nengelsVergessen

Dorian streckte sich. Er war geweckt worden vom Schiffshorn, charakteristisch für diese Uhrzeit auf der Insel. Er drehte sich um und schaute Kassie – wie sie genannt werden wollte, denn Kassandra war ihr zuwider – liebevoll an. Sie war perfekt für ihn, stellte keine Fragen und akzeptierte, dass er sich – so sagte er ihr – an seine Vergangenheit nicht erinnern konnte.

Er begab sich ins Bad, um wenige Minuten später zur morgendlichen Strandjoggingrunde aufzubrechen. Auf dem Rückweg würde er wie immer Brötchen mitbringen, bevor er den letzten Urlaubstag mit seiner Kassie genießen würde. Langeoog war immer wieder eine Reise wert und er würde den Tag nie vergessen, als sie sich zum ersten Mal am Ostende getroffen hatten, fernab jeglichem Massentourismus, beide zunächst getrennt voneinander diese Ruhe genießend.

Am Strand angekommen wusste er, es würde ein schöner letzter Tag. Das Wetter erlaubte einen für diesen Sommer letzten Ausflug ans Ostende, wo er ihr endlich den lang geplanten Heiratsantrag machen würde. Dass er – der eiserne Dorian – wie seine Freunde ihn nannten diesen Schritt je machen würde, hätte er sich niemals träumen lassen. In Köln – seiner Wahlheimat – kannte niemand, selbst der sogenannte „Innercircle“, wie sich seine Clique nannte, mit der er einen großen Teil seiner Freizeit verbrachte und die er seit Studientagen kannte, seine wahre Geschichte. Als Meister der Verdrängung vergaß er sie selbst – immer öfter. Die offizielle Version war ein Unfall mit Gedächtnisverlust und keinen auffindbaren Angehörigen. Die Menschen waren so voller Scheu oder auch Desinteresse, dass sie bei dieser Version von unangenehmen Nachfragen absahen.

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Nach der Flut fanden sich oft ans Land gespülte Sachen am Strand. Dorian faszinierten diese Dinge immer wieder und er stellte sich Geschichten zu den einzelnen Gegenständen vor, welche er später in kurzen Geschichten auf seinem Blog veröffentlichte.

Aber das in der Sonne glitzernde Handy mit fluoreszierender Hülle kam wohl eher aus der Tasche eines unachtsamen Spaziergängers. Er schaute nach, ob er den Besitzer identifizieren konnte, aber zuerst musste er wohl zu Hause den Akku laden.

Beim Frühstück fiel ihm das Handy wieder ein. Nachdem er Kassie von seinem Fund berichtet hatte, steckte er das Ladegerät ein und ging unter die Dusche.

Er hatte sich alles genau zurechtgelegt. „Was hältst Du davon, wenn wir heute noch einmal einen Ausflug ans Ostende machen?“, fragte er sie, während sie beide die Ankunft der Inselbahn beobachteten. „Es ist immer so ein besonderer Moment“ antwortete sie verträumt – und meinte die Ankunft der Gäste, die schon beim Anlegen alle Sorgen hinter sich ließen und eine neue Welt betraten. „Hast Du mir überhaupt zugehört?“ „Entschuldige, ich war mit den Gedanken bei unserer Abreise, ein Fehler, ich weiß“. Sie drehte sich zu ihm um, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn lang.

„Was wolltest Du mir sagen?“ Er konnte ihr nicht böse sein. „Ich fragte, was hältst du davon, wenn wir heute noch einmal einen Ausflug ans Ostende machen?“ Ihre Augen begannen zu leuchten. „Ich könnte mir keinen perfekteren letzten Urlaubstag vorstellen.“

In diesem Moment begann das Handy zu vibrieren. „Was war das?“ Dorian erinnerte sie an seinen morgendlichen Fund und nahm das Gerät in die Hand. An die folgenden Minuten konnte er sich im Nachhinein nicht mehr erinnern. Ihm stockte der Atem, der Raum begann sich zu drehen, Stimmen schrien, weinten, lachten in seinem Kopf. Die Ohren dröhnten, die Welt wurde schwarz, er fand sich – eine verzweifelte Kassie neben sich – auf dem Boden der Dusche. Er wusste nicht, wie ihm geschah, musste sich immer wieder übergeben, würgte, bis ihm die Adern in den Augen platzten. „Dorian, Schatz, so antworte mir doch!“ „W – w – was ist pa – pa ssiert? Wo bin ich? Mir…“ Ein erneutes Würgen erschütterte seinen Körper. „Was ist mit Dir?“ Kassies Stimme klang panisch. „W – Wo bin ich?“ Kassie starrte ihn an. „Wir sind auf Langeoog, in unserer Wohnung.“ Dorian versuchte sich zu orientieren, versuchte verzweifelt die durcheinander wirbelnden Gedanken in seinem Kopf zu sortieren. Es gelang ihm nicht. Er schaute die Frau neben ihm an. Wie Blitze schossen Erinnerungen durch seinen Kopf – aber er konnte sie nicht festhalten. Augenscheinlich gehörte sie zu ihm, wie sollte sie sonst zu ihm in die Dusche kommen? Warum lag er überhaupt bekleidet in der Dusche? War er mit den Jungs losgezogen? Das alles ging ihm durch den Kopf, bevor er erneut in einen bewusstseinslosen Schlaf fiel.

Ungefähr zwei Stunden später schlug er die Augen auf. Ein Arzt saß an seinem Bett und schaute ihn sorgenvoll an. Er dämmerte erneut weg, nachdem er wahrgenommen hatte, wie dieser nachdenklich mit der Frau im Zimmer sprach. Er träumte – lachen, weinen, schreien, eine adrette Frau, ein herrischer Mann – seine Eltern. Seit Jahren hatte er sich ihre Gesichter nicht mehr vorstellen können. Jetzt erschienen sie ihm grell und zuerst verzerrt, später immer klarer im Traum. Er schrie. „Dorian, so beruhige Dich doch.“ Die Stimme der Frau, sie kam ihm bekannt vor… Sie reichte ihm einen Gegenstand. Ein Handy. Es war nicht seins. Sofern er sich erinnern konnte. In den letzten Stunden war er sich über nichts mehr im Klaren. Was war nur passiert?

Die Frau, sie kam ihm seltsam bekannt vor, sah ihn mit Tränen in den Augen an. „Geht es Dir besser?“ „Iiiich, ich weiß nicht.“  „Ich komme mir vor, als habe ich zu viel getrunken.“ Er schaute auf das Handy in seiner Hand. „Wessen Handy ist das?“ Er war sich trotz seines Zustandes sicher, dass es nicht ihm gehörte, die Hülle traf seinen Geschmack nicht im Geringsten. Nicht männlich genug, darauf achtete er penibel.

„Das hast Du heute Morgen vom Strand mitgebracht, Du hast es dort gefunden.“ „Als es vibrierte hast Du drauf geschaut und danach war nichts mehr, wie es war. Du hast es angestarrt, bist weiß geworden wie eine Wand, bist ins Bad getaumelt und hast Dich mehrfach übergeben. Ich habe den Inselarzt gerufen. Er hat Dir ein Beruhigungsmittel gespritzt. Das war vor zwei Tagen, ich habe unseren Urlaub verlängert. Zum Glück gehört die Wohnung uns.“ Die Frau sprach weiter: „Schalte das Handy ein, es muss etwas damit zu tun haben.“ Er nahm das Gerät – langsam – und fragte sich, was zur Hölle er getrunken hatte. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis das Handy auf das Drücken des Anschaltknopfes reagierte. Warum war es nicht gesperrt? Jeder sperrte heutzutage sein Handy. Er hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Auf dem Handy befanden sich nur die vorinstallierten Apps und Telegramm – mit 63 ungelesenen Nachrichten. Zitternd öffnete er den Messenger und was er sah, verschlug ihm den Atem: Eine junge Frau, hübsch, ca. 16 Jahre alt, schwarze lange Haare, am Strand, beim Golf, mit fünf Jagdhunden, wieder am Strand, in einem riesigen Garten, beim Tandemflug, in den Bergen. Dieses Lachen – welches die stahlgrauen Augen nie erreichte. Zusammen mit ihm, immer an ihrer Seite. Er ließ das Handy sinken. Der Schock und die Verwirrung waren mit einem Schlag vorbei. Er starrte vor sich hin. Kassie nahm ihm vorsichtig das Handy aus der Hand und betrachtete die Bilder. Sie schluckte hörbar. „Wer in Gottes Namen ist das und warum lösen diese Bilder das in dir aus?“ Jetzt – wo er wieder wusste, wer sie war, erkannte er mit einem Blick, dass sie darum kämpfte die Beherrschung nicht zu verlieren. Sie war so stark und tapfer und immer darauf bedacht, die Dinge zunächst nüchtern und vorurteilsfrei zu betrachten. Überhaupt war sie der unkomplizierteste Mensch, den er jemals kennen gelernt hatte, doch er wusste nicht, was die Zukunft jetzt noch bringen würde. Jetzt, wo es jemanden gab, der ihn daran erinnerte, dass eine – seine Vergangenheit ihn überall einholen konnte.

Er musste an die frische Luft, schmiss die Bettdecke zur Seite, trat in seine Laufschuhe und rannte hinaus. Das Wetter hatte sich gedreht und es regnete in Strömen, er nahm es nicht wahr. Er rannte zum Strand und rannte bis er auf den Knien gegen die Flut und den Regen anschrie. Er wusste nicht, wie lange er so dagesessen, geweint und geschrien hatte, als es dunkel wurde, trat er den Heimweg an.

Kassie saß, stumme Tränen weinend am Fenster und trank ihren Lieblingswein. Dorian schaute sie einen Moment an. Sie tat ihm unendlich leid, aber er konnte es ihr nicht erklären. „Morgen früh fahren wir zurück, Du solltest packen.“ „Ich? Seit wann packen wir beide getrennt?“ Er murmelte ein „es tut mir leid“ und fing an, die Sachen in den Koffer zu werfen. Kassie packte ihren Teil, schaute ihn traurig an und ging zwei Schritte auf ihn zu. Er wich zurück, fast panisch und schaute sie kalt an:“ Lass mich, ich muss erst etwas klären“. „Hat es mit ihr zu tun?“ Abwartend schaute sie ihn an. „Du hast nicht die geringste Ahnung“. Obwohl er wusste, dass er nicht fair war und ihr das Herz brach, nahm er seine Decke und ging ins Wohnzimmer. Er musste sie schützen. Das war alles, was er momentan für sie tun konnte.

Als Kassie wach wurde, stand er schon fertig im Wohnzimmer und wartete auf ihre Abreise. Sie stand auf, der Schmerz stand ihr ins Gesicht geschrieben. Er ging davon aus, dass sie nicht viel geschlafen hatte. Dennoch stellte sie keine Fragen. Deswegen liebte er sie. Das wusste er, auch, wenn er es momentan durch den Schock und die vielen Gedanken nicht fühlen konnte. Es war seltsam, wie sehr sich das Leben von einen auf den anderen Moment verändern konnte. Innerhalb von Tagen, Momenten, Sekunden.

Sie kam aus dem Bad. Er wusste, Frühstück war kein Thema heute Morgen. Sie packten ihr Handgepäck – mehr brauchten sie dank der vollständig eingerichteten Wohnung, welche sie damals mit viel Glück aus einer Zwangsversteigerung erworben hatten, nicht. Sie schauten sich lange an. „Vertrau mir, es hat nichts mit Dir zu tun.“ Tränen traten ihr in die Augen, aber sie nickte. Wie gelähmt machten sie sich auf den Weg zur Inselbahn. Beide sahen an diesem Morgen die Schönheit der Insel nicht mehr, es herrschte eine verzweifelte, eisige Ruhe.

Am Hafen angekommen reihten Sie sich in die Schlange der Abreisenden ein. Sie setzten sich ins Unterdeck, auf den üblichen Latte Macchiato verzichteten sie auch heute nicht. Irgendwie musste er die Rückfahrt ja schaffen.

Das Schiff setzte sich mit der üblichen Drehung in Bewegung. „Sehr geehrte Damen und Herren, wir begrüßen Sie an Bord der Langeoog IV, unsere Überfahrt wird heute ca. 45 Minuten dauern…“ Dorians Gedanken schweiften ab. „Und nun haben wir noch eine besondere Mitteilung: Wir wünschen unserer Mitreisenden Doris van Galen alles Gute zum 30. Geburtstag.“

Dorian verschluckte sich. Sein Herz begann zu rasen und er bekam keine Luft mehr. Das Wasser der sonst eher seichten Wellen schien über ihm zusammen zu schlagen. Er rannte an Deck, verzweifelt nach Orientierung suchend. Eine Ohrfeige brachte ihn zur Besinnung. „Tut mir leid, ich wollte das nicht, aber…“ Kassie schaute ihn verstört an, schüttelte den Kopf und ging wieder runter an ihren Tisch. Den Rest der Fahrt verbrachten sie getrennt, erst in Bensersiel am Hafen trafen sie sich wieder. „Was ist nur mit Dir los?“ Das erst Mal, dass sie so etwas fragte. Was sollte, was konnte er ihr sagen? Seit fünf Jahren waren sie ein Paar. Die Gewissheit, dass sie füreinander bestimmt waren, stellte sich auf beiden Seiten von der ersten Begegnung an ein. Aber reichte das? Würde das so bleiben, wenn sie… Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er brauchte Ruhe. „Lass uns unser Gepäck holen.“ Sie stellten sich an.

Einer Eingebung folgend drehte er sich um. Sein Herzschlag setzte erneut aus. Die Frau, die gerade ihren Koffer zum Auto zog, 30 m nur entfernt, er starrte sie an. Lange schwarze Haare mit leichten Wellen, ca. 1,80 m groß, schlank, eine Sonnenbrille ins Haar gesteckt, einen roten Mantel, dazu passende Pumps. Er rannte los, packte sie bei den Schultern und schrie:“ Was willst Du?“ „Lass mich verdammt noch mal in Ruhe!“ Ein junges Mädchen, ca. 18 Jahre, die Akne aus der Pubertät noch nicht vollständig verschwunden, schaute ihn ängstlich und erschrocken an. „Ich, ich. Entschuldigen Sie… Ich habe Sie verwechselt.“ Sie schüttelte seine Hände ab und rannte los.

Als er sich wieder gesammelt hatte, war Kassie schon auf dem Weg zum Auto. Die knapp vier Stunden Fahrt bis Köln verbrachten sie schweigend, glücklicherweise ohne Stau. Dort angekommen sagte Kassie:“ Ich schlafe bei Julia.“ Julia war ihre Zwillingsschwester und er konnte keine Einwände erheben.

Er ging in die gemeinsame Wohnung mit Blick auf den Rhein, welche sie sich dank verschiedener Anlagen und ihres recht stattlichen Einkommens – er als Wirtschaftsjurist in einem renommierten Unternehmen und sie als Staatsanwältin am Landgericht, leisten konnten.

Ihm war noch nach einer Runde joggen, um den Kopf frei zu bekommen. Was ihm – mit höchster Wahrscheinlichkeit – nicht gelingen würde. Aber er musste zumindest seine Gedanken sortieren und seine Angst irgendwie in den Griff bekommen – denn Angst war bekanntlich ein schlechter Ratgeber. Zu seiner gewohnten Strecke abseits der Stadt musste er 15 Minuten mit dem Auto fahren. Werbetafeln säumten den Weg. Er machte eine Vollbremsung. Die Autos hinter ihm hupten, ärgerliche Rufe drangen nur in Fetzen zu ihm durch, er konnte seine Augen nicht von diesem Plakat wenden: „Gegen das Vergessen, van Galens Spezialdragees, bleiben Sie vor allem im Geiste jung.“ Kein besonders origineller Slogan, ein unbeteiligter würde ihn wahrscheinlich übersehen, auch, wenn ein überdurchschnittlich attraktives Gesicht mit langen dunklen Haaren als Eyecatcher diente.

Dorian wendete bei nächster Gelegenheit, keinen Gedanken mehr an seine Sportpläne verschwendend. Er musste nach Hause, er musste handeln.

Zu Hause angekommen rannte er die Stufen hoch, stürmte in die Wohnung, tippte die Zahlenkombination, welche nur er kannte in den Safe. Auch hier hatte sie nie Fragen gestellt. Er kramte das alte Adressbuch heraus und tippte die Nummer mit zitternden Fingern ins Handy. „Was verschafft mir die Ehre?“ „Zeit für Plan B. Erinnerst Du Dich?“ „Was denkst Du denn? Ich steh zu meinem Wort und es wird mir ein Vergnügen sein.“ Dorian dachte nach. „Wie können wir in Kontakt treten? Ich habe das Gefühl, sie beobachten mich.“ Sein Gesprächspartner brach in schallendes Gelächter aus. „Du hast das Gefühl? Junge, Junge. Hast Du alles vergessen? Natürlich beobachten Sie dich.“ „Du wusstest es? Warum hast Du mich nicht informiert?“ „Kontaktaufnahme nur von deiner Seite aus, wenn es soweit ist, schon vergessen?“ „Entschuldige. Es kam so plötzlich, ich habe mich zu sehr in Sicherheit gewogen. Es schien vorbei. Ich wollte heiraten“.

„Mit deinem Umzug nach Köln haben ihre Leute Deine Spur wieder aufgenommen. Sie wissen wann, mit wem und wo Du Dich bewegst.“ „Das“, Dorian fasste sich an die Stirn „das war vor etwas mehr als zwei Jahren.“ „Richtig.“ Sein Gegenüber atmete hörbar ein, anscheinend mit sich ringend, wie viel er ihm sagen konnte. „Raus mit der Sprache, ich kenn Dich auch nach all den Jahren ohne Kontakt.“ „Seitdem wird auch Deine Freundin beschattet. Sie wissen von der Wohnung auf der Insel, Euren Hobbys, ihre Leute haben ein komplettes Bewegungsprofil von Euch erstellt. Kassie ist ihr Ziel, um Dir möglichst weh zu tun.“ Der Raum um Dorian begann sich zu drehen. „Sie kennen ihren Spitznamen?“ „Sie kennen ihre Kleidergröße, ihr Büro, ihren Lieblingsitaliener, die Farben der Gardinen Eurer netten Ferienwohnung, ihre Schwäche für gegrillten Lachs…“ „Hör auf“. Dorian schrie nun. „Ich melde mich.“ Das „Du wolltest es wissen“ hörte er nicht mehr.

Er dachte nach. Konnte er Kassie vertrauen? Sie war ihm in all den Jahren ein verlässlicher Partner geworden. Er hatte nun auch keine Wahl mehr, sie war in Gefahr und selbst, wenn sie danach nichts mehr von ihm wissen wollte war dieses der geringere Preis als die Vorstellung, ihr könne etwas zustoßen. Er wählte erneut: „Wir treffen uns in 30 Minuten in der Waldauer Str. 31.“  Er setzte sich erneut in sein Auto und fuhr zu Julias Haus – in der Hoffnung sie würde ihm die Türe öffnen und zu Kassie lassen. Dort angekommen bat sie ihn ins Haus. Kassie kam aus dem Wohnzimmer. Sie unterschied sich von ihrer Zwillingsschwester nur durch ein Muttermal an der Schläfe.  Er ging zu ihr hin. „Darf ich, ich weiß, ich muss dir einiges erklären. „Komm her“, sie umarmte ihn heftig. Julia räusperte sich: „Wir sind gespannt, was Du uns zu erzählen hast!“ „Einen kleinen Moment müsst Ihr Euch noch gedulden, in einigen Minuten wird ein alter Freund von mir hier sein, Branko, ihn brauche ich dabei.“ „Okay“, antwortete sie, „dann kümmere ich mich solange um die Getränke“, und verschwand im Keller.

Als es geklingelt hatte und Dorian die drei vorgestellt hatte, setzten sie sich in den Garten, jeder sein Bier in der Hand. Dorian hoffte, Kassie konnte ihm seinen Ausraster verzeihen und er würde sie beruflich aufgrund seiner Wurzeln nicht in Schwierigkeiten bringen. Ob sie ihn danach noch wollte, Kinder von dem Sohn eines Monsters?  Er schluckte hörbar und fing an zu erzählen: „Meine Eltern sind, wie Du Dir sicher denken kannst, nicht verstorben. Ihnen gehört eine Reihe von sogenannten Saunaclubs in und um München. Verfeindet mit einem Imperium gleicher Art in und um Prag. Brankos Eltern.“ Er machte eine Pause, musste seine Gedanken sortieren. „Die Clubs leben von Erpressung, Drogengeschäften, illegalem Menschenhandel, um nur ein paar der ekelhaften Dinge zu nennen. Brankos Eltern fingen die beste „Ware“, wie mein Vater die Mädchen aus dem Osten nannte, regelmäßig ab. Um ihn zu schwächen wurden auch Mädchen mit Krankheiten geschickt. Ich erspare Euch Mädels die Einzelheiten, es war widerlich und für einen normalen Bürger unvorstellbar. Meine Eltern hatten noch ein Kind, eine Tochter, Doris. Ihre Fotos fand ich auf dem Handy, welches, wie ich nun weiß, nicht zufällig dorthin gekommen sein kann. Sie haben mich bzw. uns gefunden.“ Er rieb sich die Augen, der Gedanke an seine Schwester trieb ihm die Tränen in die Augen. Wie es das Schicksal wollte, lernten Branko, Doris und ich uns kennen, bei einem Skiurlaub in Österreich. Im Gegensatz zu unseren verfeindeten Eltern waren wir uns alle vom ersten Augenblick an sympathisch und wussten, wir wollten so niemals leben. Mein Vater erwartete von mir, dass ich sein „Baby“ wie der es nannte weiter führte mit all den schmutzigen Eskapaden. Ich weigerte mich. Jeden Tag kam es zu schrecklichen Auseinandersetzungen, aber solange Doris noch nicht volljährig war, musste ich zu Hause bleiben, ich konnte sie nicht allein lassen. Eines Tages holten sie meine Schwester ab, es sei an der Zeit ihre Rolle im Unternehmen einzunehmen. Ich kann bis heute nicht fassen, dass meine Mutter ihr Kind verkauft hat, stolz auf die vielversprechende Einnahmequelle. Ich habe geschrien, alles versucht, aber die Schergen meines Vaters hielten mich in Schach. Sie kam nie zurück. Sie weigerte sich, die perversen Spiele der Kundschaft auch nur im Ansatz mitzuspielen, der Freier – ein guter Freund der Familie – verlor die Geduld und brachte sie eiskalt um. Das Video schickte man mir und Branko wenige Minuten später mit der eindeutigen Botschaft, wir würden nun wohl wissen, wo unser Platz sei.“

Die anderen drei wischten sich nun ebenfalls die Tränen aus dem Gesicht, Kassie nahm seine Hand. Branko bot an zu übernehmen, was Dorian dankbar annahm. „Dorian und ich hatten schon längst angefangen, das Ganze zu unterwandern, aber es war eben verdammt nochmal nicht weit genug fortgeschritten. Ihre „Mitarbeiter“ waren nicht alle loyal, einige konnten wir auf unsere Seite ziehen. Der Plan war zu verschwinden ohne Spuren zu hinterlassen, zwar in die gleiche Richtung, aber ohne jeglichen Kontakt. In der Zwischenzeit habe ich jedoch ein Netzwerk aufgebaut, quer durch den ganzen Osten. Denn uns war klar, unsere Eltern werden – nachdem sie von unseren Plänen erfahren haben – nicht eher ruhen, bis wir vernichtet sind. Wir waren ihre Nachfolger, sie waren Feinde, eine Freundschaft unter verschiedenen Kartellen undenkbar. Wir haben sie vorgeführt, sie haben ihr Gesicht verloren im gesamten Milieu. Wir waren in ihren Augen eine Schande, es nicht wert den Dreck unter ihren ekelhaft teuren Lederschuhen zu fressen.“ Dorian übernahm wieder. „Nach dem Handyfund war mir klar, sie haben uns gefunden. Deshalb auch der Zwischenfall am Hafen. Ich dachte, es sei die Frau, die mich zur Welt gebracht hat, eine Mutter habe ich nicht mehr. Dass sie alles über mein Leben wissen, war mir nicht klar. Das hat Branko mir vorhin am Telefon gesagt.“ „Das Ziel ist Kassie. Dorians Vater will ihn leiden lassen. Meine Familie denkt, ich sei tot, ich habe einen Abschiedsbrief hinterlassen. Mein Vater hat das nicht verwunden und starb, keine Lebenskraft mehr bei einer harmlosen OP. Meine Mutter ist psychotisch und lebt in einem betreuten Wohnen, wahrscheinlich eine Pille zu viel.“ Er stieß hörbar den Atem aus.

Dorian schaute ihn an. „Wie ist der Sachstand?“ „In diesem Augenblick ziehen die neuen Mädchen ein. Alle aus meinem Netzwerk. Geschult im Straßenkampf, ausgestattet mit Technik für den Notfall, welche die Leibwächter deines Vaters nicht finden können, unscheinbare hübsche kleine Mädels, jede für sich eine nicht zu besiegende Waffe. Sie werden die Freier überwältigen, fesseln und Bilder machen. Während die zweite Truppe Männer anrückt und den Rest übernimmt. Deine Eltern werden sich das Leben nehmen, Einzelheiten ersparen wir Euch auch in diesem Punkt. Meine Truppe verschwindet genauso leise, wie sie gekommen ist und wartet auf ihren nächsten Einsatz. Immer im Kampf gegen das Verbrechen.“ Er zuckte die Schultern. „Die korrupten Beamten, welche Deinen Eltern und ihren Männern Euer Auffinden ermöglicht haben, werden in wenigen Minuten dem Haftrichter vorgeführt. Korruption dürfte bei den Mengen an versteckten Drogen in ihren Büros ihr geringstes Problem sein. Den Rest lesen wir morgen in der Zeitung. Von nun an dürften wir uns wieder öfter sehen können.“

Sie schwiegen alle vier. Kassie fand als erste das Wort: „Warum konntest Du mir nie davon erzählen?“ Dorian konnte es ihr nun, da alles vorbei war, nicht mehr erklären. „Ich nehme an, die Angst, dass dir irgendetwas passiert, dass Du mich verurteilst für meine Wurzeln, dass Du dich abwendest, dass Du Probleme auf der Arbeit bekommst. Ich weiß es nicht mehr. Je weniger davon wussten, desto besser, denn sonst hätten sie ihren Plan ausführen können und erneut Rache ausüben können. Und dass sie mir das Liebste nehmen würde, was ich habe, das war klar. Unabhängig davon wollte ich selbst so wenig wie möglich dran denken und es ganz tief vergraben in meinem Gedächtnis“. „Ich brauche Zeit, um alles zu verdauen“. Das konnte er ihr nicht verdenken. Er verabschiedete sich von den Dreien und fiel zu Hause in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am Morgen beim Brötchen holen sprang ihm die Schlagzeile der Bildzeitung ins Auge: „Münchener Edelbordellbesitzer nehmen sich das Leben! Freier aus höchsten politischen Kreisen enttarnt!“ Er kaufte alle Zeitungen, die da waren und tippte in sein Handy: „Es ist vorbei, Danke Bruder!“ „Nicht dafür, für Doris, Brüder für immer, unser neues Leben beginnt jetzt.“

Ein Jahr später: „Dorian, Schatz, wie soll ich in meinem Zustand zum Ostende fahren?“ Kassie liebes, ich erinnere Dich daran, dass wir im Geld meiner Familie schwimmen, ich habe Dir eine Kutsche organisiert.“ Sie kicherte, hielt sich ihren doch schon beachtlichen Bauch und fragte: „Und wenn es los geht?“ „Wäre es immer noch drei Monate zu früh und somit sehr unwahrscheinlich. Und nachdem ich mein Vorhaben zu Ende gebracht habe könnte uns der Hubschrauber abholen.“ Sie knuffte ihn in die Seite und lachte auf, sah seit sie schwanger war noch schöner aus als je zuvor. „Du willst mich bestimmt begraben dort und dann mit dem Hubschrauber flüchten.“

Am Ostende angekommen, nahm er ihre Hände, schaute ihr lange in die Augen: „Nun bringe ich zu Ende, was ich vor einem Jahr geplant habe: Kassie Berger, möchtest Du meine Frau werden.“ „Wäre ich sonst noch hier?“ Sie hauchte ein Ja und nach dem Sonnenuntergang brachte die Kutsche sie zurück. Und er wusste, nichts würde sie jemals wieder trennen, seinen Kindern werde es gut gehen und die Stiftung „Brüder der Zukunft“ würde vielen Kindern von Zwangsprostituierten ein gutes Leben ermöglichen.

 

2 thoughts on “Vergessen

  1. Wow! Sehr gut geschrieben. Mir gefällt dein Schreibstil total gut und du holst die Spannung von Anfang bis Ende Konsequenz aufrecht. Man verschlingt deine Sätze regelrecht. Jedoch habe ich dabei vielleicht auch etwas zu viel verschlungen. Da mir nicht immer direkt die Zusammenhänge klar waren und ich nochmal nachlesen musste, aber dein Ende war ebenfalls super!
    Dran bleiben!:)

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