bellanja17Verloren

Er brauchte fast den ganzen Samstag, bevor er diesen einen Satz abschickte.
„Lust auf ein Kennenlernen?“
„Gerne. Heute, 17 Uhr?“
„Ich kann nur am Donnerstag. Um 19 Uhr zum Apéro in der Feilitzbar?“
Sie antwortete nicht. Er wartete, kaute am Daumennagel, lief unruhig durch die Wohnung. Dann das Signal einer neuen Nachricht.
„Schön, dass du ein Zeitfenster gefunden hast. Donnerstag passt bei mir. Bis dann, Superhero95.“

Er grinste. Es hatte funktioniert. Er fiel in ihr Beuteschema. Selbst der schmierige Profilname schreckte sie nicht ab. Mein Gott, wie bedürftig sie war.

Die S6 brachte Isabella am Montag pünktlich um 7:37 Uhr zur Arbeit nach Starnberg. Sie bestellte ihr Frühstück im Bahnhofskiosk und ging zu ihrem Stammtisch. Mit Blick auf den geschäftigen Morgenbetrieb schlürfte sie den bitteren Kaffee, der in Kombination mit der Butterbreze den Magen angenehm füllte. Inmitten dieses Trubels fühlte sie sich aufgehoben. Das Handy klingelte, reflexartig griff sie in ihre Tasche. Der Ton klang seltsam laut und nah. Es war nicht ihr Handy. Das Geräusch verstummte nicht, die Leute an den Nachbartischen sahen zu ihr rüber. Sie hob die achtlos liegengelassene Tageszeitung ihres Vorgängers auf der Ecke an. Da lag es. Eingehender Anruf von unbekannt blinkte ihr entgegen. Spontan ging sie ran. „Hallo?“ Keine Reaktion. „Hören Sie, wem gehört das Handy? Ich habe es gerade durch Zufall hier im Café gefunden. Ich würde es gerne zurückgeben.“ Der Anrufer legte auf. Seltsam. Isabella spürte die neugierigen Blicke der anderen Gäste. Sie trank ihren Kaffee aus und ging zur Theke. „Sorry, ich hab‘ hier ein…“, sie brach ab, als ihr Blick auf dem Sperrbildschirm des Handys hängenblieb. Das war unmöglich. Fassungslos starrte sie auf das Foto, Zeit und Raum schienen zu verschwimmen. Die Säure des Kaffees brannte, ein ziehender Schmerz in ihrem Nacken brach sich Bahn Richtung Schläfe. Mit zitternden Fingern inspizierte sie das teure Smartphone in ihrer Hand. Suchte nach Hinweisen. Fand nichts. Es ließ sich nicht entsperren. Fragte an Nachbartischen, ob jemand etwas beobachtet hatte. Nur kollektives Kopfschütteln. Kurzerhand steckte sie das Handy ein und verließ mit wackligen Knien das Café.

Wie sie den Arbeitstag überstand, wusste sie später nicht mehr. Die Sachbearbeiterinnen gingen ihr gewohnheitsmäßig aus dem Weg. Das virtuelle Meeting mit dem Kunden in USA am späten Nachmittag leitete Alexander. Sie hoffte, dass er ihre Fahrigkeit nicht bemerkte. Alexander, ihr Chef und CEO der Agentur, blieb noch bei ihr stehen, während sie ihre Sachen zusammensuchte. „Alles in Ordnung bei dir? Du bist so blass. Soll ich dich besser heimfahren?“ Bevor ihr die Tränen kamen, schüttelte sie nur den Kopf und rannte aus dem Büro.

Zuhause nahm Isabella das Handy mit spitzen Fingern aus ihrer Handtasche. Wie eine Schürfwunde ihres Bewusstseins hatte es den Tag dort mit ihr verbracht. Sie erwartete, dass es noch mal klingeln würde. Aber es blieb still. Sie nahm die verstaubte Whiskey-Flasche aus dem Regal und setzte sich auf den Balkon, quetschte ihr Glas und das Smartphone neben das vertrocknete Basilikum und rauchte. Während sie sich langsam entspannte, überlegte sie, was passiert war. Wie konnte ein einziges Foto diese Panik in ihr auslösen? Es war nicht irgendein Foto. Es war aufgenommen in einer Zeit lange vor Smartphones. Es musste abfotografiert sein. Jetzt war alles wieder lebendig und es tat entsetzlich weh. Von diesen bangen Monaten damals wusste nur eine einzige Person. Die auch dieses Foto von ihr aufgenommen hatte. Anja. Sie musste Anja finden. Was wollte sie von ihr? Hatte sie das Handy für sie platziert? Das ergab alles keinen Sinn.

Am nächsten Morgen nahm sie sich Kaffee und Brezn mit ins Büro und scannte beim Rausgehen noch einmal die Bahnhofsumgebung. Es gab verschiedene Orte, von wo aus man einen guten Blick auf ihr werktägliches Frühstücksritual nehmen konnte. Von wo aus man unbemerkt den Anruf tätigen konnte, um genau abzupassen, dass sie das klingelnde Handy finden musste. Wer wollte sie so verletzen und vor allem, warum? Sie kam nicht weiter mit diesen Grübeleien. Anja war ein Teil ihres Lebens damals, auch wenn Isabella sie nicht Freundin nennen würde. Und doch war ihr Anja durch ihre ständige Präsenz in Wohnung und Uni und auf den unzähligen Partys ihrer kleinen WG sehr nah gekommen. Jetzt rächte es sich, dass sie einen Menschen in ihr Leben gelassen hatte, der um ihr Geheimnis wusste.

Ihre Internetrecherche lief ins Leere. Isabella suchte in allen möglichen Portalen nach Anja: an der Uni, in Business- und sozialen Netzwerken. Wenn sie geheiratet hatte, dann war es schwierig, sie zu finden. Vielleicht wollte sie nicht gefunden werden. Oder, und das war am wahrscheinlichsten, Isabella hatte nur halbherzig gesucht. Wenn Anja ihr etwas mitteilen wollte, dann sollte sie sich gefälligst bei ihr melden. Mit offenem Visier kämpfen. In ihren anfänglichen Schock mischte sich Wut.

Die Wochentage vergingen. Das Smartphone gab keine weiteren Erkenntnisse preis. Kein Anruf mehr. Sie trug es bei sich, hielt den Akku mit ihren eigenen Ladegeräten am Leben. Betrachtete täglich ihr Foto und konnte einfach nicht verstehen, was es ihr sagen sollte.

Isabella freute sich auf ihre Verabredung für den Abend. Sie verließ die Arbeit früh. Um 19.05 Uhr durchquerte sie die Feilitzbar und erkannte superhero95 auf Anhieb. Foto und Wirklichkeit stimmten angenehm überein. Er stand auf, als er sie sah und sie begrüßte. Er war groß, seine Hand warm und zupackend, seine Stimme dunkel. Er gefiel ihr. Sie empfand Vertrautheit in seiner Gegenwart, obwohl sie sich vorher noch nie begegnet waren. Oh je, die Schrecken der letzten Tage hatten sie anscheinend anlehnungsbedürftig gemacht. Hoffentlich merkte man ihr diese Verletzlichkeit nicht an.  Das Gespräch plätscherte angenehm unbeschwert dahin. Es war nett. Er war nett. Sie hatten nicht viele Gemeinsamkeiten, was nicht verwunderlich war. Dennoch gab er sich Mühe, sich für sie und ihr Leben zu interessieren. Er hielt es wohl für die angemessene Etikette, der Auftakt für die spätere Intimität. Umso überraschter war sie, dass er nicht mehr mit zu ihr in die Wohnung wollte, obwohl er sie zuvor noch auf dem Heimweg begleitete. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, ein „Ciao, bis dann!“ und schon war er weiter. Oh Gott, war das peinlich. War sie doch nicht sein Typ? Sie hatte sich so viel Mühe mit ihrem Äußeren gegeben. Für ein paar Stunden in schummriger Beleuchtung konnte sie durchaus jünger wirken. Das hatte bisher immer funktioniert – anscheinend nicht bei David. Das war sein richtiger Name. David passte zu ihm. Enttäuscht und verunsichert legte sie sich in ihr frisch bezogenes Bett.

Isabella ließ ihr Ruderboot zu Wasser, stieg gekonnt in die wackelige Konstruktion und startete ihre Trainingseinheit. Schon nach den ersten kräftigen Schlägen über das grünglänzende Wasser entspannte sie sich. Ihr Blick schweifte über den See, die Weite bis hin zu den Bergen. Eine traumhafte Kulisse. Was waren ihre Träume? Sie konnte doch nicht ewig zurückblicken und sich fragen, welcher Sinn hinter dieser Fotoattacke stand. Auch die Funkstille seither fraß sie schier auf. Es war Zeit, dieses grausame Spiel einfach zu ignorieren. Nur blöd, dass das Wochenende wie eine Ewigkeit vor ihr lag. Sie hatte keine Verabredung. Keiner wartete auf sie. Sie war so müde, ständig neue Bekanntschaften zu schließen. Der Abend mit David vorgestern ging ihr durch den Kopf. Was war schiefgelaufen? Bisher folgten alle ihre Dates den vertrauten Regeln und endeten in einem mehr oder weniger aufregenden One-Night-Stand. Es kam vor, dass sich Treffen und Liebhaber wiederholten, aber über Nacht durfte keiner bleiben. Manchmal schien sich wirklich einer von den Jungs in sie zu verlieben. Sie merkte es an der Art, wie sie ihre Macho-Rolle Schicht für Schicht abstreiften, wie sich kindliche Bewunderung in ihre Blicke mischte. Das war gefährlich und zwang sie, sofort zu reagieren. Verletzend zu werden, sich lustig zu machen und aufkommende Gefühle im Keim zu ersticken. Doch bei den meisten blieb es bei der reinen Begierde. Und was war das mit David? Das gehörte nicht zum Plan, dass ihr jemand die Spielregeln diktierte. Und doch hatte David etwas in ihr ausgelöst, was sie verletzlich machte. Ach was, sie war dünnhäutig seit Montag.

Als sie später ihr Rudermaterial zurück ins Bootshaus brachte, kam ihr Alexander entgegen. „Isabella, so früh schon fertig mit Training? Trinkst du noch einen Kaffee mit mir, bevor du gehst?“ „Ja, gerne. Wenn du noch Zeit hast?“ „Ich bin erst in einer Stunde zum Segeln verabredet. Meine Familie schläft noch, bzw. ‚chillt‘. Ich halte diese Trägheit zuhause morgens nicht aus.“ Er grinste. „Gut, dass es im Club noch Gleichgesinnte gibt.“ Isabella entging nicht, dass er sich nervös durch die Haare strich. Alexander war ihr Chef seit vielen Jahren, sehr gepflegt, klug und witzig. Isabella fühlte sich in Alexanders Gegenwart wohl und ein bisschen wie angekommen. Vielleicht hatte sie es deswegen schon so lange in der Agentur ausgehalten.

 „Und, wie läuft es so mit deiner Großfamilie?“ Isabella schüttete sich Unmengen Zucker in ihren Kaffee, während Alexander antwortete. „Ach, wie immer. Kaum sind die Kinder groß genug, um ihr eigenes Leben zu leben, musst du dich als Paar wieder neu finden. Das ist manchmal leichter und manchmal schwerer. Vor allem die unterschiedlichen Interessen kommen wieder stärker hervor.“ Isabella rührte weiter um, während sie ihm zuhörte, sagte aber nichts. „Ich bin einfach gerne draußen, möchte noch was erleben. Caro ist lieber daheim bzw. shoppen oder Freundinnen treffen. Sie mag keine sportlichen Herausforderungen. Und Segeln schon gar nicht.“ Wieder grinste er sie an. „Na ja, dafür werden wir dann heute Abend mit Freunden grillen.“ Er trank von seinem Cappuccino. „Was hältst du davon, auch vorbeizukommen?“ Er zögerte kurz, bevor er fortfuhr. „Wenn ich dir helfen kann, egal wobei, dann weißt du, ich bin für dich da.“ Isabella fühlte sich matt, ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Wollte sie wirklich Alexanders Familie auch noch privat erleben? „Danke, das ist sehr nett von dir, Alexander, ich weiß dein Angebot zu schätzen. Die Woche sind seltsame Dinge passiert, aber es geht schon wieder.“ Sie lächelte ihm zu. „Nichts, worüber ich jetzt reden müsste. Wenn ich tatsächlich Hilfe brauche, melde ich mich gerne. Heute Abend bin ich leider schon verabredet. Aber danke für die Einladung. Ein anderes Mal gerne.“ „Okay, das ist zugegeben etwas kurzfristig heute. Wir finden schon einen Termin. Der Sommer beginnt ja gerade erst.“

Gegen Mittag war Isabella zurück in ihrer Wohnung und öffnete ihre Dating App. Es gab einige neue Interessenten und eine Nachricht von David. „Wollen wir unser Treffen noch einmal fortsetzen?“ Ein warmes Gefühl in ihrer Brust machte sich breit. Also doch. Da ging noch was. Etwas sprunghaft, der Junge. „Ja, können wir machen. Ich kann aber nur heute Abend.“ Sie machte jetzt die Vorgaben. Seine Antwort kam sofort: „Schön, dass du ein Zeitfenster für mich freischaufeln kannst. Dann heute Abend um 20 Uhr im Monaco.“ Sie lachte über seine Retourkutsche und sagte zu. Jetzt erst fiel ihr auf, dass er schon wieder Zeit und Ort bestimmt hatte.

Die Schwabinger Kultkneipe war gut besucht. Überwiegend Studenten. David hatte einen ruhigen Stehtisch in der Nähe der Theke für sie freigehalten. Sie tauschten Höflichkeiten aus, etwas Smalltalk. David erzählte, dass er seinen Master in Psychologie an der LMU machte, im Thaiboxen aktiv war.  Er sah sie etwas länger an, bevor er weitersprach. „Bist du eigentlich verheiratet?“ Auf diese Frage hatte sie immer ihre Standardantwort parat. Heute hatte sie keine Lust auf glattpolierte Unverbindlichkeit. „Nein“, sagte sie nur. Er wartete kurz, hakte nach. „Warst du es denn mal? Oder länger liiert? Hast du Kinder?“ „Nein, nein und nein“, wiederholte sie. Sie nahm einen Schluck von dem schaumigen Bier. Er hob sein Glas, wartete. Seine Augen wirkten sehr dunkel im Kneipenlicht. Die Leichtigkeit ihrer zarten Plänkelei war verflogen. Und doch gab keiner auf, keiner zeigte Signale, das Treffen jetzt und hier zu beenden. Es tat ihr gut, ihn nicht zu verlieren. Diesmal ging er mit in ihre Wohnung. Sie holte zwei Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich mit ihm aufs Sofa. Etwas unbeholfen saßen sie nebeneinander, tranken schweigend. David legte nach einer Weile den Kopf in ihren Schoß und sah zu ihr auf. Sein Blick war schwer zu deuten. Sie sah keine Lust aufflackern, aber dennoch tobte ein Feuer in seinem Innern. Was für ein Mann er wohl war? Hoffentlich stellte er sich nicht als Typ mit seltsamen Phantasien heraus. Der Gedanke machte sie traurig. „Könntest du mir mal durchs Haar kraulen, Isabella?“ Seine Bitte war leise. Mechanisch hob sie die Hand und streichelte zaghaft durch seine dunkelblonden Strähnen. Oh je, nein, das fühlte sich nicht richtig an. Das passte nicht. Er hatte die Augen geschlossen und sah erst wieder auf, als sie die Bewegung einstellte. „Bitte mach doch weiter.“ Sie hob seinen Kopf an und stand auf. „Du, ich muss mal zum Klo,“ sagte sie. Er versperrte ihr mit seinem Körper kurz den Weg, bevor er sie gehen ließ. Als Isabella zurückkam, war David bereits aufgestanden und kam auf sie zu. Er drückte sie mit Kraft gegen die Wohnzimmertür. Sein Kuss war brutal, fordernd. Isabella schloss die Augen, spürte das Ziehen. Die Spiele konnten beginnen.

Der Sonntag zog sich endlos träge dahin. Isabella zog sich nicht an, konnte sich auf nichts konzentrieren. Sie fühlte sich taub, ohne Energie für Routinen. Was gestern als nette Ablenkung geplant war, endete jäh in Enttäuschung. Kaum hatte Isabella begonnen, sich in Davids Armen zu entspannen, wandte er sich ruckartig ab und rammte ihr dabei – sie hoffte sehr, dass es ein Versehen war – den Ellenbogen in die Brust. Bevor der Schmerz nachließ war er schon aus der Wohnung. Noch in der Tür murmelte er was von „Sorry – heute nicht.“ Was sollte sie davon halten? Sie hatte beschlossen, nicht mehr weiter über David nachzudenken. Das heißt, ihr Kopf hatte das beschlossen. Ihr Körper noch lange nicht. Sie sah ihn vor sich, wie er so verletzlich in ihrem Schoß gelegen hatte. Seine Haarsträhnen in ihrer Hand. Was war das für ein Gefühl in ihrem Innersten? Es fühlte sich so warm an, so zärtlich, so schützenswert. Sie dachte an das Handyfoto. Während sie auf ihrem winzigen Balkon rauchte, keimte eine erste zarte, schier ungeheuerliche Erkenntnis in ihr auf. Sie ahnte, wer sie quälen wollte und auch, warum.

Alexander ließ in der neuen Woche nicht locker und sprach die Einladung zum Grillen für den nächsten Samstag erneut aus. Sie sagte zu und vertraute darauf, dass ihr bis zum Wochenende noch eine gute Ausrede einfallen würde. Sie hatte viel zu tun, die Arbeit lenkte sie ab, gab ihr Struktur. Am Freitag wollte sie nachmittags gar nicht aus dem Büro. Sie brachte es auch nicht übers Herz, Alexander fürs Grillen abzusagen. Irgendwie hatte er sie so erwartungsvoll angeschaut, bevor er ihr beim Abschied aus dem Büro ein „Bis morgen, dann, Isabella, ich freu mich!“ zurief.  

Alexander wohnte mit seiner Familie in Feldafing am Starnberger See. Das Haus wirkte lässig elegant, die beiden SUVs vor der Garage und der gepflegte, weitläufige Garten ließen keinen Zweifel daran, dass hier viel Geld im Spiel war. Trotzdem, so unsympathisch Isabella diese Gegend mit dem zur Schau gestellten Reichtum auch fand, Alexander schaffte es, dass sie sich willkommen fühlte. Caro begrüßte sie freundlich, jedoch ohne die Herzlichkeit, die ihr Mann ausstrahlte. Auch waren ihre Wortwechsel eher unterkühlt, manchmal hatte Isabella den Eindruck, Caro sähe sie fast schon hasserfüllt an. Alexander hatte ihr ein anderes Bild von Caro gezeichnet. Als sie den beiden mit ihren drei ausnehmend hübschen Kindern im Teenageralter auf der Terrasse beim Rumalbern zusah, konnte sie nicht anders, als sich einzugestehen, dass sie Alexander mochte. Sehr sogar. Als das, was er war: Ein toller Ehemann und Familienvater. Dieses Glück würde sie niemals zerstören. Nachdem alle mit den letzten Sonnenstrahlen zum Essen am Tisch Platz genommen hatten, betrat jemand die Terrasse. Gegen das Licht musste Isabella sich die Augen abschirmen, um zu dem jungen Mann hochzusehen, der gerade eingetroffen war. Er hatte ein Mädchen im Arm, dass ihn augenscheinlich anhimmelte, da es sich so sehr an ihn klammerte. Caro und Alexander standen gleichzeitig auf, schienen überrascht. „David, toll, dass du vorbeikommst. Wen hast du denn mitgebracht?“ fragte Caro, während sie auf David zuging, um ihn zu umarmen. David reagierte nicht sofort, sah Isabella herausfordernd an. Isabella senkte den Blick. Caro erinnerte sich an ihre Gastgeberrolle. „David, wir haben Besuch von Alexanders Arbeitskollegin aus der Agentur, Isabella. Oder kennt ihr euch? Isabella, das ist David. Unser ältester Sohn.“

Isabella und Alexander verbrachten die nächste gemeinsame Mittagspause an der Seepromenade und aßen Donuts. Alexander beantwortete unaufgefordert alle ihre unausgesprochenen Fragen. „Wir konnten lange Zeit keine Kinder bekommen. Caro war so unglücklich, dass ich es nicht ausgehalten habe, sie länger leiden zu sehen. Wir entschlossen uns zu einer Adoption. David war ein Sonnenschein als Baby. Unsere Erlösung. Caro blühte wieder auf. Und nach 4 Jahren wurde sie plötzlich schwanger.“ Alexander biss in sein Gebäck und kaute. Isabella wartete ab. „Wir konnten unser Glück kaum fassen. Nacheinander bekamen wir Hannah, Gregor und Kilian. Und David, der uns dieses Glück doch erst möglich gemacht hatte, bekam zunehmend eine Außenseiterrolle. Ich weiß nicht, woran es lag. Ich habe ihn so lieb wie meine eigenen Kinder, und doch: Er ist anders. Verschlossen und unnahbar.“ Er sah sie an, wartete darauf, dass sie etwas sagte oder fragte. Wie immer hörte sie lieber weiter zu. „Caro würde wohl dasselbe sagen, dass sie ihre Liebe auf alle 4 gleichermaßen aufgeteilt hat. Aber das stimmt nicht. Sie hat mit jedem eigenen Kind gemerkt, dass David anders ist. Und ich glaube, wir haben uns später nicht mehr so viel Mühe gegeben. Als David ein Teenager wurde, haben wir dann ganz die Verbundenheit verloren. Er scheint bindungsunfähig, verschleißt ständig Freundinnen, bringt kein Mädchen zweimal mit nach Hause. Mein Gott, wir haben ihm das doch nie vorgelebt!“ Alexander raufte sich die Haare, erwartete eine Reaktion von ihr. Sie sah ihn an, ermunterte ihn, weiterzusprechen. „Seit er zum Bachelorstudium in Salzburg war, ist der Kontakt zu uns nur noch sehr lose. Ich weiß, dass er alles darangesetzt hat, mehr über seine leiblichen Eltern zu erfahren, seit er volljährig ist. Wir haben ihm die Adoption nie verheimlicht, allerdings habe ich es Caro und mir aus Selbstschutz erspart, mehr über Davids Herkunft erfahren zu wollen. Was würde es für uns ändern? Er ist unser Sohn. Dass er Samstag zu Besuch kam, hat uns mehr als überrascht.“ Wieder sah er Isabella an, diesmal eindringlicher. Ob er etwas ahnte? Sie schwieg weiter. „Irgendwie kam es mir so vor, als hätte er sich dir gegenüber aggressiv verhalten. Das tut mir leid. Ob er wohl denkt, wir hätten was miteinander, Isabella? Und wenn – würde es ihn wirklich interessieren? Ich verstehe seine Motive nicht. Er lebt sein Leben in München. Noch braucht er unsere finanzielle Unterstützung, deshalb reißt der Kontakt nicht ab. Ich bin mir sicher, wenn er beruflich auf eigenen Füßen steht, wird er uns nicht mehr besuchen. Ich werde mir wohl immer Vorwürfe machen, ihn nicht so bedingungslos geliebt zu haben wie die anderen drei. So, jetzt kennst du die ganze Familiengeschichte. Nicht immer nur Idylle pur, oder?“

Isabella warf den angebissenen Donut in den Mülleimer neben der Bank. Sie schenkte Alexander ein verunglücktes Lächeln, legte ihm die Hand auf den Arm und wusste, was als nächstes zu tun war. Der Plan, der seit einiger Zeit in ihr gereift war, nahm Gestalt an.

Isabella hatte das Treffen mit David erzwungen. Er hatte auf ihre Nachricht, dass sie ihn in ihrer Wohnung erwartete, nicht geantwortet. Aber Isabella wusste, dass er kommen würde. Sie hatte alles vorbereitet. Sie machte sich sorgfältig zurecht, zog ihr weiblichstes Outfit an. Davor putzte sie die Wohnung, mistete die spärlichen Ecken aus, entsorgte die Kippen und das vertrocknete Grünzeug vom Balkon. Als es an ihrer Wohnungstür klingelte, fühlte sie sich wie in Watte getaucht. Davids Gestalt erschien im Türrahmen, sie nahm ihn in ihre Arme und er ließ es geschehen. Sie versperrte unauffällig die Tür hinter ihm, zog den Schlüssel ab und ihn mit sich ins Schlafzimmer. Er wehrte sich nicht, blieb angespannt. Noch hatten sie nichts gesprochen. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und betrachtete ihn lange. Die Augen, die Nase, das Grübchen auf der rechten Wange, wenn er lachte. Genau wie ihres. Deshalb war es ihr wohl nicht sofort aufgefallen: Er lächelte viel zu selten. Dass er sie so hasste, war ihr erst nach dem Gespräch mit Alexander klar geworden. Sie küsste ihn langsam auf Stirn, Augen, Wange, Nase und Mund. Er wand sich aus ihrer Umarmung, rannte ins Bad. Sie hatte damit gerechnet. Lass Dir Zeit mit dem Wiederkommen, mein Junge.

David starrte sich im Spiegel an, völlig überwältigt von seinen Gefühlen. Was war das jetzt wieder für ein Spiel von ihr? Warum konnte er nicht einfach die Finger um ihren Hals klammern und zudrücken, wie er es sich schon so oft in seinen Träumen ausgemalt hatte. Eine Plastiktüte hatte er auch dabei. Sollte sie doch ersticken. Ein Kollateralschaden ihrer perversen Lustspielchen. Sie hätte es verdient. Was dachte sie sich dabei, mit all diesen Wichsern in die Kiste zu steigen? Damit die mit diesem ganzen Milf-Scheiß prahlen konnten und sich doch über sie lustig machten später? Vielleicht sollte er rausgehen und sie endlich all das fragen. Warum traute er sich dann bloß nicht, wenn es ernst wurde? Warum hatte sie ihn damals weggegeben? Dieses armselige Leben, das sie führte. Und er war auf dem besten Wege, genauso armselig zu enden wie sie. Konnte man Depression vererben? Danke, Mama, dass du mir wenigstens das mitgegeben hast. Er trat gegen den Wannenrand. Es war so einfach, etwas über sie als seine leibliche Mutter in Erfahrung zu bringen. Einen Vater gab es ja nicht offiziell. Das wunderte ihn nicht. Als er erfuhr, dass sie nichtsahnend in der Firma seines Vaters arbeitete, waren ihm die Sicherungen durchgebrannt. Wahrscheinlich hatte sie ein Verhältnis mit Alexander, seinem Superdaddy. Er musste ihr einfach wehtun. Sollte sie doch leiden wie er. Isabellas damalige Mitbewohnerin Anja ausfindig zu machen, war für ihn keine große Kunst. Irgendjemand musste ihm doch etwas mehr über Isabella erzählen können. Was für ein Mensch war seine Mutter? Anja zeigte ihm bereitwillig alle Fotos aus ihrer Vergangenheit, sorgfältig nach Jahren in kleinen Alben sortiert. Es gab nicht so viele Fotos von Isabella, aber eins war unverkennbar zu der Zeit aufgenommen, als sie ihn wohl gerade geboren hatte. So blass und verloren lag sie da in ihrem Krankenhausbett, den Blick nicht rechtzeitig vor der Kamera geschützt. Wie hatte sie es nur übers Herz bringen können, ihn wegzugeben? Dieses Foto hatte ihn elektrisiert. Er wusste, wie er ihr wehtun konnte und sein Plan war gereift. Mit dem Foto wollte er ihren Panzer aufbrechen. So kalt konnte sie nicht sein. Und doch wirkte sie bis eben so kühl und unnahbar, dass es körperlich schmerzte. Jetzt gab es kein zurück. Er wollte zu Ende bringen, was er begonnen hatte. Mit ruhigen Schritten ging er zurück in ihr Schlafzimmer.

Sie sah nicht auf, als er an ihr Bett trat. Seltsam, wie ruhig sie dalag. War sie eingeschlafen? Na gut, das würde es umso einfacher machen. Bis sie merkte, was passierte, war es schon fast vollbracht. Die Wohnung war blitzsauber und aufgeräumt – seine Spuren wären schnell beseitigt.

Da sah er den Brief. „Für David“ stand auf dem Umschlag. Daneben der Wohnungsschlüssel. Ihm wurde kalt, er ließ die Hände sinken, nahm langsam den Brief auf und las.

„Lieber David, bitte versuche nicht, mich zurück ins Leben zu holen, denn das will ich ganz sicher nicht. Die Tabletten, die ich lang genug vor deiner Ankunft genommen habe, werden ihre Wirkung nicht verfehlen. Bitte respektiere das. Ich hätte nie gedacht, welche Gefühle ich für dich entwickeln würde, seit ich verstanden habe, dass du mein Sohn bist. David, ich spüre diese Leere in mir, jeden Tag. Vielleicht hatte ich sie schon immer, ganz sicher aber seit ich dich damals direkt nach der Geburt weggegeben habe. Danke, dass du mir mit dem Handyfoto vor Augen geführt hast, wie jämmerlich mein Leben ist. Ich weiß nicht, ob du mir wirklich etwas antun willst, weil du mich so sehr hasst. Aber das lasse ich nicht zu. Ich bin dir zuvorgekommen. Es tut mir so leid, dass du dich für mich schämst, so wie ich mein Leben verbringe. Wärst du nicht gewesen, ich hätte es mir selbst nicht eingestanden, dass die letzten Affären wohl nur mit deinem Verlust zu tun haben. Bald werde ich zu alt sein für diese Spielchen, dann werden keine jüngeren Männer mehr mit mir ausgehen wollen. Was kommt dann? Du bist so schön, mein Sohn, und ich spüre die Einsamkeit in deinem Innern so wie meine eigene. Es tut mir leid, dass ich dir so ein Erbe mitgegeben habe. Bitte mache mehr aus deinem Leben als ich. Hol dir Hilfe, geh zur Therapie. Deine Adoptiveltern sind die besten, die ich mir je für dich hätte wünschen können. Als mir klar wurde, dass Alexander dein gesetzlicher Vater ist, wusste ich, dass ich meinem Leben ein Ende setzen muss. Ich weiß ja nicht so genau, was Liebe ist, aber auf jeden Fall werde ich es Alexander nicht antun, dass er von all dem hier mit uns erfährt. Bitte versprich mir, dass du ihm nie erzählst, dass ich deine Mutter bin. In der Arbeit habe ich alles geregelt. Alexander bekommt auch eine Nachricht, sie liegt bereits in meinem Schreibtisch. Ich habe mich bei ihm bedankt für die langen gemeinsamen Jahre der Zusammenarbeit und auch entschuldigt, dass ich mich so davonstehle. Mehr muss er nicht erfahren. Er hat ja gespürt, in welch emotionaler Verfassung ich bin. Ich glaube, auch er mochte mich etwas mehr als er sollte. Glaub mir, es ist besser so für alle. Lebe dein Leben, David, verwische alle Spuren von uns und mit der Gewissheit, dass es längst viel zu spät ist: Ich liebe dich.“

David sank in sich zusammen, blieb lange Zeit an ihrem Bett sitzen und schaute ihr beim friedlichen Sterben zu. Als es dunkel im Zimmer wurde, nahm er den Brief vom Bett und steckte ihn ein. Er durchsuchte die Wohnung wie geplant und beseitigte alle Spuren. Diesmal war es ihr Auftrag und nicht seiner. Er löschte sämtlichen Chatverlauf zwischen ihm und ihr auf Laptop und Handy. Wie vermutet gab es in der Wohnung keine weiteren Unterlagen, die auf ihn oder eine Adoption hindeuteten. Fast war es geschafft. Noch etwas fehlte, doch er musste nicht lange suchen. Das Handy, das er ihr mit seinen perfiden Rachegedanken zugespielt hatte, fand er in ihrer Handtasche. Er nahm es an sich und verließ unbemerkt und geräuschlos wie ein Geist ihre Wohnung.

11 thoughts on “Verloren

  1. Moin.
    Ich will mich kurz fassen.
    Deine Geschichte schreit nach einer Verfilmung.

    Sie hat mich gefesselt und berührt.

    Du hast definitv Talent und ich hab deine Geschichte sehr gerne gelesen.

    Kompliment.

    Ich fand den Aufbau der Story gut, nachvollziehbar und logisch.

    Und das Ende war logisch, überraschend und klug.

    Schreib weiter, du hast es drauf.
    Und mein Like ist dir sicher.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, meine Geschichte auch zu lesen. Sie heißt “Die silberne Katze”. Über einen Kommentar/ einen Like würde ich mich sehr freuen.

    Pass auf dich auf.
    Swen

  2. Hi, ich schließe mich meinem Vorschreiber an.
    Mir hat die Geschichte sehr gut gefallen. Du hast einen klaren Schreibstil, gut und flüssig zu lesen. Die Story und der Aufbau gefallen mir ebenfalls sehr. Die Abläufe sind logisch und gut durchdacht. Und der Twist am Ende war ebenfalls klasse. Mein Like hast Du.

    P.S.vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen >>Glasauge
    Über ein Feedback würde ich mich sehr freuen.

  3. Hallo,

    LIKE! Was für eine fantastische Geschichte! Ich liebe Deinen unglaublich differenzierten und feinen Schreibstil und wie Du die Charaktere Deiner Geschichte entwickelst. Die Verbindung zwischen sehr genau beobachteten Alltagsschilderungen und der dahinter liegenden Dramaturgie der Erzählung – und der überraschenden Wendung (die so überhaupt nicht vorhersehbar ist – wie wunderbar!) ist eine Meisterleistung.

    Ich kann deshalb nur den Eindruck aus den vorherigen Kommentaren wiederholen: Du bist ein Talent! Ich würde mir wünschen, dass wir noch sehr viel von Dir lesen und hören.

    1. Wow, danke für so ein großes Lob! Da fühle ich mich wirklich sehr geehrt und bestärkt, einfach gerne weiterzuschreiben. Toll, dass dir die Charakterentwicklung gefallen hat, das war mir beim Aufbau der Geschichte tatsächlich auch sehr wichtig. 🙂

  4. Hallo,
    mir hat deine Geschichte gut gefallen, deswegen lass ich dir ein Herzchen da. Ich verstehe nicht, warum du so wenige Likes hast. Dein Schreibstil ist super und der Plot war überraschend. Andere Geschichten, die wesentlich (wesentlich) schlechter sind, haben viel mehr Likes.
    Viel Glück für deine Geschichte und liebe Grüße
    Claudia
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/ein-schatten-aus-der-vergangenheit-psycho-thriller-mit-ein-wenig-sf

    1. Toll, vielen Dank, Claudia, für das nette Feedback. Ich denke, die bisher wenigen likes liegen bei vielen Geschichten eher daran, dass sie zu Beginn der Veröffentlichung so weit hinten gelistet waren und einfach noch nicht gelesen wurden. Das geht bestimmt ganz vielen wunderbaren Geschichten so. Aber wie angekündigt wird die Reihenfolge immer wieder rollierend verändert. Das ist wirklich fair für alle. Deine Geschichte werde ich auch gerne lesen.

  5. Hallo 🙂
    ich fand deine Geschichte sehr gut! Dein Schreibstil ist so angenehm und flüssig, dass man gar nicht mehr aufhören kann zu lesen. Es waren einige sehr krasse und total unvorhersehbare Wendungen drin. Daumen hoch!
    Genau wie meine Vorkommentierer kann ich nicht verstehen, warum du wo wenige Likes hast – meins hast du auf jeden Fall bekommen!

    PS: Ich würde mich riesig freuen, wenn du auch mal bei einer meiner beiden Geschichten vorbei schauen und mir vielleicht ein Feedback da lassen würdest. 🙂

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/ich
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/das-unbekannte-bekannte

  6. Wow, was ne Story. Sehr spannend und meiner Meinung nach absolut nicht vorhersehbar, richtig klasse ! Meine Stimme hast Du.

    Vielleicht hast Du ja Lust, mal einen Blick über meine Story zu werfen, würde mich über ein Feedback freuen.
    Liebe Grüße und viel Glück

  7. Wow, Deine Geschichte ist der Hammer!
    Ich bin begeistert!
    Lockerleicht werden Tragik, Spannung und die Emotionen Deiner Figuren miteinander verwoben – und das innerhalb einer so kurzen Seitenzahl.
    Besonders wie Du das Innenleben, die Gefühlswelt Deiner Protaginistin beschreibst, ihre Angst, nicht mehr begehrt zu werden haben mich sehr berührt.
    Die Auflösung habe ich tatsächlich bis zum Schluß nicht kommen sehen, ganz toll gelöst!

    Ich wünsche Dir von Herzen einen Platz im e-Book!

    Liebe Grüße
    Anita (“Räubertochter”)

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