich mich nicht mehr zusammenreißen können? „Baby, was ist los mit dir?“, sage ich leise, während ich über ihren Körper streiche. Ihr weiches Fell fühlt sich heiß an unter meiner Hand, ihre Augen sind geschlossen. Vorsichtig hebe ich ihre Lefze an, um mir ihr Zahnfleisch anzuschauen – beim Hund ein eindeutiger Indikator für den Gesundheitszustand. Geht es dem Hund gut, hat er rosiges Zahnfleisch, das sich auch schnell wieder rosig färbt, wenn man leichten Druck darauf ausübt. Milas Zahnfleisch ist weiß – so etwas habe ich noch nie gesehen! Tränen schießen mir in die Augen. Mila ist nicht nur schlapp, sie ist ernsthaft krank. Und während ich dasitze und nicht weiß, was ich tun soll, geht ihr Atem immer flacher.

7

Ich sitze in meinem Auto und starre meine Hauswand an. Ich habe nicht die Kraft, auszusteigen. Ich habe Mila in die Tierklinik gebracht – Vergiftung. Ich mache mir schlimme Vorwürfe. Ich hätte bemerken müssen, wie sie irgendwo etwas aufgenommen hat – habe ich aber nicht. Ich war so beschäftigt mit mir selbst. Jetzt musste ich in dieser Klinik sitzen und dabei zusehen, wie das Wesen, das mir alles bedeutet, langsam vor meinen Augen verschwindet. Ich musste zusehen, wie sie ihm Nadeln in die Beinchen stechen und musste fühlen, wie sie in meinen Armen ganz schwach wurde, als die Narkose wirkte. Ich musste dastehen und zusehen, wie sie mein Leben mit sich nehmen, um ihm den Magen auszupumpen. Ich musste dort sitzen und warten, bis sie zu mir kamen und mir sagten, dass sie die Operation überstanden hat. Ich musste in mein Auto steigen und sie dort zurücklassen. Und jetzt sitze ich hier und kann nicht aussteigen. Was heute passiert ist, ist mir völlig egal. Ich will nur Mila zurück. Irgendwann schaffe ich es, auszusteigen und ins Haus zu gehen. Ich schleppe mich durch den dunklen Flur und ins dunkle Wohnzimmer, wo ich das Licht anschalte. Ich fahre heftig zusammen, als ich höre, wie mich jemand von meinem Sofa aus begrüßt. „Hallo, Emma, wie geht’s Mila?“

8

„Großer Gott, Leonie, hast du mich erschreckt.“ Ich habe nicht die Kraft, mich darüber zu ärgern, dass sie den Notfall-Schlüssel missbraucht hat, um mich fast zu Tode zu erschrecken. Ich bin zu müde, um zu diskutieren. Aber ich will endlich Antworten haben. „Was ist hier los, Leonie? Und wieso schickt Ben dir Bilder von uns?“ Würde ein Unbeteiligter dieses Gespräch mit anhören, würde er vielleicht denken, ich sei völlig unbeteiligt an der Situation, so emotionslos klingt meine Stimme. In mir toben so viele Gefühle, dass es keines endgültig schafft, nach außen zu dringen. Meine Stimme wird immer leiser, kraftloser. „Wieso hast du Papa hergeholt? Du hast mir versprochen, dass ich ihn nie wiedersehen muss.“ Der Vorwurf in meiner Stimme ist kaum zu hören, die Enttäuschung ist viel zu groß. Wieso hat sie mich im Stich gelassen? Wir gehören zusammen, untrennbar! Als Leonie mir antwortet, steht nichts als Hass in ihren Augen. „Ach, plötzlich möchte Madame also in Entscheidungen einbezogen werden? Ich sag dir mal was: Schon mein ganzes Leben lang reiße ich mir den Arsch auf und fege hinter ihm die Scherben zusammen. Seit Jahren versuche ich dich von ihm fernzuhalten. Ich kümmere mich um alles, ich spreche mit Ärzten und fahre ihn zu Untersuchungen. Und jetzt möchtest du plötzlich, dass ich dich an Entscheidungen beteilige? Du bist so falsch. Du hast dein Leben gelebt, bist studieren gegangen und hast dich ausgetobt und verdienst jetzt Kohle bis zum Abwinken. Schau dich doch um, wie du lebst! Und dann schau dir an, wessen Leben er wirklich kaputtgemacht hat. Mein Mann hat mich verlassen. Ich bin zu gestresst, sagt er, kümmere mich nur noch um meinen Vater. Ich werde wahrscheinlich gekündigt, weil ich einmal zu oft von der Arbeit wegmusste, um Papa wieder irgendwo zu suchen und ihn aus dem nächsten Straßengraben zu fischen. Ich habe nie genug Kohle, weil die ganzen beschissenen Behandlungen und Unterbringungskosten ein Vermögen kosten! Dich hat er vielleicht mal angefasst, buhu! Aber mein Leben hat er zerstört, er zerstört es bis heute jeden verdammten Tag! Und du tust jeden Tag so, als würde er dich nichts angehen. Du spielst die knallharte Karrierefrau, die selbst ihren supergeilen Typen in die Wüste schickt, wenn er ihr mal nicht passt. Aber das bist du nicht. Du bist genau wie ich ein Mädchen, das aus der Gosse kommt. Du spielst allen etwas vor! Aber mir kannst du nichts vormachen. Ich weiß, wer du wirklich bist.“ Während ihrer kleinen Rede ist sie aufgestanden und ganz nah an mich herangetreten. Ich spüre ihren Atem im Gesicht, als sie mir ihren ganzen Hass entgegenschleudert. „Bist du fertig?“, frage ich. Ich darf unmöglich zulassen, dass sie bemerkt, wie sehr mich ihre Worte treffen. Ich kenne meine Schwester, ich weiß, dass sie die Worte schon in wenigen Augenblicken bereuen wird. Genauso wie ihre haltlosen Vorwürfe. Sie weiß, dass ich hart gearbeitet habe für den Erfolg und dass ich mich hoch verschuldet habe für dieses Leben. Im Grunde hat sie recht, denke ich traurig. Im Grunde spiele ich allen nur etwas vor. „Du wärst ohne mich gar nicht lebensfähig, Emma! Du bist nichts ohne mich! Dein ganzes Leben konntest du so nur aufbauen, weil ich dir den Rücken freigehalten habe! Aber damit ist jetzt Schluss. Hoffentlich merkst du jetzt, wie es ist, plötzlich völlig allein dazustehen!“ Zum ersten Mal schafft es eine Emotion, die Oberhand zu gewinnen. Denn plötzlich verstehe ich, was sie getan hat, wie weit sie gegangen ist, um mir einen Denkzettel zu verpassen. Ich habe plötzlich das Bild vor Augen, wie sie auf dem Boden kniet und Mila begrüßt. Ich sehe Nele, die Mila gedankenverloren Hundekekse zusteckt. Hundekekse, die Leonie gebacken hat. Leonie dreht sich von mir weg, schlingt die Arme um den Körper, als müsste sie verhindern, dass sie nicht auseinanderfällt. Ich weiß, dass sie Mila genauso liebt wie ich. Von einem Hund haben wir beide immer wieder geträumt. Und Papa hat uns immer einen versprochen, danach, wenn er geweint und sich entschuldigt hat und wenn er versprochen hat, dass das nie wieder vorkommt. Natürlich ist es wieder vorgekommen, immer und immer wieder und genauso wie er das Versprechen gebrochen hat, hat er auch das mit dem Hund gebrochen. „Ich musste dir einfach zeigen, wie zerbrechlich deine kleine Welt ist. Dass sie nicht selbstverständlich ist. Ich habe euch gesehen, als ihr vor der Klinik wart. Ich war so wütend auf dich. Mich hast du jahrelang damit alleingelassen, aber mit Ben fährst du hin? Was ist anders an ihm als an mir? Ich bin so wütend auf dich gewesen, Emma! Du hast mich alleingelassen, verraten.“ Während sie spricht, laufen ihr Tränen über die Wangen. Ihre Wimperntusche läuft in dicken Schlieren über ihr Gesicht. Plötzlich habe ich Mitleid mit ihr. „Leonie, deshalb habe ich mich von Ben getrennt. Wenn ich hineingegangen wäre, hätte ich ihm danach alles erzählen müssen. Das konnte ich nicht! Woher hatte er denn aber das Foto?“ „Ich habe es ihm anonym geschickt!“ Trotzig schiebt sie ihr Kinn vor. „Ich wollte ihm Angst einjagen, dass er dich in Ruhe lässt. Dass es wird wie früher. Nur du und ich.“ Ihr Blick fleht mich an, sie zu verstehen. „Was hast du mit Mila gemacht, Leonie? Du bist wütend auf mich, nicht auf sie. Sie hat dir nichts getan.“ Alle Kraft, aller Hass, alle Emotion, die sie aufrecht gehalten hatte, scheint aus ihr zu weichen. Sie lässt sich aufs Sofa fallen, stützt die Ellbogen auf die Knie und verbirgt ihr Gesicht in ihren Händen. „Ich wollte ihr nichts Ernsthaftes tun. Ich wollte dir nur einen Schrecken einjagen, dir zeigen, wie zerbrechlich deine Traumwelt ist. Ich hätte nie gedacht, dass die Hundekekse so schädlich sein könnten. Ich wollte ihr nur ab und zu einen zustecken, aber Nele hat ihr vorhin wohl so viele gegeben. Ich musste los, Papa war wieder abgehauen und ich musste ihn suchen. Sie wusste nicht, dass es keine guten Kekse sind.“ Ich kann nicht anders – ich habe Mitleid mit ihr. Wie sie so dasitzt, völlig fertig. Meine arme, arme Schwester. Ich dachte immer, ich hätte besonders unter allem gelitten. Plötzlich sehe ich klar. Sie hat alles verloren. Ich habe sie im Stich gelassen. Der wahre Feind ist er. Ich habe zugelassen, dass er sie genauso zerstört wie mich. Wir beide haben nur uns. Niemand anderes wird uns je verstehen. Wir brauchen uns. Und ich merke mit einem Mal, dass er niemals meine Vergangenheit sein kann, solange er dort draußen herumspaziert und viel zu langsam stirbt. Solange er lebt, wird er meine, wird er unsere Gegenwart sein. Wir werden keine Ruhe finden. Jetzt hat er es fast geschafft, uns voneinander zu trennen. Wo wir doch immer unzertrennlich waren. Wie gut, dass ich nun klarsehe. Ich lasse mich zu Leonie aufs Sofa sinken und lege einen Arm um sie. Leonie schluchzt laut auf, aus ihrem Inneren bricht plötzlich ein Schrei hervor, wie ich ihn noch nie bei einem lebendigen Wesen gehört habe. Nun ist es an der Zeit, die Rollen zu tauschen. Jetzt muss ich einmal die Taschenlampe sein. Ich schließe sie fest in die Arme, übe so viel Druck wie möglich auf ihren zitternden und bebenden und schreienden Körper aus, wie ich kann.

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Ich lasse mich neben Leonie ins Auto fallen. „Vergangenheit!“, sage ich leise, aber fest. „Jetzt beginnt die Gegenwart.“ Ich wische meine Hand an meiner Jeans ab, als wir vom Parkplatz des Pflegeheims fahren. Langsam bröseln die letzten Rückstände der Schlaftabletten von meinen schwitzigen Handflächen und rieseln in den Fußraum des Autos.

2 thoughts on “Vergangenheit

  1. Hallo Tamara

    Ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen.

    Und ich lasse dir sehr gerne ein Like da.

    Deine Geschichte war spannend und durchdacht.
    Schade, dass du erst so wenige Herzen hast.

    Du musst definitiv noch mehr Likes bekommen.
    Und mehr Werbung für deine großartige Geschichte machen.

    Dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.

    Sie heißt:
    ” Die silberne Katze”

    Vielen Dank.
    Swen

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