KristinaVergangenheit ist Gegenwart

Endlich ist es soweit. Endlich habe ich ein eigenes Haus mit Garten. Hier lassen sich meine letzten Jahre bestimmt in Ruhe verbringen. Das Haus ist zwar recht klein und auch etwas in die Jahre gekommen, aber als pensionierter Lehrer hat man ja jetzt Zeit.
Auch der Garten erscheint etwas ungepflegt und gleicht auf den zweiten Blick eher einem Urwald. Einige zu groß gewachsene Bäume versperren den Blick auf das Häuschen, welches etwas zurückgestellt auf dem Grundstück platziert ist. Jede Seite ist mit Buchsbaumhecken, welche unbedingt einen Schnitt bräuchten, versehen. Außerdem sprießen überall diverse andere Unkräuter oder Büsche. Der Briefkasten, der an dem verwahrlosten grünen Tor mit Draht angebracht ist, sieht auch mittlerweile Antik aus. Selbst zwischen den Treppenstufen, die zum Haus führen, befinden sich blühende und auch schon verwelkte Blumen.
Auf der Klingel steht sogar noch der Name der Vorbesitzerin: Kaletsch. Ein merkwürdiger Name für dieses kleine Nest, wo ich gelandet bin. Die alte Dame ist wohl schon seit einiger Zeit verstorben, allerdings hat ihre Tochter diesbezüglich nichts erwähnt. Jedoch interessieren mich die Details der alten Dame nicht und gehen mich auch eigentlich nichts an. Das Haus war günstig zu erwerben, das ist doch was zählt. Der Zustand ist natürlich dementsprechend nicht überragend, aber mit ein bisschen Arbeit wird das ein schönes Plätzchen, wo man ungestört seine Zeit verbringen kann. Da das Haus auch nur zu einer Seite an ein anderes Grundstück mit Haus grenzt und lediglich ein schmaler Weg an der gegenüberliegenden Seite zur eigentlichen Straße verläuft, werde ich hier bestimmt auch von neugierigen Blicken und Tratsch-Geschichten verschont bleiben. Das ist mir gerade recht.
Das Innere des Hauses ist überschaubar. Es gibt einen kleinen Eingangsbereich mit angrenzendem Gäste-WC, dahinter erstreckt sich direkt der verhältnismäßig großzügige Wohnbereich mit halboffener Küche und Zugang zur Terrasse. Auf der anderen Seite des Wohnbereichs führt eine alte Holztreppe nach oben. Dort befinden sich ein Bad und das einzige Schlafzimmer des Hauses. Für mich als alleinstehender Mann ideal. Frau und Kinder sind mir zum Glück erspart geblieben.
So, genug Zeit verschwendet. Ein Umzug in ein neues Leben, ohne finstere Blicke der Nachbarn, organisiert sich nicht von alleine.

Nachdem die Umzugsfirma endlich meine wenigen Möbel und den Rest meiner Umzugskartons geliefert hat, kann ich mich nun offiziell ummelden. Ein schönes Gefühl. Sobald ich mich eingerichtet habe, werde ich mich um das alte Klingelschild und den verwahrlosten Briefkasten kümmern. Gerd Schlincke. Mit meinem Namen sieht das doch gleich besser aus. Die kommenden Tage werde ich mich dann noch dem Garten annehmen.

Die erste Nacht in meinem neuen Haus war nicht besonders erholsam. Abends herrscht hier wirklich eine gespenstische Stille, welche nur durch den ungewohnten Klang der Kirchenglocke zu jeder halben Stunde unterbrochen wird. Geweckt wurde ich von einem krähenden Hahn auf dem Wiesengrundstück nebenan. Da durch das rege Vogelgezwitscher an schlafen nicht mehr zu denken ist, schlürfe ich in die Küche und koche Kaffee.
Die letzten Umzugskartons räume ich nach dem spärlichen Frühstück aus. Bücher finden ihren Platz wieder in den Regalen, verschiedene Büroartikel kann ich wieder in meinem Schreibtisch und Aktenschränken unterbringen und, zu guter Letzt, hänge ich ein paar Fotos und Bilder an die Wände. Selbst ein Foto von meiner Mutter findet Platz zwischen meinem erst kürzlich verstorbenen Hund „Spencer“ und einem Klassenfoto meiner letzten Grundschulklasse. Wahrscheinlich würde sie mir, wenn sie noch leben würde, ungebetene Ratschläge geben oder Vorwürfe machen, warum die Anordnung und Auswahl der Fotos eine Katastrophe seien sowie warum ich in meinem Leben so versagt hätte; zumal ich, trotz meiner Begeisterung für Fotografie, sowieso keine Ahnung davon hätte und ich selbst als Hobby-Fotograf eine Blamage für die Familie sei.
Es ist faszinierend, dass allein durch das Betrachten ihres Fotos immer noch eine so negative Stimmung in mir ausgelöst wird. Genug über diese Frau nachgedacht! Jetzt werde ich mich lieber mal aktuellen Themen zuwenden. Beim Gang zum Briefkasten schweift mein Blick über das Dorf, welches jetzt meine neue Heimat ist, und meine Stimmung hellt sich wieder auf. In der Hoffnung in diesem runtergekommenen Ding eine Zeitung zu finden, öffne ich den Briefkasten. Zu meiner Überraschung ist dort jedoch keine Zeitung zu finden, sondern ein Handy. Sogar eins von diesen neumodischen Dingern. Ich nehme es vorsichtig aus dem ollen Briefkasten, schaue mich um, da sich womöglich jemand einen Scherz erlaubt und trotte, mit gerunzelter Stirn und dem Handy in der Hand, ins Haus zurück. Am Küchentisch sitzend inspiziere ich das Smartphone. Es wirkt noch nicht sehr alt, aber der Bildschirm wurde wohl schon in Mitleidenschaft gezogen. Nachdem ich auf einen Knopf gedrückt habe, geht es sogar an. „Hallo, du Arschloch“, steht da. Ich bin irritiert. Beim zweiten Blick kommt mir das Hintergrundbild allerdings bekannt vor. Doch nach kurzem Überlegen komme ich zu dem Entschluss, dass es unmöglich eins meiner selbstgeschossenen Fotos vom Wäldchen nahe des Silbersees gewesen sein kann. Oder doch? Ich wische mit meinem Zeigefinger über den Bildschirm, ein neues Bild erscheint. Dieses sieht jedoch nach einer ganz normalen Benutzeroberfläche aus. Abgesehen von den fest verankerten Standard-Apps am unteren Bildschirmrand, befindet sich eine App nahezu einladend in der Mitte des Displays. Ich tippe sie an und die „Galerie“ öffnet sich. Ich staune nicht schlecht, als ich schon wieder angesprochen werde. „Ich weiß was du getan hast.“ Im Hintergrund dieses Textes ist erneut ein Foto vom Wäldchen am Silbersee zu sehen.
Es war damals ein herrlicher Schulausflug, das Wetter war hervorragend und ich hatte selbstverständlich meine Kamera dabei. Mit dieser hatte ich dort auch Fotos gemacht; die Fotos, die sich jetzt auf diesem Smartphone befinden. Ich wische mich nun, immer noch erschrocken, durch die Bilder. Es kommen zunächst noch einige Seebilder, aber dann taucht ein Foto von mir in meiner alten Küche auf. Das nächste Foto zeigt mich im Bad beim Zähneputzen. Das nächste als ich im Schlafzimmer den Rollladen runterlasse. Geschockt lasse ich das Handy sinken. Die Fotos sind bestimmt fast zehn Jahre alt! Was soll denn der Unfug? Und was soll die stille Drohung „Ich weiß was du getan hast!“? Als ob Fehler aus der Vergangenheit heute noch eine Rolle spielen. Fehler macht außerdem jeder, das ist menschlich. Trotzdem werfen mich die Fotos in die Vergangenheit zurück. Es fühlt sich an, als durchlebte ich die letzten zehn Jahre erneut. Mal bin ich während meines Alltags zu sehen, mal einige meiner geliebten Landschaftsaufnahmen und auch sehr tolle Schulaufnahmen sind dabei.
Obwohl mir das alles sehr rätselhaft vorkommt, spüre ich, wie sich Erregung in mir breitmacht. Die Kinder wirken so unschuldig und rein. Ein sehr schöner Anblick… Auch einige meiner Lieblingsschüler sind auf den Fotos zu sehen. Paula, die Musik und Tanzen liebte. So ein liebes Mädchen. Leon, der nie ruhig sitzen konnte, aber im Sportunterricht immer sehr gute Leistungen ablieferte. Im Schwimmunterricht war er meistens als Erster im Wasser. Ein hübscher Knabe. Auch Julian war für mich etwas Besonderes. Der arme Junge kam aus einem schwierigen Elternhaus. Es benötigte besonders viel Einfühlungsvermögen und Geduld ihm zu zeigen, dass auch andere Erwachsene ihn lieben und er für sie etwas Besonderes ist. Die Schulzeit mit ihm habe ich sehr genossen. So ein sensibler Junge. Mit dem Ende der Bilderfolge gelingt es mir die berauschenden Erinnerungen wieder beiseite zu schieben. Mein erigiertes Glied schmerzt in der Hose. Wie stark doch Erinnerungen sein können. Plötzlich vibriert das Handy. Eine SMS ist eingegangen. Ich öffne sie. „Du kannst deine Identität nicht verstecken! Die Beule in deiner Hose sagt alles.“ Ich drehe mich um und schaue aus den Fenstern; ich fühle mich ertappt. Wenigstens ist jetzt meine Erektion nicht mehr zu spüren. Ein erneutes Piepen des Handys lenkt meine Aufmerksamkeit von meinem Körper zurück zu dem Smartphone in meiner Hand. Wieder eine SMS „Bald weiß jeder wer du wirklich bist“. Meine aufsteigende Nervosität kann ich leider nicht recht unterdrücken, aber dennoch gehe ich auf die Terrasse und schaue mich um. Niemand zu sehen.
Auf einmal höre ich ein freundliches „Guten Tag!“ hinter mir. Ich poltere los, was der Blödsinn zu bedeuten habe und dass er mich in Ruhe lassen solle. Aber während ich die Worte meinem gegenüber entgegen spucke, fällt mir auf, dass es ein älterer Dorfbewohner der Hauptstraße ist. Ich schiebe schnell eine Entschuldigung hinterher. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Sie wirken etwas durch den Wind?“ „Ja, ja, alles gut. Schönen Tag noch.“ sage ich schnell und verschwinde wieder im Haus. Nach einer frischen Tasse schwarzem Kaffee fühle ich mich wieder geerdet. Endlich kann ich mit der Gartenarbeit anfangen. Während ich vor dem Haus den Buchsbäumen zu Leibe rücke, höre ich in Terrassennähe ein fürchterliches Quieken. Als ich nachschaue, finde ich zu meinem Entsetzen eine Ratte mit Kabelbindern an einen kleinen Lorbeerbaum festgebunden. Das Tier versucht sich verzweifelt aus der Schlinge zu befreien. Ein weiterer Kabelbinder hängt an dem Beinchen des Tiers und fixiert einen Zettel. Ich versuche noch der Ratte noch zu helfen, aber sie verliert ihren Todeskampf. Ich schneide die Ratte vom Baum los und entferne auch den Zettel. Es liegt nahe, dass dieser für mich bestimmt ist. Der Inhalt des Zettels ist überschaubar „Jeder in deiner Gewalt fühlt sich wie diese Ratte, der Unterschied liegt in der Länge des Kampfes bis der erlösende Tod eintritt.“ Ich zerknülle den Zettel in meiner Hand. Irgendjemand erlaubt sich wohl heute einen Scherz! Nachdem ich den Kadaver in der Mülltonne entsorgt habe, mache ich mich wieder an die Arbeit. Die Zeit vergeht schnell. Als ich mit den Buchsbäumen fertig bin, beschließe ich noch Einkaufen zu fahren.

Auf der Heimfahrt freue ich mich schon auf ein leckeres Abendessen mit einem Gläschen Wein. Während ich durch das kleine Dorf fahre, habe ich den Eindruck, dass mich einige Dorfbewohner argwöhnisch anschauen. So ist das wohl „der Neue“ im Dorf zu sein. Zuhause angekommen, muss ich mit Entsetzen feststellen, dass an meiner Haustür ein Bild meiner Spezialkamera hängt. Niemand hat Zugang zu diesen Bildern. Das Bild zeigt eine ehemalige Schülerin von mir, welche ich wirklich mochte. Sie hat mir gezeigt wie hoch sie schaukeln kann; dass ich ihr unter ihr Kleidchen fotografieren konnte, interessierte sie natürlich nicht. Ich reiße das Bild von der Tür, niemand soll es sehen. In der Küche bemerke ich noch einen weiteren Zettel. Dieser ist an der Terrassentür befestigt. „Hier wohnt ein Kinderschänder“ steht dort geschrieben. Panisch reiße ich auch diesen Zettel ab und sehe mich um. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich bin verunsichert und gehe wieder ins Haus.
Durch Kochen versuche ich mich auf andere Gedanken zu bringen. Plötzlich klingelt das gefundene Handy. Der Klingelton ist schrill und laut. Hat etwas von Schreien. Mit zitternden Händen und brüchiger Stimme nehme ich den Anruf entgegen. Am anderen Ende der Leitung ist ein Knistern und Knacken zu hören, aber keine Stimme. „Was soll denn das? Lassen Sie mich in Ruhe!“ krächze ich in den Apparat. Es ist nur ein höhnisches Lachen zu vernehmen und dann ist die Leitung wieder tot. Die Nummer des Anrufers war unterdrückt, keine Chance den Anrufer ausfindig zu machen. Ich lege das Handy wieder zur Seite und mache mir jetzt schon die Flasche Wein auf. Nach einem großen Schluck konzentriere ich mich wieder aufs Kochen. Das Gemüse und die Nudeln sind schon gar, fast schon etwas verkocht. Das Fleisch hingegen kann noch einige Minuten vertragen.
Ein lauter Knall im Obergeschoss lässt mich zusammenfahren. Mit Schweißperlen auf der Stirn mache ich mich auf den Weg nach oben, um nachzusehen was dort vor sich geht. Zu meinem Erstaunen finde ich nichts. Doch plötzlich wieder dieses Geräusch. Erschreckt drehe ich mich zum Fenster um und stelle fest, dass es zugeschlagen ist. Ich hatte es heute Morgen wohl vergessen zu schließen. Jetzt bin ich schon total paranoid. Kopfschüttelnd schmunzle ich in mich hinein.
Auf einmal höre ich einen Alarm. Mit weit aufgerissenen Augen mache ich mich halb rennend auf den Weg nach unten. Der Rauchmelder in der Küche schlägt Alarm. Aus der Pfanne mit dem Fleisch steigt dicker Qualm auf. Ich reiße sie vom Herd und bringe sie auf die Terrasse. Nachdem ich den Rauchmelder ausgeschaltet habe und der Dunst meine Küche verlassen hat, esse ich endlich zu Abend. Leider gibt es nur Nudeln mit Gemüse. Immerhin ist auch noch eine halbe Flasche Wein übrig, woraus ich mir das nächste Glas einschenke. So habe ich mir den Start in ein neues Leben nicht vorgestellt. Mit der Dämmerung kommt auch wieder diese ungewohnte Stille im Dorf. Selbst auf der Hauptstraße, die nicht weit von meinem Häuschen entfernt ist, sind keine Motorengeräusche zu vernehmen. In meinem Innersten regt sich etwas, als ich so dasitze und in die Dämmerung schaue. Irgendwie zieht mich das gefundene Handy magisch an. Ich nehme das Smartphone in die Hand und entsperre den Bildschirm. Erneut schaue ich mir die Bilder der Galerie an. Ein aufgeregtes Prickeln zieht sich durch meinen Körper. Als ich bemerke was ich gerade tue, stehe ich auf und schüttle mich. Angetrunken mache ich eine Runde durchs Haus und lasse überall die Rollläden herunter. Anschließend hole ich einen Karton aus meinem Aktenschrank. Ich hatte eigentlich gehofft, dass ich diese Kiste nie wieder hervorkrame, da meine alte Identität in diesem Karton schlummert.

In dem Karton befinden sich hauptsächlich Fotos von meiner Spezialkamera. Auf den Fotos sind ehemalige Schüler und Kinder auf Spielplätzen zu sehen. Weiter unten werden die Fotos aufregender. Ich mache mir es mit dem letzten Rest Rotwein auf dem Sofa gemütlich und durchstöbere meine Spezialkiste. Die aufsteigende Lust in mir lässt mich immer tiefer in dem Karton nach Fotos wühlen. Die Fotos von meinen Nachhilfeschülern lassen meine Lust zu einem Feuersturm heranwachsen. Den schwierigen Kinderlein, mit denen ich so viel Zeit zu zweit verbracht habe, sind mir besonders ans Herz gewachsen. Meine Lust und Fantasie ist unaufhaltsam. Meine Hand gleitet in meine Hose und übernimmt den Rest. Ich komme nach kürzester Zeit und schlafe anschließend auf dem Sofa ein.
Am nächsten Morgen wache ich etwas benommen auf. Mein Kopf dröhnt, ich hatte wohl definitiv zu viel Wein gestern. Ich quäle mich vom Sofa hoch und mache Kaffee. Jetzt wo ich nüchtern bin, lasse ich den vergangenen Abend Revue passieren. Erschrocken über mich selbst, schaue ich auf die verteilten Fotos auf dem Couchtisch. So habe ich mir meinen Neuanfang nicht vorgestellt. Eigentlich sollte diese Seite von mir nicht wieder hervorkommen. So ein Mist! Ich werde durch eine Vibration auf dem Küchentisch aus meinem Selbsthass gerissen. Eine SMS ist eingegangen. „Einmal pädophil, immer pädophil!“ Wer auch immer das am anderen Ende ist, er muss mich irgendwie von Früher kennen. „Du kannst nicht vor dir selbst davonlaufen! Steh doch zu deinen widerlichen Neigungen! Wie du gestern Abend gesehen hast, kannst du die nicht unterdrücken. Was glaubst du, was die Dorfbewohner mit dir anstellen, wenn sie dich RICHTIG kennenlernen?“ Unsicher lasse ich das Handy sinken. Irgendwie muss die Person mich beobachten, aber das war doch gestern eigentlich unmöglich. Alle Rollläden waren doch unten.
Plötzlich klingelt es an der Tür. Ich öffne, aber niemand ist zu sehen. Ein kleines in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen liegt auf meiner Fußmatte. Ich ahne schon von wem es kommt. Langsam macht sich wieder etwas Wut in mir breit. Diese Person spioniert mir hinterher und will mich in die Irre führen. Ich nehme das Päckchen mit rein, aber lege es sofort in eine Ecke. Ich habe kein Interesse daran, mich selbst fertig zu machen! Das gefundene Handy klingelt kurze Zeit später. Zu neugierig, um es zu ignorieren, schaue ich drauf. Eine weitere Nachricht ist eingegangen „Guck dir ruhig an, was bald alle über dich wissen werden!“ Mein Blick wandert zu dem Päckchen. Zögerlich gehe ich hin und öffne es.
Ich schäle eine DVD aus dem Zeitungspapier. Beim Ansehen der DVD wird mir schlecht. Zu sehen ist eine Aufnahme von gestern Abend. Den Anblick ertrage ich nur schwer. Angewidert von mir selbst, schalte ich die DVD wieder aus. Offensichtlich wurde ich also mit einer Kamera beobachtet. Ich denke kurz darüber nach die Polizei zu informieren, aber was soll ich denen erzählen? „Hallo, ich glaube ich werde beobachtet. Ein Spanner hat mich gefilmt während ich mir auf Nacktfotos von Kindern einen runterhole.“ Ich verwerfe also den Gedanken schnell wieder und mache mich auf die Suche nach der Kamera. Schnell werde ich fündig. Eine kleine Knopfkamera in meinem Bücherregal, gut versteckt zwischen ein paar gerahmten Fotos. Mich trifft sofort der vorwurfsvolle Blick meiner Mutter. In Gedanken kommen mir Erinnerungen an ihre Schimpftiraden und ihre Enttäuschung von ihrem einzigen Sohn hoch. Sie hatte noch nie mit ihrer Meinung hinterm Berg gehalten, aber als sie mitbekam, dass ich gerne Kinder fotografierte war es aus. Jeden Tag hagelte es Vorwürfe. Unser gemeinsames Leben in meinem Elternhaus wurde also nahezu unerträglich. Ich glaube sie hatte mitbekommen, dass ich pädophile Neigungen habe, aber angezeigt oder drauf angesprochen hat sie mich nie. Die Mutterliebe war wohl doch zu groß. Allerdings musste ich mir dennoch anhören, was ich für ein widerlicher Nichtsnutz bin und wie krank ich sei. Jedes Mal, wenn sie mir ihre harte Meinung entgegenschleuderte, fühlte es sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Es war echt hart von der Person, die man bedingungslos liebt, so distanziert und angewidert behandelt zu werden. Der Schmerz sitzt immer noch tief, auch wenn ich ihn seit vielen Jahren versuche zu verdrängen. Durch die Unerträglichkeit zuhause schaffte ich es sogar meine Neigungen in den Griff zu bekommen. Es war schwer. Ablegen konnte ich sie allerdings nie. Ich fühlte mich immer zerrissen. Tief in mir drin spürte ich die ganze Zeit einen unendlich großen Druck. Meine Brust drohte zu bersten. Nach dem Tod meiner Mutter versuchte ich weiter meine Neigungen zu verdrängen, da mir selbst bewusst war, wie krankhaft diese sind. Ich widerte mich selbst an. Es gelang mir tatsächlich größtenteils, aber irgendwann begannen die Leute in meinem Dorf zu reden. Sie merkten wohl, dass ich mich als ewiger Junggeselle untypisch verhielt. Zudem kam vor einigen Jahren dazu, dass wohl ein Schüler seinen Eltern etwas von unserem Geheimnis verraten hatte. Es kam zu einer Anzeige und einem Prozess. Allerdings konnte mir zum Glück niemand etwas beweisen. Meinen Job konnte ich daher zum Glück behalten, wurde zwar an eine andere Schule versetzt, aber das war für mich nicht weiter schlimm. Ich verkaufte mein Elternhaus und zog in eine kleine Kellerwohnung nahe der Grundschule. Obwohl ich mich nun in einer Kleinstadt niedergelassen hatte, kursierte schon nach zwei Monaten das Gerücht, das ich ein kranker Pädophiler sei. In der Öffentlichkeit wurde ich also auch als solcher behandelt; es gab Beleidigungen, Drohungen und weitere Anzeigen. Allerdings konnte mir auch hier nichts nachgewiesen werden.
Mein Sozialleben war dadurch komplett zum Erliegen gekommen. Ich kämpfe mich seitdem alleine durchs Leben. Der innere Konflikt hat aber auch durch meine Isolation nicht aufgehört. Jeden Tag tobt ein innerlicher Krieg in mir. Jeden Tag muss ich daran arbeiten, dass meine gute Seite gewinnt. Jeder Tag ist eine Herausforderung und zehrt sehr an meiner Kraft. Ausgelaugt und niedergeschlagen betrachte ich die Kamera in meiner Hand. Ich habe in der vergangen Nacht den Krieg verloren. Wie konnte das nur passieren? Ich beschließe, dass alles, was diese Niederlage hervorgerufen hat, weg muss.

Im Garten zerstöre ich frustriert und wütend die Kamera. Als ich das Handy ebenfalls auf den Hauklotz lege und nach der Axt greife, ertönt hinter mir eine Stimme. „Guten Tag Herr Schlincke, was haben Sie denn vor? Sind Sie kein Fan von den modernen Dingern? Aber Recht haben Sie, man wird ja ganz verrückt, wenn die ständig klingeln.“ Ich stimme ihr abwesend zu. „Nur bevor Sie das teure Ding kaputt hauen, würde ich das gerne für meine Enkeltochter an mich nehmen. Also wenn Sie das Ding wirklich gerne loswerden wollen?“ Irritiert schaue ich die alte Frau an, die mich freundlich anlächelt. „Ehm nein, das geht nicht. Tut mir leid“, stammele ich. „Ich glaube ich brauch das doch noch…“ Ich stelle die Axt wieder beiseite und gehe mit dem Handy in der Hand schnell in Richtung Haus zurück. Flüchtig verabschiede ich mich noch von ihr. Verflixt nochmal, dass ausgerechnet immer dann jemand an meinem Grundstück vorbeilaufen muss und eine Unterhaltung sucht! Als ich die Verpackung der DVD sehe beschleicht mich wieder die Wut von vorhin. Ich schleudere das Handy aufs Sofa.
Um mich wieder zu beruhigen und um auf andere Gedanken zu kommen, beschließe ich eine Runde durch den Wald spazieren zu gehen. Im Dorf sind einige Leute beim Kehren der Straße, beim Autowaschen oder beim Holz sägen zu beobachten. Argwöhnische Blicke treffen mich, aber sie sagen nichts. Im Wald kann ich endlich das stille ländliche Leben genießen. Es sind nur der Wind und die Vögel in den Bäumen zu hören. Endlich geht es mir wieder besser. Auf dem Rückweg durchs Dorf beschleicht mich allerdings wieder das Gefühl beobachtet zu werden. Als ich mich umdrehe, sehe ich einen älteren Herrn hinter einem Fenster hervorlinsen. Er geht nicht einmal zurück, als ich ihn ansehe. Er starrt mich einfach weiter an. Mit einem komischen Gefühl im Bauch drehe ich mich wieder um und gehe weiter. Nach einiger Zeit finde ich mich in der Mitte des Dorfes wieder, scheinbar war ich so in Gedanken, dass ich eine Abbiegung zu früh abgebogen bin. Da ich mir die Blöße eines Umdrehens nicht geben will, gehe ich einfach weiter. Die grobe Richtung stimmt ja immerhin. Die Straße macht allerdings dann doch noch einen unvorhersehbaren Knick und führt mich ausgerechnet an einem Spielplatz vorbei. Ich werde unweigerlich nervös. Normalerweise meide ich Spielplätze oder auch Kitas und Schulen. Ich wende meinen Blick sofort ab und beschleunige meine Schritte. Das Kinderlachen macht es mir jedenfalls nicht einfacher meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Glücklicherweise bin ich nach der nächsten Kurve wieder auf einer bekannten Straße. Ich gehe zügig und wieder aufgewühlt nach Hause zurück. Meine innere Krise schwillt weiter an, als ich meinen Briefkasten sehe. Gestresst nehme ich zwei Stufen auf einmal. Ich will einfach nur in mein Haus und mich ausruhen. In meiner aufsteigenden Panik übersehe ich den Draht. Ich stolpere und falle die letzte Stufe der Treppe hoch.

Benommen rapple ich mich nach einiger Zeit wieder hoch. Mein rechtes Knie, mein Gesicht und meine Handgelenke schmerzen. Als ich mir mit der Hand ins Gesicht fasse, stelle ich fest, dass meine Lippe aufgeplatzt sein muss. An meinen Fingern spüre ich sofort heißes Blut. Ich schleppe mich ins Haus. Im Bad verarzte ich meine Wunden so gut es geht und nehme eine Schmerztablette. Anschließend lege ich mich aufs Sofa, um meine schmerzenden Knochen auszuruhen. Während das Adrenalin in meinen Adern langsam wieder abnimmt, brechen wieder die Stürme meines Innersten über mich herein. Mühsam kämpfe ich sie nieder. Durch die Anstrengung falle ich in einen unruhigen Schlaf. Ich träume vom Einzelunterricht mit Paula. Grausamer Weise entwickelt sich meine Lieblingsschülerin zu der gefesselten Ratte von gestern Früh und fängt fürchterlich an zu schreien. Durch den Schrei in meinem Kopf schrecke ich aus dem Alptraum auf. Ich sitze aufrecht auf dem Sofa, mit einer Beule in der Hose und rasendem Herzen. Total gerädert versuche ich mich zu sammeln.
Schlagartig schrecke ich erneut zusammen. Neben mir klingelt das gefundene Handy. Bitte nicht! Aber leider hört es nicht auf. Ein Anruf. Völlig aufgekratzt gehe ich ran. Wieder ist nur ein Lachen am anderen Ende zu vernehmen. Ich spar es mir etwas zu sagen und lege wieder auf. Nach nicht einmal zehn Sekunden klingelt es erneut. Das penetrante Klingeln lässt mich auch diesmal wieder rangehen. Der Anrufer lacht jetzt nicht mehr. Stattdessen ist ein Knistern in der Leitung zu hören, dann ein Klicken und schließlich eine verstellte Stimme. „Du schaffst es ja sogar hier dir einen schlechten Ruf zu machen, obwohl dich hier noch keiner für einen Pädophilen hält. So stellst du dir deinen Neuanfang vor? Das ist ja erbärmlich, was du hier ablieferst. Durch Unhöflichkeit und panisches Verhalten beim Spielplatz bist du direkt aufgefallen. Du hast keine Chance, sieh‘ es doch endlich ein! Keiner auf dieser Erde braucht dich. Es wäre sogar eine Bereicherung für alle, wenn du nicht mehr wärst. Du bist ein kranker Versager! Hör auf dich zu wehren! Deine wahre Identität kannst du nicht unterdrücken! Und das Schlimmste ist ja: Du weißt, dass ich Recht habe!“ Wieder hämisches Lachen und dann nichts mehr. Der letzte Satz des Anrufers hallt in meinem Kopf nach. Der Identitätssturm in meinem Innern drängt sich wieder in mein Bewusstsein. Es schmerzt in meiner Brust und ich habe das Gefühl ich werde in zwei Hälften gerissen. Der pädophile Dämon droht die Überhand zu gewinnen. Verzweifelt und voller Hilflosigkeit schreie ich auf und humple in die Küche. Ich versuche meine Gefühle in Alkohol zu ertränken. Ich möchte die Betäubung eines Rausches fühlen. Die widersprüchlichen Gefühle in mir halte ich nicht mehr aus. Mein Kopf dröhnt und der Whisky brennt in meiner Kehle. Nach dem zweiten Glas merke ich die ersten Schlücke bereits. Jedoch wird mein Befinden nicht besser. Im Gegenteil. Meine Verzweiflung beißt sich in mir fest und befiehlt mir regelrecht etwas zu unternehmen. Ich humple zu meinem Schreibtisch und hole wieder meine Spezialkiste. Außerdem sammle ich das gefunden Handy ein und auch meine Spezialkamera, die in einer weiteren Kiste bis dato schlummerte. Ich lasse die Kiste mit meinen Grausamkeiten auf die Terrasse fallen. Hektisch humple ich weiter zur Hecke, dort hatte ich nämlich bereits gestern ein großes Fass gesehen. Ich rolle es in die Mitte der Terrasse und schlage mit einer Hacke einige Luftlöcher in den unteren Bereich. Mittlerweile bin ich übermütig durch den Alkohol, aber das spornt mich nur weiter in meinem Vorhaben an. Aus dem Gartenschuppen hole ich einen Benzinkanister. Ich werfe die Kiste in die Tonne und tränke alles in Benzin. Mit irrem Blick suche ich ein Feuerzeug in der Küche. Tatsächlich werde ich fündig und mache mich mit dem Whisky wieder auf den Weg nach draußen. Nach weiteren großen Schlucken stecke ich den Inhalt der Tonne an. Schreiend und verzweifelte Laute ausstoßend versuche ich meine pädophile Identität in den Flammen loszuwerden. Die Schmerzen und Schreie meiner gespaltenen Seele treffen mich heftig, während ich in die Feuersäule blicke. Es fühlt sich an, als ob ich selbst in Flammen stehe. Wie paralysiert trinke ich die Flasche Whisky aus und werfe auch sie in die Tonne. Wie das Benzin im Feuer beschleunigt der Alkohol meine Verzweiflung. Mein Selbsthass ist überwältigend. Und immer noch drängt sich der letzte Anruf in mein Gedächtnis. Die Person hat Recht. Ich kann so nicht mehr weiter machen. Meine Vergangenheit wird mich immer wieder einholen und meine sexuellen Triebe kann ich nicht ablegen. Ich bin zu schwach. Ich kann nicht mehr! Ich eile so schnell ich kann in den Schuppen zurück. In einer alten, verstaubten Holzkiste befindet sich das Erbe meines Vaters. Eine Luger mit passender Munition. Mit zittrigen Händen lade ich die Waffe. Das Gedankenkarussell aus Verzweiflung und Selbsthass hält nicht an. Ich weiß, dass ich nur mit Papas 08 vom Karussell absteigen kann. Mit diesem etwas tröstenden Gedanken drücke ich ab.

 

Endlich ist der schlimmste Mann in Julians Leben tot. Endlich kann er keinem mehr wehtun. Endlich kann auch Julian an der Heilung seiner immer wieder aufreißenden Wunden arbeiten. Der Missbrauch in der Schule durch Gerd Schlincke hatte sein Leben zerstört. Sein zerrüttetes Familienverhältnis hatte alles noch schlimmer gemacht. Von seiner Familie wurde er nicht ernst genommen, als er von den Vorfällen in der Schule berichtete. Um nicht selbst an all den Problemen in seiner Kindheit zu zerbrechen, flüchtete er sich früh in Drogen und Kriminalität. Die Idee, Rache an seinem ehemaligen Peiniger zu nehmen, stellte für ihn eine neue Perspektive für sein Leben dar. Durch dieses Ziel vor Augen wurde er wieder selbstsicherer und konnte den meisten Drogen den Rücken zukehren. Seine Rache zog sich über viele Jahre und war harte Arbeit. Nun zahlt sich seine Mühe endlich aus und er kann wieder durchatmen. Das Arschloch ist endlich tot. Für immer weggesperrt wäre durchaus auch in Ordnung gewesen, aber so ist es wenigstens endgültig. Ein weiterer Vorteil ist, dass aufgrund des Selbstmordes und des Feuers die Kripo eingeschaltet wurde. Einige Fotos konnte die Feuerwehr retten und die alten Fälle werden von den Beamten erneut behandelt. Somit können endlich alle Opfer Gerechtigkeit und Frieden erfahren.     

 

4 thoughts on “Vergangenheit ist Gegenwart

  1. Liebe Kristina,

    ich bin noch ganz sprachlos… was für eine Geschichte… leider brandaktuell…. Du weckst starke Emotionen, von Abscheu bis Mitleid. Wirklich heftig.

    Heute ist mein Lesetag der Geschichten mit einem Like und keinen Kommentaren. Deine Geschichte ist wirklich eine der Besten von mir (bis dato 100) gelesenen. Ich hoffe, viele werden noch auf Deine Story aufmerksam.

    LIKE!

  2. Moin Kristina,

    Puuuuuuh, eigentlich wollte ich deine Geschichte nicht zu Ende lesen, zu angewidert war ich von deinem Protagonisten. Aber, ich tat es und habe es nicht bereut. Ekel und Hass sind die Dinge die mir als erstes bei Kinderschändern einfallen. Aber…..

    Umso länger ich las, umso mehr wurde mir klar das Pädophilie eine Krankheit ist, du hast das Ganze so toll beschrieben, ich konnte den Hass von Gerd auf sich selbst spüren und fühlen. Das war beeindruckend! Ich bekam direkt ein wenig Mitleid.

    Mein Lieblingssatz:

    Das Gedankenkarussell aus Verzweiflung und Selbsthass hält nicht an. Ich weiß, dass ich nur mit Papas 08 vom Karussell absteigen kann.

    Da steckt so viel drin..WOW! Du hast Talent, sei stolz auf das was du hier geschaffen hast. 👍🏻

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting. 🙏🏼🍀

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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