Dean22Vergissmeinnicht

Sie erwachte, ohne zu wissen, dass sich ihr Leben ab dem heutigen Tag wohl für immer verändern würde. Die Nacht war unruhig und wenig erholsam.

Traumlos war ihr Schlaf schon länger nicht mehr. Seit ihrer letzten Begegnung mit Markus hallten seine Worte wie ein immer währendes Echo durch ihren Kopf und ließ sie beinahe täglich schweißgebadet aufwachen.

So war es auch heute. „Wir sehen uns bald wieder, versprochen. Und bis dahin – Vergissmeinnicht.“ Die Worte, die so harmlos klangen, versetzten sie immer wieder in Angst und Schrecken.

Sie streckte sich, zwang sich, sich zusammenzureißen und stand auf. Auf dem Weg ins Bad stellte sie sich ihre Lieblings-Playlist an und stieg unter die Dusche, um die Schatten der Nacht herunter zu waschen.

Nachdem sie sich nun wieder frisch fühlte, ging sie in die Küche und hielt kurz inne. Irgendetwas war hier anders, wobei sie nicht direkt sagen konnte, was es war.

Während sie sich Frühstück machte, glitt ihr Blick über den Küchentisch und nun wusste sie, was sie so irritiert hatte. Mitten auf dem Tisch stand ein Blumengesteck, hauptsächlich bepflanzt mit Vergissmeinnicht.

Das Gefühl der Panik schoss durch Christin mit einer Heftigkeit, die sie erstarren ließ. Sollte Markus sie etwa doch gefunden haben? 

Hektisch schnappte sie sich ein Messer aus dem Küchenblock und inspizierte gründlich ihre Wohnung. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie auch wirklich alleine war, widmete sie sich dem Gesteck und entdeckte ein Handy, das mitten in den Blumen drapiert war.

Ihre Hände zitterten, als sie danach griff. Was sollte das, wie sollte sie das Handy entsperren? Sie versuchte es mit ihrem Geburtsdatum, leider ohne Erfolg. Als Nächstes probierte sie den Klassiker „123456“ aber auch davon zeigte sich der Sperrbildschirm unbeeindruckt. Beim dritten und letzten Versuch nahm sie den Tag, an dem sie Markus kennenlernte.

Das Gerät entsperrte sich und zeigte ein Video, das darauf wartete abgespielt zu werden.

Christin drückte den Play-Button und ihr Atem stockte.

Markus Gesicht füllte den Bildschirm, seine Gesichtszüge zu einer gehässigen Maske verzogen.

„Hallo Liebes!“, erklang seine Stimme schnarrend aus dem Lautsprecher.

„Wie ich höre geht es dir in deinem neuen Leben gut. Vielleicht hättest du nur besser mit deinem Nachbarn keine Affäre begonnen. Schließlich gehörst du mir und das weißt du. Aber was soll ich lange drum herum reden?“, in diesem Moment schwenkte das Bild auf einen jungen, gut aussehenden Mann, der gefesselt auf einem Stuhl saß und verängstigt in die Kamera guckte.

„Miguel“, flüsterte Christin erschrocken und zwang sich, das Video weiter anzusehen.

„Dein kleiner Freund war gesprächiger, als es dir vermutlich lieb wäre. Dass kann natürlich auch an meinen kleinen Freunden hier liegen.“ Wieder schwenkte die Kamera kurz, diesmal zeigte das Bild ein Tablett mit, wie es aussah, Folterwerkzeugen. Markus lies das Bild einen Moment für wirken, dann tauchte er wieder im Blickfeld auf.

„Nun denn Carolin, oder sollte ich dich lieber Christin nennen? Es liegt an dir wie es nun weitergeht. Du weißt nun ich habe dich gefunden. Und ich werde dich jetzt noch einmal im guten an dein Versprechen erinnern.

Du sagtest einmal wir würden gemeinsam durch dick und dünn gehen. Warum willst du denn jetzt, dass unser Traum mit meiner Inhaftierung endet?  Wenn du bereit bist mit mir zu sprechen melde dich einfach. Ich habe dir meine Nummer in diesem Telefon abgespeichert. Sieh es einfach als Geschenk um dir zu zeigen wie gern ich dich noch immer hab.

Und bevor du überlegst irgendwelche Dummheiten anzustellen vergiss nicht, dass ich hier in bester Gesellschaft bin.“

Ein letztes Mal schwenkte die Kamera auf Miguel, der deutlich mitgenommen aussah.

„Christin es tut mir so leid, lass dich auf nichts ein!“, rief er noch, bis er dafür einen kräftigen Schlag kassierte und das Bild auf einmal schwarz wurde.

Christin, die in Wirklichkeit Carolin hieß, hielt inne. 

Ihr Herz raste. Wie angestochen rannte sie in ihr Büro und fegte alle Zettel und Notizen von ihrem Whiteboard. 

Sie musste alle Informationen festhalten, solange sie frisch waren. 

Markus hatte sie gefunden. Er war ihr Ex, den sie damals bei ihrer Arbeit bei der SOKO „Vergissmeinnicht“ kennengelernt hatte. 

Zu dieser Zeit ermittelten Sie und ihre Kollegen gegen einen Mann, der bisher fünf Morde an Frauen begangen hatte. Er legte sie auf einem Friedhof ab und setzte ihnen einen kleinen Kranz aus geflochtenen Vergissmeinnicht auf den Kopf. Ein psychologisches Gutachten hatte ergeben, dass es sich bei dem Täter um einen Mann handeln musste, der ein gestörtes Verhältnis zu Frauen hatte und diese in einer Beziehung besitzen wollte. Wenn seine Partnerinnen dann zu selbstständig wurden „entledigte“ er sich ihnen. Der Blumenkranz sollte symbolisieren, dass er auch über die Grenze des Todes hinaus nicht loslassen konnte und er weiterhin der einzige Gedanke im Leben seiner Opfer sein wollte.

Nun war es leider nicht so, dass sie sich als Partner oder Kollegen kennengelernt hatten. Die Situation war um einiges komplizierter. 

Während sie nämlich auf der Jagd nach einem grausamen Mörder war, trat ein äußerst gut aussehender und auch charmanter Mann in ihr Leben. Er war stets ein guter Zuhörer  und hatte immer Verständnis, wenn sie aufgrund ihrer Arbeit eine Verabredung absagen musste. Ein Mann wie er war Carolin noch nie begegnet und so dauerte es nicht lange bis sie sich in ihn verliebte.

Erst sehr viel später wurde ihr klar, dass sie die Nacht mit der Person verbrachte, die sie tagsüber so verbissen suchte.

Bei all den Erinnerungen schauderte sie, aber zwang sich dazu weiterzumachen.

Wenn sie Markus diesmal stoppen wollte, durfte sie nichts aus ihrer Vergangenheit übersehen und musste alles von Beginn an aufrollen.

Hinter sein Geheimnis kam sie, als sie das Gefühl hatte mehr und mehr kontrolliert zu werden. Anfangs wollte sie es noch nicht ganz wahrhaben wobei sich die Anzeichen irgendwann nicht mehr leugnen ließen.

Zunächst folgte er ihr überall hin, durchsuchte ihr Handy und fragte sie nach ihrem Tag aus. Als er das Gefühl hatte nicht genügend zu erfahren drohte er ihr mit Schlägen, sollte sie irgendwelche Informationen unterschlagen.

Zu diesem Zeitpunkt war sie sich sicher, dass Markus nicht der war der er zu sein vorgab. Gemeinsam mit ihren Kollegen hatte sie daher einen Plan entwickelt mit dem sie ihn in die Falle locken und dingfest machen wollten.

So lud Carolin Markus zu einem verlängerten Wochenende nach Hamburg ein, während ihre Kollegen zu Hause dabei waren ihre Wohnung mit Kameras und Mikrofonen auszustatten. Bei ihrer Rückkehr fing Carolin dann an, immer mehr Dinge zu tun von denen sie wusste, dass sie Markus auf die Palme bringen würden. Mal erzählte sie von dem netten Kollegen mit dem sie zu Mittag gegessen hatte, wann anders gab sie ihm keine Auskunft über ihren Tag, obwohl er sie dazu aufforderte.

Der Plan war so konzipiert, dass sie ihn bis auf’s Blut reizen sollte um eine Reaktion zu provozieren, die dafür sorgte, dass er sich verriet. Zu ihrer Sicherheit waren immer ein paar Kollegen in der Nähe um im Ernstfall eingreifen zu können.

Den Höhepunkt erreichte diese Aktion an dem Tag, an dem sie provokant ein Töpfchen mit Vergissmeinnicht ins Wohnzimmer stellte, ihm fest in die Augen sah und erwähnte wie nett ihr Kollege doch sei ihr diese Blumen zu schenken.

Daraufhin verdunkelten sich Markus Augen merklich und er schritt bedrohlich auf sie zu.

„Caro“, hatte er sie gefragt, „bist du wirklich so naiv? Denkst du ich weiß nicht was hier gespielt wird?“ 

Sein diabolisches Grinsen, das darauf folgte, würde sie nie vergessen. Genau so wenig wie sein Lachen als sie ihm eröffnete, dass ihre Kollegen nur darauf warteten zuzugreifen.

Daraufhin zeigte er ihr ein Foto ihrer hingerichteten Kollegen und versicherte ihr damit glaubhaft, alleine mit ihm zu sein.

Das letzte, woran sie sich in der Situation erinnerte, waren seine Worte.

„Liebes, ich hoffe du hast Verständnis dafür, dass ich für’s erste Verschwinden muss. Wir sehen uns bald wieder, versprochen. Und bis dahin – Vergissmeinnicht.“

Dann hatte sie ihn nur noch ausholen sehen und ihr wurde schwarz vor Augen.

Ein paar Stunden später war sie mit hämmernden Kopfschmerzen aufgewacht. In der Wohnung war alles von Markus verschwunden, selbst die Fotos hatte er aus den Rahmen genommen und ihren Handyspeicher gelöscht. Das einzige was darauf hindeutete, dass er jemals da gewesen war, ist das Vergissmeinnicht, dass er ihr vor seinem Verschwinden hinter ihr Ohr geklemmt hatte.

Nachdem Carolin so lange in der Vergangenheit gewühlt hatte, hat sich das Whiteboard beinahe wie von selbst gefüllt.

Nun galt es herauszufinden, wie er so lange untertauchen konnte. Was aber noch viel bedeutender war, war die Frage wie er sie gefunden hatte. Immerhin war sie, nachdem sie an besagtem Tag aufgewacht war direkt zu den Kollegen gegangen und hatte ihnen alles berichtet.

Da man nicht riskieren konnte, dass Carolin noch einmal so einer Gefahr ausgesetzt werden würde und ihre Aussage gefährdet wäre brachte man sie in einem Zeugenschutzprogramm unter. Sie bekam eine neue Identität und eine neue Heimat, die nicht einmal ihre alten Kollegen kannten.

Sie wusste, dass sie ihnen besser die Jagd nach Markus überlassen sollte, doch durch die Entführung von Miguel und der Art wie Markus sie nur benutzt hatte, um an Informationen zu kommen, hatten diesen Fall für sie persönlich werden lassen. Zu lange hatte sie sich als Opfer in die Ecke gedrängt gefühlt. Es war an der Zeit zurückzuschlagen. 

Markus hatte sich aus seiner Deckung begeben. Das heißt, dass ihre Kollegen ihn scheinbar aufgeschreckt hatten und er sich nicht mehr so unantastbar fühlte wie vor ein paar Monaten. Die Tatsache, dass er sich eine Geisel genommen hatte, bewies er das nur zu deutlich.

Zudem wollte er Kontakt zu ihr aufbauen, sie sollte sich schließlich bei ihm melden.

Und obwohl dies das Letzte war, was sie wollte, würde sie es tun. Sie durfte jetzt nicht nur an sich denken, sondern an Miguel.

Sie hatte ihn kennengelernt, als sie selbst schon einige Tage in ihrer neuen Wohnung lebte. Eines Tages klingelte es dann und er stellte sich ihr als Nachbar vor. Zunächst war sie sehr vorsichtig, nach dem, was sie erlebt hatte, stand ihr der Sinn nicht nach Gesellschaft. Doch Miguels sonnigem Gemüt konnte sie sich nicht vollkommen entziehen und je sicherer sie sich in ihrer neuen Umgebung fühlte, desto mehr Zeit verbrachte sie mit ihm. Gemeinsam erkundeten sie die Stadt, gingen spazieren oder machten es sich bei einem von ihnen gemütlich.

Wie kam es nun also, dass Markus sie über Miguel gefunden hatte?

Am wahrscheinlichsten erschien ihr, dass Miguel eines ihrer Fotos gegen ihren Willen bei Instagram gepostet hatte.

Letztendlich tat es aber auch nichts zur Sache, wie Markus sie gefunden hatte. Viel wichtiger war es, ihn jetzt dingfest zu machen.

Sie atmete noch einmal tief durch, griff zu dem Handy und wählte die gespeicherte Nummer.

Lange warten musste sie nicht. Nach dem ersten Freizeichen nahm er ab.

„Du hast mich also nicht vergessen. Braves Mädchen.“, begrüßte er sie.

Sie wollte zu einer schnippischen Antwort ansetzen, da fuhr er schon fort.

„Ich will nicht lange drum herum reden. Ich bin sehr enttäuscht von dir. Erst verrätst du mich an deine Kollegen und nun leugnest du auch noch deine Liebe zu mir. Was willst du mit diesem schmächtigen Latino, wenn du doch bei mir alles hast was du brauchst? Ich gebe dir die Chance zu mir zurückzukommen. Wir werden so glücklich werden wie nie.

Dafür musst du mir aber beweisen, dass du das auch willst. Wenn du mich innerhalb der nächsten 12 Stunden findest, werde ich deinen kleinen Freund vielleicht doch nicht umbringen.

Solltest du allerdings scheitern, stirbt er. Und ich werde dich zu mir holen, dieses Mal für immer.“

Dann war die Leitung tot.

„Dieses Arschloch!“, rief sie frustriert. Wie sollte sie in so kurzer Zeit herausfinden, wo sich die beiden aufhielten?

Ihr erster Impuls war es, alle Orte durchzugehen, die sie in ihrer Zeit mit Markus besucht hatten. Da stach allerdings keiner so wirklich draus hervor. Als nächstes dachte sie an die Fundorte, an denen sie die Leichen der fünf Frauen gefunden hatten. Aber die Friedhöfe schienen ihr nicht der geeignete Ort um unbemerkt einen Mann gefangen zu halten und ihn zu foltern.

Auf einmal kam ihr der Gedanke, dass Gesteck mit den Blumen auseinanderzunehmen. Immerhin liebte der Kerl, es Spielchen zu spielen. Warum sollte er dann nicht irgendwelche Hinweise hinterlassen?

Und tatsächlich, als sie die Blumen etwas energischer schüttelte segelte ein kleiner Zettel auf den Boden.

„Am besten beginnst du deine Suche dort, 

Wo ich dich zuerst sah.

Allzu weit musst du nicht fort,

Ich war schon immer da.“

Was sollte sie nur mit einer so kryptischen Nachricht anfangen?

Sie überlegte, wo Markus sie beobachtet haben konnte und was irgendwie zwischen ihrem jetzigen Aufenthaltsort und ihrem alten Wohnort lag. Immerhin sagte er, sie müsse nicht weit fort.

Sie verfluchte sich für ihr schlechtes Gedächtnis und suchte im Kopf panisch nach Orten, die sie besucht hatte, bevor sie Markus kannte.

Da sie innerhalb des letzten Jahres kaum auf Ausflügen, geschweige denn im Urlaub gewesen war, konnte er sie eigentlich nur gesehen haben, wie sie einen Tatort inspizierte.

Ein weiterer Gedanke keimte in ihr auf. Wenn Markus sich ihr angenähert hatte um nah am aktuellen Stand der Ermittlungen zu sein, war dann nicht auch denkbar, dass er dafür eine andere Identität angenommen hatte?

Sie musste dringend dafür sorgen, dass sie Zugriff auf die Akten der Vergissmeinnicht-SOKO bekam. Durch das Zeugenschutzprogramm war es leider nötig gewesen, sie von den weiteren Ermittlungen auszuschließen.

Da sie nun aber eh von Markus gefunden worden war, sah sie keinen Grund, sich gegenüber der Kollegen weiter bedeckt zu halten. Es gab nur einen, den sie nun anrufen konnte. Während sie Davids Nummer wählte, überlegte sie schon, wie sie ihm ihre Situation am schonendsten beibringen sollte.

Lange musste sie nicht warten bis er sich mit einem etwas abgehetzten „Hallo?“, meldete.

„Oh David, Gott sei Dank gehst du dran. Ich brauche unbedingt deine Hilfe.“

„Caro, bist du es? Was ist los, ich denke wir dürfen keinen Kontakt haben?“

An dieser Stelle musste Carolin freudlos lachen.

„Glaub mir, in diesem Fall wäre es mir lieber, wenn wir jetzt nicht sprechen müssten. Hör zu, ich habe nicht viel Zeit. Du weißt, dass ich kein Freund davon bin, alte Gefallen einzufordern. Heute geht es allerdings nicht anders und ich muss dich bitten, dass du den anderen nichts von unserem Gespräch erzählst.

Markus hat mich gefunden. Er hat einen Freund von mir in seiner Gewalt. Wenn ich ihn innerhalb der nächsten 12 Stunden finde wird er ihn gehen lassen. Wenn ich zu lange brauche oder die Polizei einschalte wird er ihn töten.

Ich brauche den aktuellen Stand der Ermittlungen.“, für einen Moment kam ihr noch ein Gedanke, „und sende mir doch bitte alles, was wir zu den Schrottplatz Morden haben“

Sie konnte durch das Telefon hören, wie David schwer ausatmete. 

„Weißt du eigentlich was du da von mir verlangst? Es geht hier nicht um einen kleinen Gefallen wie den Dienst zu tauschen. Du verlangst vertrauliche Informationen aus Ermittlungen an denen du nicht mehr mitwirkst.

Alleine die Tatsache, dass ich mit dir spreche kann uns beide in Bedrängnis bringen.“

„David bitte. Du bist wirklich meine einzige Hoffnung. Es ist wirklich wichtig.“

„Na schön. Aber nur unter einer Bedingung.“, brummte er. „Ich lasse dir die Unterlagen zukommen. Dafür musst du aber versprechen, dass du mich regelmäßig darüber informierst was du herausgefunden hast und wo du hingehst.“

Erleichtert atmete sie auf. „Du bist der Beste! Mit der Abmachung kann ich leben. Ich verspreche dir, das mache ich alles wieder gut“.

„Du musst nichts wieder gut machen, pass nur bitte gut auf dich auf.“, erwiderte er, dann legte er auf.

Zufrieden legte Carolin ihr Handy beiseite. Nun konnte sie nur noch hoffen, dass David sich beeilen würde und dass ihr Geistesblitz sie in die richtige Richtung führte.

Sie machte einen kurzen Zeitcheck – 11 Stunden und 25 Minuten. Um immer auf dem aktuellsten Stand zu sein stellte sie sich ihren Timer.

Als sie nach zehn Minuten warten immer noch keine Antwort bekommen hatte, konnte sie nicht länger stillsitzen.

Sie beschloss, sich schon einmal auf ihren Ausflug vorzubereiten. Egal wo dieser sie hinführte, wollte sie gerne vorbereitet sein.

Sie schnappte sich ihren Rucksack, packte eine Taschenlampe, Wasser, einen Apfel und zur Sicherheit auch Verbandmaterial ein, auch wenn sie hoffte letzteres nicht zu benötigen. Dann schaute sie, was sich in ihrer Wohnung am ehesten zu Verteidigungszwecken eignete, da sie ihre Dienstwaffe, während ihrer Zeugenschutz-Zwangspause nicht mitführen durfte. Letzten Endes entschied sie sich für das Messer, dass sie heute Morgen schon zu ihrer Sicherheit in der Hand gehalten hatte. Dann tigerte sie durch die Wohnung und wartete auf die Akten. Zwischendurch vergewisserte sie sich immer wieder, dass sie auch wirklich alles gepackt hatte.

Als sie gerade zum x-ten Mal auf den Timer sehen wollte suggerierte der leise Ton ihres Laptops, dass eine Nachricht eingegangen war.

David hatte also Wort gehalten und die erforderlichen Unterlagen besorgt. Dabei hatte er, seiner Mail nach, erhebliche Schwierigkeiten gehabt, die Nachricht an sie sicher genug zu verschlüsseln. Das hatte wertvolle Zeit gekostet. Noch 8 Stunden und 22 Minuten.

Höchste Zeit, sich an die Akten zu setzen und zu prüfen, ob sich ihr Verdacht bestätigen sollte.

Dies hatte sie sich allerdings deutlich einfacher vorgestellt. Es waren beinahe zwei Stunden vergangen, in denen sie noch immer nichts gefunden hatte. Frustriert beschloss sie sich eine kurze Bildschirmpause zu gönnen, um den Kopf frei zu bekommen.

Sie schrieb David eine kurze Nachricht, in der sie sich für die Akten bedankte und ihn wissen ließ, dass sie immer noch in der Recherche steckte.

Was war es also, dass sie dazu hatte hinreißen lassen, die Akten der Schrottplatz Morde ebenfalls anzufordern? Vor zwei Jahren hatte ein Gruppe Jugendlicher beim rumlungern auf dem Schrottplatz die Leichen eines Mannes und seiner Ehefrau gefunden. Zunächst wurde vermutet, der Mann habe erst seine Frau und anschließend sich selbst getötet.

Aber wie sollte ihr das jetzt weiterhelfen? Auf einmal schoss es ihr wie ein Stromschlag durch den Körper. Der Sohn!

Auf ihn bezog sich die zweite Theorie zu den Morden. Die Kollegen konnten nicht ausschließen, dass nicht vielleicht auch der Sohn mit den Morden in Verbindung stand, nur konnte ihm niemand etwas nachweisen.

Sie selbst hatte anfangs auch in diesem Fall ermittelt, und den Tatort begutachtet. Als es allerdings darum ging, den Sohn genauer unter die Lupe zu nehmen, wurde sie für die Arbeit am Blümchen-Mörder-Fall, wie sie ihn anfangs noch nannten, abgestellt. Deshalb hatte sie ihn, auch nie zu Gesicht bekommen. Jetzt verstand sie noch mehr, warum Markus damals alle Bilder und Daten von sich vernichtet hatte. So blieb ihr nichts anderes übrig als ihn in einem Phantombild zu beschreiben.

Aufgeregt suchte sie in den Akten nach einem Foto des Sohnes. Leider fand sie nur seinen Namen.

Um einen Anhaltspunkt zu haben versuchte sie, ihn zu googeln und stieß dabei auf die Website des Schrottplatzes.

Als sie den Link öffnete, baute sich die Seite quälend langsam auf.

Doch dann sah sie ihre Befürchtung bestätigt.

Wir entsorgen Ihre Altlast! – lautete der makabere Slogan, neben dem Markus selbstgefällig grinste.

Hastig schrieb sie sich die Adresse raus, schnappte sich ihren Rucksack und teilte David im Gehen mit was sie herausgefunden hatte.

5 Stunden und 45 Minuten hatte sie noch. Laut Navi würde sie ca. 45 Minuten brauchen. Sie freute sich, dass die Zeit scheinbar doch auf ihrer Seite war.

Voller Enthusiasmus startete sie den Wagen, doch nichts passierte. Sie probierte es noch einmal. Fehlanzeige.

Genervt schlug sie aufs Lenkrad und entriegelte die Motorhaube.

Als sie diese anhob, entdeckte sie, dass sämtliche Kabel gekappt waren und dort ein kleiner Zettel klemmte.

Du dachtest doch wohl nicht, dass ich es dir so leicht mache, oder? Am besten beeilst du dich. Ich habe gehört die Busse fahren heute sehr unzuverlässig.

Das durfte doch jetzt wirklich nicht wahr sein. Nach dem Busfahrplan brauchte sie gar nicht schauen. Seit Tagen hatten sie einen Streik der Busse und Straßenbahnen angekündigt.

Also blieb ihr nur noch ein Taxi zu rufen oder sich einen Mietwagen zu nehmen. Sie klingelte sämtliche Taxistände ab um festzustellen, dass alle für die nächsten Stunden mit festen Fahrten ausgebucht waren.

Ein Mitarbeiter war sogar so freundlich sie darauf hinzuweisen, dass sie selbst Schuld hatte. Wer war schon so blöd und bestellte sich an einem Streik-Tag sein Taxi nicht vor?

So blieb ihr wohl nur noch das Rent-a-car. Das Nächste lag ca. 20 Gehminuten von ihr entfernt. Bevor sie da auch umsonst aufschlug, klärte sie telefonisch vorher ab, ob denn noch ein Auto verfügbar war.

Sie hatte Glück und ließ sich den günstigsten Wagen reservieren.

Dort angekommen stellte sie fest, dass sie scheinbar nicht die Einzige war, die diesen Gedanken hatte. Nachdem sie nun also noch weitere 15 Minuten ans Warten verlor, konnte sie endlich den Autoschlüssel entgegennehmen.

Leider lag das Auto in der entgegengesetzten Richtung zum Schrottplatz, sodass sie nun ca. eine Stunde für die Fahrt einplanen musste. Zum Glück hatte sie genügend Zeit. Sie teilte David noch in etwa ihre grobe Ankunftszeit mit. Sollte sie sich nicht innerhalb einer Viertelstunde melden, würde er die Kollegen verständigen.

Als sie bei dem alten Schrottplatz angekommen war, stand Markus zu ihrer Überraschung schon draußen. Vermutlich hatte er den Motor gehört oder ihr Handy geortet.

Er öffnete die Fahrertür und nahm ihr damit die Chance, noch schnell das Messer aus dem Rucksack einzustecken. 

„Wie schön, dass du es einrichten konntest, ich habe dich noch gar nicht hier erwartet.“, begrüßte er sie direkt.

„Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass am Streiktag alle Mietwagen schon weg wären. Aber was soll’s. Komm mit. Miguel und ich haben es uns gerade gemütlich gemacht.“

Er wedelte mit einem Revolver und führt sie quer über den Platz zu einem kleinen Bauwagen. In ihm saß Miguel an einem Stuhl gefesselt, hier und da war seine Haut von Hämatomen und kleinen Schnitten gezeichnet, aber auf den ersten Blick schien er nicht lebensbedrohlich verletzt zu sein, stellte sie erleichtert fest.

Markus wies ihr ebenfalls einen Stuhl zu und reichte ihr eine Tasse mit Kaffee.

„Wir wollen es uns jetzt schließlich bequem machen.“, quittierte er ihren fragenden Blick, den Revolver noch immer in seiner Hand.

Carolin traute sich immer noch nicht, etwas zu sagen. Das war zum Glück aber auch nicht nötig. Markus schien äußert redebedürftig zu sein.

„Wisst ihr was mich so richtig an den Weibern nervt? Erst machen sie einen auf weich und verständnisvoll. Wollen immer da sein und einen umsorgen. Aber irgendwann zeigen sie ihre egoistische Seite. Dann wollen sie ihren Freiraum und dir nicht mehr sagen was sie den ganzen Tag so treiben.“

Unvermittelt holte er zu einer Ohrfeige aus, die Carolin kalt erwischte.

„Ihr Schlampen seid alle gleich“, geiferte er. „Meine Mutter war am schlimmsten. Jahrelang bemuttert sie mich und dann eines Tages, als sie ihren neuen Mann kennenlernt sagt sie ich wäre alt genug um auf eigenen Beinen zu stehen.

Rausschmeißen wollte die Alte mich. Und warum? Wegen ihrer Selbstsucht. Vergessen wollte sie mich. Mir blieb doch gar nichts anders übrig als sie kalt zu machen.“

Blanker Hass spiegelte sich in seinen Augen, sein Gesicht war vor Aufregung ganz rot geworden.

„Nun Carolin, du bist die Nächste, die ihre Bedürfnisse über die der anderen stellt. Findest du es denn fair mich zu verlassen, nach allem was ich für dich getan habe? Ich habe mich immer, für alle Frauen in meinem Leben, aufgeopfert.“

Carolin konnte sich ein spöttisches Lachen nicht verkneifen.

„Was hast du bitte für mich getan? Du hast mein Leben zerstört.“ Für die Aussage kassierte sie den nächsten Schlag. Dieser ging in die Magengrube und sie hatte Mühe sich nicht zu übergeben.

„Du scheinst mich nicht zu verstehen“, entgegnete er auf einmal beängstigend ruhig. „Also werde ich die Frage deutlich stellen. Was soll ich mit euch beiden anstellen? Eigentlich wollte ich dich gerne zurücknehmen Carolin. Ich hätte dir deine Vergehen verziehen. Aber du gibst mir nicht das Gefühl, dass du das noch willst. Sollte ich euch vielleicht ebenfalls das Licht ausknipsen?“ Um seine Worte zu unterstreichen, spannte er den Hahn der Waffe.

In diesem Moment sah Carolin ihren letzten Ausweg. Es blieb keine Zeit mehr auf ihre Kollegen zu warten, sie musste die Oberhand in dieser Situation gewinnen.

Sie fluchte innerlich, dass sie ihr Messer im Auto lassen musste und beschloss ihren Angriff verbal zu starten.

„Ach bitte“, sagte sie und nahm damit ihren ganzen Mut zusammen, „wenn hier einer egoistisch ist, dann bist du das. Seit Minuten höre ich mir hier dein weinerliches Gesülze an. Wenn du ein so aufopferungsvoller Mann bist wie du behauptest, warum konntest du dann nicht eine einzige Frau aus deinem Leben bei dir behalten? “

Ein Blick auf Markus zeigte ihr, dass ihre Worte den gewünschten Effekt erzielten und sie fuhr fort. 

„Auch wenn du dein Angebot gütig findest, dass ich zu dir zurück dürfte, kann ich dir versichern, dass wird niemals passieren. Ich bin durch mit dir.“

Sein Gesicht wurde puterrot, damit hatte er nicht gerechnet. Er starrte sie wutentbrannt an.

„Das hättest du besser nicht gesagt.“, zischte er und richtete die Waffe auf sie.

Sie nutzte den Überraschungsmoment, sprang auf und kippte ihm den heißen Kaffee, den sie immer noch in der Hand hatte ins Gesicht.

Ein Schuss löste sich und streifte Miguel am Arm. 

Markus hielt sich die Hände ins Gesicht und schrie vor Schmerzen. Carolin nutzte die Gelegenheit und schlug, so hart sie konnte mit der leeren Tasse auf seinen Hinterkopf.

Er sank zu Boden und schien für’s erste sein Bewusstsein verloren zu haben.

Eilig löste sie Miguels Fesseln und legte sie dann Markus an und nahm seine Waffe an sich.

Dann inspizierte sie Miguels Wunde und drückte ihn an sich.

„So hatte ich mir unser nächstes Date nicht vorgestellt“, murmelte Miguel, „du hast mir wohl noch einiges zu erzählen.“

„Alles zu seiner Zeit, erstmal sind die Jungs da draußen dran.“, sagte sie und gemeinsam gingen sie dem Blaulicht entgegen.

37 thoughts on “Vergissmeinnicht

  1. gute Geschichte – ich hätte mir noch eine unerwartete Wendung zum Schluss gewünscht oder ein etwas offeneres Ende

    Aber die Geschichte ist gut und leicht geschrieben und man will weiterlesen.Spannend von Anfang bis zum Ende daher auch ein Herz von mir!

    Daniel / thomaskaufmann11
    “Black Mask”

      1. Fesselnd! Carolins persönlicher Fall hat mich sofort mitgerissen und dein Schreibstil bewirkt unmittelbar Bilder in meinem Kopf. Gelungener Einstieg, exzellentes Ende. Höre noch die Sirenen nachhallen. Bin schon heiß auf eine weitere dramatische und packende Story der Ermittlerin Carolin, auf der Jagd nach dem nächsten charakterstarken und erbarmungslosen Ungeheuer! Viel Erfolg!

  2. Hui, spannend und gut gemacht. Und am Ende tritt Deine Heldin ja sogar richtig stuntmäßig in Aktion! Spannend, linear durcherzählt – vielleicht kannst Du die Zeiten noch etwas differenzierter einsetzen (z.B. Plusquamperfekt für Vor-Vergangenes) – dann ist’s perfekt 👍

      1. Die Geschichte überrascht mit einer Mischung aus Spannung und Neugierde, die von einem Verbrechen und seiner Aufdeckung handelt. Alle Figuren haben ihren Sinn in der Geschichte und zeigen genau wie bösartig der Mensch seien kann. Realitätsnah und spannend, trotzdem leicht zu lesen.
        Ich fand die Geschichte interessant und lesenswert. Diese Art zu erzählen hat mir gut gefallen und macht Lust auf mehr.

  3. Ich habe deine Geschichte heute zum dritten Mal gelesen und es fasziniert mich, wie strukturiert die einzelnen Szenen und Wendungen ein komplettes Bild ergeben. Ab und zu schaue ich mir gern deutsche Krimis im Fernsehen an und bin auch dann oft überrascht, welche Wege diese Krimis nehmen, um eine gute Geschichte zu erzählen. Ich würde deine Geschichte sehr gern verfilmt sehen und würde mich freuen, wenn aus dieser Kurzgeschichte vielleicht ein Roman wird.

  4. Vielen Dank, dass ich diese schöne Geschichte lesen durfte. Es ist echt schwer eine gute Story auf nur ein paar Seiten zu schreiben, aber mit dieser hast du es echt gut auf den Punkt gebracht.

    Die Geschichte ist spannend, ich wusste immer, in welcher Zeitschiene ich mich befinde und ein schöne Happyend hatte sie auch.

    Ich würde mich sehr freuen, wenn du in das E-Book kommst, damit ich sie dort nochmal Lesen kann.

    Ich wünsch dir noch viel Erfolg bei deinen weiteren Storys zu der Polizistin Carolin (ich hoffe, da kommen Fortsetzungen(!?!)

    Viele Grüße

  5. Moin, Dean! Danke zunächst einmal dafür, dass Du bei mir warst und Dir Zeit für meine Geschichte genommen hast! Gern habe ich eben Deine Story gelesen! Sehr gern sogar! Interessant, das Ganze mal im Polizeimilieu anzusiedeln! Ich glaube, das hatte ich noch nicht. Fand ich gut. Wir fatal, sich ausgerechnet in diesen Irren zu verlieben … aber nun gut, sie hat es ja am Ende – tough woman YEAHHHH !!!! -gut gelöst!

    Mein Like hast Du!
    Obwohl: n büschen klein ist das hier! Ich hab mir Deine Story mal frech in mein Word gezogen und auf 12 Punkt vergrößert (frau wird ja nicht jünger, nicht wahr?!). Aber sonst ….

    Viel Glück heute noch!
    Kathrin aka Scripturine / https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/die-nacht-in-der-das-fuerchten-wohnt

  6. Hallo Dean,

    besser spät als nie 😊. Durch Umwege bin ich zu deiner Geschichte gestoßen und mich wundert das du nicht mehr Likes hast.
    Mein ♥ hast du ab jetzt. Mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen, besonders das Carolin nun eigentlich zwei Fälle aufgelöst hat und das es für alle ein Recht glückliches Ende genommen hat.

    Ich drücke dir die Daumen für das e-book.

    Vlt. Hast du auch noch Lust und Zeit meine Kurzgeschichte zu lesen ich würde mich freuen.

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/verloren-einfach-alles-verloren

    LG Lydia

  7. Hallo Dean,
    Durch einen Kommentar von Dir bin ich auf deine Geschichte aufmerksam geworden. Zum Glück 😁. Einen tollen Krimi hast du hier erschaffen. Super ist auch das dein Ende Platz für eine Fortsetzung lässt. Ich konnte mir die Christin/Carolin die ganze Zeit über super vorstellen. Ein Like habe ich Dir gerne gegeben 💛. Viel Erfolg.

    Schönen Start in die Woche.

    Liebe Grüße

    Maddy

    P. S Vielleicht findest Du ja noch etwas Zeit und Lust für meine Geschichte 😇☺️.
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/alte-bekannte Alte Bekannte.

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