Alina StachelbeckVergissmeinnicht

Sie – jetzt

Ihr Gesicht fühlte sich heiß an und sie merkte wie sich diese roten Flecken an ihrem Hals ausbreiteten, die sie immer bekam, wenn sie Stress hatte. Sie konnte den Blick nicht von dem riesigen Messer abwenden, das ihr an den schwangeren Bauch gehalten wurde. Der leicht würzige Geruch des kleinen Topfes mit Vergissmeinnicht, der auf dem Küchentisch stand, stieg ihr in die Nase und ihr wurde schlecht.

Wehe, du verletzt mein Baby. Tu ihm nicht weh! Das war alles, was sie in diesem Moment denken konnte und sie versuchte ihre Hände schützend an den runden Bauch zu legen. Bis auf das Rauschen in ihren Ohren hörte sie nichts als diese laute, wütende Stimme an ihrem rechten Ohr und eine sanftere, beruhigende aus einer anderen Richtung. Sie merkte, dass die tobende Stimme leiser wurde und hörte nur noch wie jemand rief: »Nein, nein, nein, lass das, hör auf«!!!

Danach fing sie selbst an wie ein wild gewordenes Tier zu schreien. Sie blickte auf ihren Bauch hinab und sah wie das Messer eine fein säuberliche Linie durch die obersten Hautschichten ihres Bauches zog und warmes Blut an ihm herunterlief…

 

Sie – ca. 5 Stunden vorher

David saß ihr am gedeckten Frühstückstisch gegenüber und schlürfte genüsslich an seinem Kaffee. Die Haare noch leicht verstrubbelt vom Schlafen, im Pyjama und mit seiner Lesebrille, die ihm langsam immer weiter von seiner perfekt geschwungenen Nase herunterrutschte, blickte er ihr mit einem Lächeln im Gesicht über den Rand einer alten Tages-Zeitung entgegen. Zufrieden streichelte sie sich über den mittlerweile ziemlich rund gewordenen Bauch und dachte daran, dass sie in absehbarer Zeit zu dritt an diesem Tisch sitzen würden. Nun musste auch sie lächeln.

Als sie von der Schwangerschaft erfuhr, waren David und sie noch nicht verheiratet und hatten über dieses Thema auch nicht weiter gesprochen. Damals konnte sie nicht einschätzen wie er reagieren würde, wenn sie ihm von der Schwangerschaft erzählte. Seit einem Jahr waren sie nun ein Paar und genossen die Leichtigkeit, die eine frische Beziehung mit sich brachte. Als der Frauenarzt ihr die Botschaft bei einem Kontrolltermin verkündete, freute sie sich im ersten Moment total. Sie wollte immer Kinder haben! Allerdings bekam sie nach der ersten Freude auch Angst. Sie hatte keine Ahnung wie David darauf reagieren würde. Würde er das Kind auch wollen? Will er überhaupt Kinder? Wie sollte sie es ihm sagen? Und was würde sie machen, wenn er das Kind mit ihr nicht wollte? Sie brauchte ein paar Tage, um sich selbst darüber klar zu werden, ob sie das Baby wirklich behalten wollte.

Als sich ihr Entschluss gefestigt und sie sich für das Kind entschieden hatte – ob mit oder ohne ihn – platzte sie bei einem gemeinsamen Abendessen damit heraus. David sagte erst einmal gar nichts. Gefühlt vergingen Stunden und die Zeit des Schweigens zog sich wie ein altes Kaugummi. Sein Gesicht verlor mit jeder Sekunde etwas mehr an Farbe. Er schaute lange Zeit aus dem Fenster. Irgendwann blickte er zu ihr hinüber und schaute ihr direkt in die Augen. »Ich freue mich. Ich freue mich so sehr, Melissa! Wir bekommen ein Baby«! Und dann ging alles ganz schnell. Sie zog in seine Wohnung ein, die sowieso genug Platz für zwei, bald schon für drei,  bot. Drei Monate später standen sie vor dem Altar und gaben sich das Ja-Wort.

Glück; genau das war es, was Melissa an diesem Samstagmorgen, etwa einen Monat vor der Geburt ihrer ersten Tochter, in jeder Zelle ihres Körpers spürte.

 

Er – ca. 5 Stunden vorher

Das Leben meinte es gut mit ihm. Da saß ihm diese unverschämt gut aussehende Frau gegenüber am Tisch und hatte dieses ansteckende, breite Lächeln im Gesicht, das nur schwangere Frauen haben konnten. Hätte man ihm noch vor einiger Zeit gesagt, dass er schon bald eine wunderbare Frau kennen lernen würde, in deren Bauch sein Kind heranwachsen würde; er hätte denjenigen für verrückt erklären lassen!

Er legte die Zeitung beiseite, stand auf, ging zu Melissa hinüber und gab ihr einen Kuss auf ihr kupferfarbenes Haar. Vorsichtig berührte er ihren runden Bauch und ließ seine Hände auf ihm ruhen. Nachdem er ein leichtes Treten spürte, legte er sein Ohr an ihre Bauchdecke und flüsterte: »Hallo kleine Lilli! Ich kann es kaum erwarten bis du endlich bei uns bist. Deine Mama und dein Papa warten schon auf dich und freuen sich auf deine Ankunft«! Melissa gluckste und wuschelte ihm durchs Haar.

Er stand auf, nahm seine Tasse Kaffee und sagte beim Verlassen der Küche: »Mel, ich gehe mal eben zum Briefkasten. Wir haben die ganzen letzten Tage gar nicht nach der Post geschaut«.

 

Sie – ca. 5 Stunden vorher

David kam mit einem dicken Stapel Post zurück und schaute die Briefe durch. Nachdem er Reklame und Werbung beiseite gelegt hatte, legte er einen Brief vor ihr auf den Tisch. »Hey, hier ist ein Brief für dich dabei. Da steht gar kein Absender drauf. Erwartest du Post«?

Bevor sie ihm eine Antwort geben konnte, begab er sich schon gedankenverloren auf den Weg ins Wohnzimmer und ging die zahlreichen Rechnungen durch, die sie seit einiger Zeit für die Erstausstattung und für die Inneneinrichtung des Kinderzimmers bekamen.

Melissa stand auf und fing an, den Tisch abzuräumen. Danach schnappte sie sich den Brief und ging hoch ins Badezimmer, um sich frisch zu machen. Sie hatte keine Post erwartet, vielleicht hatte eine ihrer Tanten oder Onkel mal wieder einen Brief aus dem Urlaub geschickt. Aber würden sie dann nicht eher eine Postkarte senden?

Im Bad angekommen ließ sie sich auf dem Rand der Badewanne nieder. Mittlerweile wurden selbst die kleinsten Gänge zu einer immer größeren Herausforderung. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, dass eine Schwangerschaft und der damit verbundene dicker werdende Bauch so anstrengend sein würden.

Vorsichtig öffnete sie den Briefumschlag mit einer herumliegenden Nagelfeile und spähte hinein. Sie wunderte sich einmal mehr, denn in dem Umschlag war gar kein Brief. Melissa fischte ein Foto heraus und drehte es um, sodass sie sehen konnte, was darauf abgebildet war. Ihr stockte der Atem. Wie eine heiße Kartoffel fiel ihr das Foto aus der Hand und landete verkehrt herum auf den kalten Fliesen des Badezimmers. Das kann nicht sein! Nein, sie musste sich getäuscht haben.

Hektisch hob sie das Foto auf, drehte es erneut um und schaute direkt in das Gesicht ihres Ehemannes. Leicht gebräunt und mit seinem charmanten Lächeln starrte er direkt in die Kamera. Sein Haar war etwas kürzer als er es jetzt trug, aber ansonsten war alles gleich an ihm. Seine Augen, seine Nase, sein Mund, all das war David. Neben ihm hockte ein kleiner Junge und grinste mit einem genauso breiten, aber teils zahnlosen Lächeln in die Kamera. Er war David wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hielt das Foto etwas mehr unter das spärliche Licht der Badezimmerlampe und starrte verkrampft auf das Gesicht des Jungens. David hatte seinen Arm um ihn gelegt. Vielleicht war er fünf oder sechs Jahre alt. Dann hob Melissa den Briefumschlag auf, der ihr ebenfalls vor Schreck aus den Händen entglitten war. Sie starrte auf die Schrift. Dort standen eindeutig ihr Name und ihre Adresse in einer fein säuberlichen Druckschrift. Der Absender fehlte. Wer schickte ihr so ein Foto? Und warum? Woher hatte der Absender ihre Adresse? Melissa steckte das Foto zurück in den Briefumschlag, ging ins Schlafzimmer und verstaute ihn mit zitternden Händen in der hintersten Ecke ihres Nachttisches.

Bevor sie mit David darüber sprechen konnte, musste sie erst einmal selbst ihre Gedanken sortieren. So schnell es mit ihrem Kugelfisch-Bauch ging, zog sie sich um und schnappte sich ihre Tasche samt Haustürschlüssel und Portmonee. Sie konnte David auf keinen Fall jetzt in diesem Moment unter die Augen treten. Er würde direkt merken, dass etwas nicht stimmte und sie musste erst einmal selbst darüber nachdenken, also rief sie nur ins Wohnzimmer: »Dave, ich fahre einkaufen. Bis später«!

 

Die Fremde – ca. 4 Stunden vorher

Den Blick auf die schier endlose Auswahl an Cornflakes gerichtet, schlenderte Nele langsam den Gang im Supermarkt entlang und kollidierte dabei mit dem Einkaufswagen einer jung aussehenden, schwangeren Frau mit rötlichem, welligem Haar. Die Tasche der Frau rutschte von ihrem Arm herunter und entleerte sich auf dem Boden.

»Oh nein! Entschuldigen Sie, das ist meine Schuld! Ich habe Sie gar nicht gesehen«, sagte Nele und eilte der schwangeren Frau zur Hilfe. Mit ihrem runden Bauch fiel es ihr sichtlich schwer den Inhalt der Tasche vom Boden einzusammeln. Die Schwangere lächelte und bedankte sich bei Nele.

»Ach was, ich habe genauso wenig aufgepasst wie Sie! Vielen Dank für Ihre Hilfe«.

 

Sie – ca. 3,5 Stunden vorher

Auf dem Weg zum Auto kramte Melissa in ihrer Tasche herum und fand ihren Schlüssel nicht. Sie war total zerstreut und konnte nicht aufhören, an das Foto mit David und dem fremden Jungen zu denken.

»Hallo! Warten Sie…«, hörte Melissa die Stimme einer Frau und drehte sich um. Die Frau aus dem Cornflakes-Gang, mit der sie zusammengestoßen war, stand hinter ihr und hielt ihren Schlüsselbund in die Luft.

»Sie haben Ihren Schlüssel wohl im Gang liegen lassen. Ich wollte ihn gerade an der Kasse abgeben, da habe ich Sie hier draußen zum Auto laufen sehen«.

Jetzt betrachtete Melissa die Frau zum ersten Mal richtig. Sie war hübsch. Die Fremde war etwas kleiner als sie selbst und hatte eine zierliche Statur.

Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem kurzen Bob geschnitten, der ihrem Gesicht einen etwas jungenhaften und frechen Charme verlieh.

»Um Himmels Willen, was ist denn heute los mit mir? Ich kann mich nur nochmal bedanken«, stammelte Melissa.

Die Frau gab ihr den Schlüssel zurück und schaute auf ihren Bauch. Das musste der Schwangerschaftsbonus sein. In den letzten Monaten hatte Melissa gemerkt, dass fast alle den immer dicker werdenden Bauch wie ein achtes Weltwunder anstarrten. Als Schwangere wurde man nicht nur angestarrt und bekam öfter als sonst Komplimente. Es eilten einem auch alle möglichen Menschen zur Hilfe, so als ob man eine schwere Krankheit hatte und darauf angewiesen war.

»Tut mir leid, ich wollte sie gar nicht so unverhohlen anstarren. Wann ist es denn soweit? Der Bauch steht Ihnen wirklich gut«, sagte die Fremde und löste den Blick mit glänzenden Augen von Melissas Bauch. Da war es wieder: angestarrt werden und Komplimente bekommen. Wieder streichelte sie sich über den Bauch, noch so eine seltsame Angewohnheit von Schwangeren, und antwortete: »Einen Monat dauert es noch etwa. Langsam kann ich es auch gar nicht mehr abwarten. Ich würde mich gerne irgendwie bei Ihnen bedanken. Für den Schlüssel,… Sie wissen schon. Wollen Sie nicht heute Nachmittag auf einen Kaffee vorbeikommen«? Sie schaute die Frau fragend an. Die Fremde lächelte.

»Das klingt nett von Ihnen. Ich komme gerne«.

Melissa öffnete die Autotür und fing an, die Einkäufe in den Wagen zu räumen.

»Prima, dann kommen Sie doch gegen 16 Uhr zu uns in die Ahornallee 29. Sie müssen bei Mentrup/Kirchhäuser klingeln«. Die Finderin ihres Schlüssels wandte sich ab, um zu ihrem Auto zu gehen und lächelte zum Abschied.

»In Ordnung, ich freue mich. Dann bis später«!

 

Sie – ca. 3 Stunden vorher

Auf dem Heimweg hatte Melissa einen Entschluss gefasst. Sie würde David heute Abend direkt auf das Foto ansprechen. Sicherlich gab es eine ganz harmlose Erklärung dafür! Zumindest hoffte sie es und versuchte, sich das nun einfach einzureden.

»Hey Dave, ich bin wieder da«, rief sie in den Hausflur hinein und kämpfte sich aus ihren Schuhen hinaus.

David kam ihr aus dem Wohnzimmer entgegen und gab ihr einen Kuss.

»Wieso bist du vorhin denn so schnell abgehauen? Ich hätte dich doch begleiten und dir helfen können«. Melissa ging in die Küche, um die Einkäufe in den Kühlschrank und die Vorratskammer zu räumen.

»Du warst so in unsere Rechnungen vertieft, alles gut! Hey, hör mal, heute Nachmittag kommt eine Frau auf eine Tasse Kaffee zu uns. Ich habe meinen Schlüssel im Supermarkt verloren und sie war so aufmerksam und hat ihn mir wiedergegeben. Ich wollte mich gerne bedanken, das ist doch in Ordnung, oder«?

David folgte ihr in die Küche und legte seine Arme von hinten um sie herum. Mit seiner verführerischen, tiefen Stimme flüsterte er in ihr Ohr: »Meine vergessliche, schwangere Ehefrau! Natürlich ist das okay, wie könnte ich dir einen Wunsch abschlagen«?

 

Die Fremde – ca. 20 Minuten vorher

Sie hielt den kleinen Topf mit den Vergissmeinnicht in der einen Hand und klingelte mit der anderen. Schon ihre Eltern hatten ihr beigebracht, dass man nicht mit leeren Händen zu Besuch kam. Sie strich sich durchs Haar und wartete. Die Tür ging auf und die Frau aus dem Supermarkt kam zum Vorschein.

»Hallo, wie schön, dass Sie gekommen sind! Ich habe mich heute Morgen nur so halbherzig bei Ihnen vorgestellt, entschuldigen Sie, ich heiße Melissa«. Sie hielt ihr die Hand entgegen. Nele reichte ihr ebenfalls die Hand. »Danke nochmal für die Einladung, auch wenn das gar nicht nötig gewesen wäre! Mein Name ist Nele«. Melissa lächelte und führte sie in die Küche. »Die Blumen sind übrigens für Sie. Ich wollte Ihnen gerne eine kleine Freude machen«.

Nele stellte den Topf Vergissmeinnicht auf den Küchentisch. »Wie schön, vielen Dank, dafür werde ich sicherlich einen schönen Platz finden«, sagte Melissa und drehte sich zur Kaffeemaschine, um sie einzuschalten. Neben ihr stand ein frischer Kuchen samt Tortenheber und Messer auf einem Teller, der nur darauf wartete vertilgt zu werden.

Nele nutzte den unbeobachteten Moment, um sich genauer in der Küche umzuschauen. Schon im Flur hatte sie die liebevoll eingerichtete Wohnung bestaunt. Auch die Küche strahlte diese Wärme aus, die ein geborgenes Heim mit sich bringt.

»Ihre Wohnung ist wirklich gemütlich, schön haben Sie es hier! Ist Ihr Mann denn gar nicht zuhause«? Melissa drehte sich zu Nele um.

»Oh doch, natürlich. Ich stelle Ihnen David gerne vor. »Dave, kommst du mal? Unser Besuch ist da«, rief sie mit kräftiger Stimme in Richtung Flur.

Nele hörte ein Rascheln, so als ob jemand eine Zeitung beiseitelegt und wie sich eine Tür im Flur öffnete.

 

Er – ca. 10 Minuten vorher

Nachdem Melissa ihn gerufen und David seine Zeitung beiseite gelegt hatte, stapfte er durch den Flur in Richtung Küche. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee stieg ihm in die Nase und er freute sich auf eine heiße Tasse und ein Stück Kuchen, den Melissa heute Mittag noch schnell gebacken hatte.

Beim Betreten der Küche sah er seine strahlende Frau mit dem Besuch. Die Fremde, die Melissa eingeladen hatte, drehte sich zu ihm um und ein allzu bekanntes Gesicht blickte ihm entgegen.

Er zog scharf die Luft ein. »Nele. Was machst du hier«?

 

Sie – ca. 8 Minuten vorher

»Ihr kennt euch«? Melissa schaute fragend von David zu Nele. Keiner sagte etwas. Die beiden starrten sich einfach an.

»Hallo? Kann mich mal jemand aufklären«? Der Tag wurde immer absurder. Erst dieser ominöse Brief und das Foto und nun diese seltsame Zusammenkunft hier in ihrer Küche…

 

Er – ca. 5 Minuten vorher

»Nele, du musst gehen. Ich weiß nicht, warum du hier bist und was das alles soll. Du hast hier nichts zu suchen! Bitte verlass unsere Wohnung und geh einfach«. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich Davids Gesicht von erstaunt zu wütend. Was sollte das Ganze hier? Das konnte unmöglich ein Zufall sein, dass ausgerechnet Nele die Finderin von Melissas Schlüssel war.

 

Die Fremde – ca. 3 Minuten vorher

»Nein, das werde ich nicht tun! David, ich denke, du hast Melissa etwas zu sagen. Wenn du es nicht tust, werde ich es machen – es bleibt dir also keine Wahl«. Melissa sah verwirrt vom einen zum anderen.

»David, sag doch bitte was. Was soll das Ganze hier? Woher kennt ihr euch? Oh Gott… Ist sie deine Geliebte? Betrügst du mich etwa«? Melissas Augen wurden weit und sie starrte David besorgt entgegen.

»Melissa, nein, um Himmels willen, nein, natürlich nicht! Denk doch nicht sowas«, sprudelte es aus David hervor. Er wollte an Nele vorbei, um seine Frau in den Arm zu nehmen und diese missliche Lage aufzuklären.

In einem unbeobachteten Moment hatte Nele sich das Kuchenmesser geschnappt und stand damit nun in der Küche zwischen den beiden. Sie hielt es hoch und zeigte mit dem Messer zuerst auf David und dann auf Melissa.

»Ihr beide bleibt, wo ihr seid. Keiner bewegt sich. David, wenn du es nicht machst, werde ich es jetzt tun«. Die Tonlage ihrer Stimme hatte sich geändert.

Nele presste die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

 

Er – Jetzt

»Nele! Bist du verrückt geworden? Leg das Messer weg«, zischte David. Doch statt das Messer beiseite zu legen, schnappte sich Nele Melissa, hielt sie von hinten fest und fuchtelte mit dem Messer erst in Davids Richtung und dann vor Melissas Bauch herum.

»Einen Scheiß werde ich tun, David. Sag es ihr. Jetzt«. David merkte wie ihm heiß wurde und er anfing zu schwitzen. Wenn Nele Melissa oder seinem Baby auch nur ein Haar krümmen würde; er konnte für nichts garantieren.

»Schon gut, ich rede ja schon, aber tu ihr nichts! Sie kann doch am wenigsten dafür«. Davids Stimme zitterte und er musste sich darauf konzentrieren, dass er die richtigen Worte hervorbrachte und seine Stimme nicht vollends versagte.

»Mel, ich kann das alles erklären, wirklich, du musst mir glauben«! David schaute Melissa flehend an.

»Jetzt sag schon David. Ich verstehe das alles hier nicht. Warum hält mir diese Fremde ein Messer an den Bauch? Woher kennt ihr euch«? David schluckte und atmete tief aus.

»Mel, das ist Nele – meine Exfrau und ich glaube, sie ist gerade dabei vollends durchzudrehen und den Verstand zu verlieren«. Wütend starrte er zu Nele, die das Messer noch näher in Richtung Melissas Bauch bewegte.

»Den Verstand verlieren? Du glaubst, ich verliere den Verstand? Soll ich dir mal zeigen wie es aussieht, wenn ich den Verstand verliere«? Sie fuchtelte immer näher vor Melissas Bauch herum und ihr irres Lachen füllte den Raum.

»Nein, nein, nein! Lass das, hör auf«, schrie David, aber es war schon zu spät. Nele setzte das Messer an und zog eine fein säuberliche Linie über Melissas Bauch. Nicht zu tief, um das Kind zu verletzen, aber tief genug, um Melissa bluten zu lassen und ihr weh zu tun.

 

Die Fremde – jetzt

Es tat gut, ihr weh zu tun. Wenn sie ihr weh tat, tat sie auch ihm weh. Und er hatte es verdient, Schmerzen zu spüren. All die Zeit schleppte sie nun selbst diesen ganzen Schmerz, diese Wut und diesen Berg an Trauer mit sich herum.

»Melissa, ich werde dir jetzt etwas erzählen. Dein Mann – mein Ex-Mann – schafft es ja nicht, es dir selbst zu sagen«. Nele hob das Messer an und starrte auf die rote Klinge, mit der sie gerade in Melissas Bauch geschnitten hatte.

»David und ich hatten einen Sohn. Ja, du hörst richtig. Wir hatten auch ein Kind, einen wunderbaren kleinen Jungen«. Ihre Stimme war nun nicht mehr so wütend und sie musste sich zusammenreißen, jetzt nicht in Tränen auszubrechen und die Kontrolle über die Situation zu verlieren.

»Sein Name war Lukas. Er war zauberhaft, einfach perfekt und er hatte sein ganzes Leben mit uns noch vor sich«. Nele atmete einmal tief ein und dann wieder aus. Das Messer in ihrer Hand zitterte.

»Er war fünf. Fünf Jahre alt, hörst du? An diesem sonnigen Nachmittag im April ging David mit ihm auf den Spielplatz und passte für diesen einen verdammten Moment nicht auf ihn auf. Er stürzte beim Spielen mit seinem Freund vom Klettergerüst und fiel so unglücklich, dass sein kleines, zartes Genick den Sturz nicht aushielt. Die Sanitäter konnten schon vor Ort nichts mehr für ihn tun«. Nun konnte Nele es doch nicht mehr aufhalten und ließ ihren Tränen freien Lauf.

»Das alles war allein Davids Schuld. Er hat nicht auf unseren Jungen aufgepasst. Wegen ihm ist Lukas jetzt tot. Und jetzt sitzt er hier mit dir in dieser schicken Wohnung und ihr seid dieses perfekte Paar mit einem perfekten Leben und bekommt das, was David mir genommen hat: ein Baby«! David schlug die Hände vors Gesicht und weinte nun ebenfalls.

»Nele, es war ein Unfall, ein dummer, dummer Unfall und das weißt du! Ich würde alles dafür geben, es rückgängig machen zu können. Aber bitte lass Melissa da raus, sie kann für all das am wenigsten«! Nele schaute zu David, dann auf das Messer und dann hinunter auf Melissas runden Bauch.

»Jeden gottverdammten Sonntag gehe ich zu seinem Grab und bringe ihm frische Vergissmeinnicht, denn im Gegensatz zu dir vergesse ich ihn nicht, schließe mit meinem alten Leben ab und baue mir einfach ein Neues auf«, schluchzte sie.

 

Sie – jetzt

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Die Vergissmeinnicht auf dem Tisch, das anonyme Foto im Briefkasten, die fremde Frau im Supermarkt, mit der sie „zufällig“ zusammenstieß und die „zufällig“ ihren Schlüssel fand.

Die Fremde war gar nicht so fremd wie sie zu sein schien. Das alles war ein Akt der Rache.

 

Er – jetzt

»Nele, hör auf damit. Es reicht, es reicht verdammt nochmal«, flehte David.

»Unsere Beziehung war am Ende. Wir haben keinen gemeinsamen Weg gefunden, mit dem Tod unseres Sohnes umzugehen und ja, ich habe mir ein neues Leben aufgebaut. Lass. Melissa. Los. Jetzt«!

 

Die Fremde – jetzt

Nele zitterte und ihr Atem ging stoßweise.

Sie hielt das Messer hoch und ihr Blick ging von Melissas Bauch zu ihrem eigenen und wieder zurück. Hin und her. Hin und Her. Und dann stach sie zu…

 

6 thoughts on “Vergissmeinnicht

      1. Wirklich gut geschrieben, total packend, man kann sich alles wirklich sehr gut bildlich vorstellen. Aber trotz sehr genauer Beschreibung bleibt auch genug Platz für eigene Interpretationen, gerade beim Ende.
        Einfach sehr gut gemacht!

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