Merle Philine MöllerVerloren

Natur. Schon als Kleinkind war ich immer mit meiner Familie im Wald unterwegs, an Seen und sogar auf dem Meer. Am liebsten aber war ich schon damals immer im Wald.
So laufe ich heute, wie jeden Sonntag, bei mir im benachbarten Wald umher und lasse mir einfach ein wenig die frische Luft um die Nase wehen. Diesen Duft nach grün und Freiheit. Nach Spontanität und Lust und Laune.
„Was ist das da?“ eine Stimme zu meiner Linken.
„Keine Ahnung, was meinst du?“ sage ich gut gelaunt und fühle mich so unbeschwert wie lange nicht mehr. Ich kenne diese Stimme.
„Sie meint das da, da liegt was auf dem Boden.“ Eine zweite Stimme, zu meiner Rechten. Ohne zu sehen, wohin mein zweiter Gesprächspartner zeigt, schaue ich scheinbar direkt in die richtige Richtung. Neugierig wende ich mich ein Stückchen nach rechts, dorthin wo es leicht abschüssig ist und weiter unten ein kleiner Bach vor sich hinplätschert. Weiter vorne öffnet sich das Gestrüpp ein wenig, hier befindet sich eine Bank, auf der ich sehr gerne Platz nehme und einfach die Welt die Welt sein lasse. Man muss Glück haben mit der Bank, denn oft sind hier Liebespaare unterwegs, die denken, dass man sie als Normalsterblicher nicht sehen oder hören könne.
„Ah das meint ihr. Moment.“ Im Gestrüpp vor dem Bach hat sich ein kleiner Gegenstand verheddert.
„Ein Handy.“ sagt die Stimme zu meiner Linken und die Stimme auf der anderen Seite murmelt etwas wie: „Das kann ja jedes Baby erkennen.“ Bevor nun wieder eine Diskussion entbrennt, ob Babys wirklich schon in der Lage sind, Handys als Handys zu identifizieren, ergreife ich das Wort.
„Jaaa.“ Nachdenklich drehe und wende ich das kleine Teil in meinen Händen hin und her. Erinnerungen kommen auf. So sachlich meine Gesprächspartner auf das Handy reagiert haben, so emotional geht es gerade in mir zu. Das unbeschwerte Gefühl von gerade eben ist wie weggeblasen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Laut. Ich kann es deutlich hören. Mein erstes eigenes Handy, mit dem man etwas mehr machen konnte als Telefonieren und Snake spielen sah genauso aus. Knallig pink, mit Touch-Display und trotzdem gab es eine zusätzliche Tastatur, die man nutzen konnte. Man konnte sie so lustig herausschieben, wie die Agenten in irgendwelchen Filmen das damals getan haben. Das sah so cool aus. Es ist noch ein Gerät mit herausnehmbarem Akku, richtig Retro inzwischen. In Gedanken schiebe ich das Display hoch und stelle zu meinem großen Erstaunen fest, dass das Handy noch vollständig aufgeladen ist. Wie ist das möglich? Lange kann es hier also noch nicht gelegen haben.
„Wir müssen herausfinden wem das gehört und es der Person zurückbringen.“ Immer noch nachdenklich streiche ich über die Tasten. Der Fund macht mich traurig. Gedanklich zurückversetzt in alte Zeiten, in denen ja bekanntlich für alle immer alles besser war, fließt eine kleine Träne meine Wange hinab.
„Bist du gar nicht neugierig?“ Die Stimme zu meiner Rechten holt mich in die Realität zurück.
„Das ist nicht gut. Leg es einfach zurück. Du hast es nie gesehen.“ Entgegnet die Stimme zu meiner Linken genervt.
„Ich habe es doch in der Hand. Ich lege es nicht zurück, werde aber auch nicht darin herumschnüffeln. Ihr bringt mich wieder auf Gedanken.“ Mein Versuch gefestigt und entschlossen zu klingen geht erfolgreich nach hinten los. „Okay, nur ein Blick.“
„Du machst dich unglücklich. Das spüre ich jetzt schon.“ Die Stimme zu meiner Linken legt ihren Merk-dir-meine-Worte-Tonfall auf. Ich bilde mir ein, dass mein anderer Gesprächspartner einfach nickt. Stumm.
„Das kann nicht sein. Das ist unmöglich.“ Meine Stimme ist nur noch ein Hauch ihrer selbst. Ich klinge wie ein anderer Mensch. Was ich hier vor mir sehe verschlägt mir beinahe die Sprache. Plötzlich auftretender Schweiß läuft mir eiskalt den Rücken hinunter und lässt mich erschaudern. Kann so etwas ein Zufall sein?
„Wow. War das Absicht?“ Die Stimme zu meiner Linken klingt erstaunt und zutiefst beeindruckt. Ich habe mich ein wenig durch das Menü geklickt, kurz Panik bekommen als ich auf den Internet-Button gekommen bin und schließlich die Galerie geöffnet. Hier wartete der Schock scheinbar schon auf mich, denn anstatt in ein fremdes Gesicht mit einem Hinweis auf den Eigentümer dieses Handys zu erhalten, schaue ich in mein eigenes Gesicht. Das Foto wurde gerade kürzlich erst aufgenommen, nur zu gut erinnere ich mich in diesem Moment an dessen Entstehung. Erst vor ein paar Tagen habe ich dieses Selfie mit meinem aktuellen Handy gemacht. Zu sehen ist eine glückliche Person, zumindest der Mund ist zu einem frechen Kussmund geformt. Die Augen wiederum sehen irgendwie traurig aus, aber das ist auch nichts neues. Abwesend.
„Das bist du.“ Die Stimme zu meiner Rechten braucht manchmal ein bisschen um zu verstehen worum es geht.
„Ja. Das bin ich.“ Sage ich und fühle mich immer noch vollkommen verloren mit diesem Ding in meiner Hand. Es fühlt sich schwer an und die pinke Farbe beginnt in den Augen zu schmerzen. Da kommt mir etwas in den Sinn. Hektisch öffne ich an der Rückseite des Handys die Klappe und entferne den Akku. Das Ding sieht nicht nur aus wie mein altes Handy. Es IST mein altes Handy. Das vertraute Gefühl bestätigt sich. Damals habe ich unter den Akku mit einem Taschenmesser ein kleines Herzchen in das Plastik geritzt. Warum kann ich nicht mehr sagen, aber ich fand das cool. Ein kleines Geheimnis in meiner Tasche. Als ich den Akku wiedereinsetze und das Handy wieder einschalte, ist es auch der alte Pin, der funktioniert. Das Teil ist aufgeladen. Wer hat mein Handy geklaut und es aufgeladen, sich woher auch immer mein Foto gezogen und es hier deponiert, wobei nicht einmal sicher war, dass ich es dort auch wirklich finde?
„Komisch oder?“ Die Stimme zu meiner Rechten ruft sich in Erinnerung.
„Was?“
„Dein altes Handy und ein aktuelles Foto.“
„Was meinst du?“ Ich fahre die Stimme zu meiner Rechten genervt an.
„Was war dazwischen?“
„Wie meinst du das?“
„Dein erstes eigenes Handy liegt inzwischen einige Jahre zurück. Dieses Bild hingegen nur wenige Tage. Es muss ja einen Grund haben, dass es heute hier liegt und deine Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft.“ Erkenntnis.
„Ach Quatsch. Weit hergeholt. Leg es einfach zurück.“ Die Stimme zu meiner Linken hat ihre besonders freundliche Miene aufgesetzt, dennoch redet sie schnell. Sie will mich beschwören, dass sie recht hat.
„Nein. Dieses Mal habe ich recht.“ Die Stimme zu meiner Rechten ist regelrecht erzürnt. „Jemand hat das da absichtlich hingelegt.“
Ich beschließe mich mit dem Handy zu befassen und wie es aussieht habe ich heute Glück. Die Bank ist frei. Ein bisschen angewidert von all den eingeritzten Liebesbotschaften der Paare setze ich mich auf die Kante. Lange möchte ich hier ja nicht bleiben. So gerne ich sonst hier sitze und so egal mir diese Botschaften normalerweise sind, so unwohl fühle ich mich heute. Beobachtet.
„Okay, nochmal. Was war zwischen dem Bild und dem Handy?“ Die Stimme lässt nicht locker. Es ist eine Zeit gewesen, an die ich mich nur ungern erinnere.
„Die Schaukel.“
„Gut. Was war mit der Schaukel?“
„Ich habe Lena darunter gestoßen.“
„Du warst noch ein Kind.“ Die Stimme zu meiner Linken mischt sich ein.
„Dennoch habe ich es ja getan.“ Entgegne ich schuldbewusst.
„Was noch?“ Wieder die Stimme zu meiner Rechten.
„Sie hat sich schwer verletzt. Konnte danach nicht mehr sprechen. Ich habe es damals meinen Eltern erzählt. Niemandem sonst.“
„Hast du dich entschuldigt?“
„Nein. Nie.“
„Was war danach noch anders?“
„Ich musste die Schule wechseln. Irgendwann wart ihr da.“
„Haben wir dir geholfen?“
„Ja. Doch auf jeden Fall.“ Noch nie hatte die Stimme zu meiner Rechten ein solches Gespräch mit mir geführt. Sie war sonst immer gegen alles Gute. War immer für das Risiko, für die Gefahr. Was damals passierte, habe ich gut in mir eingeschlossen, habe mein Geheimnis bewahrt und Lena auch seitdem nicht mehr gesehen. Nach etlichen Gesprächen, weil ich angeblich häufiger handgreiflich geworden bin, wurde ich auf eine andere Schule geschickt. Immer schon hatte ich große Probleme damit, mich in neuen Gruppen einzufinden und Kontakte zu knüpfen. Meine Eltern organisierten meine Geburtstagsfeiern und luden die ganze Klasse ein. Ich glaube bis heute weiß niemand, was er da zu suchen hatte. Eines Tages, da war ich dann schon fünfzehn oder so, hatte ich auf einmal das Gefühl nicht mehr alleine zu sein. Ich hörte die Stimmen links und rechts, die sehr schnell ihre eigenen Charaktere entwickelten. Heute kann ich genau beschreiben, wer wie tickt. Nur Namen haben sie nicht. Das war das erste, was sie mir damals mitgeteilt haben. Inzwischen bin ich fünfundzwanzig Jahre alt und scheinbar gibt es da etwas aufzuarbeiten.
„Ich weiß worauf du hinaus willst.“ Sagt die sonst so liebe Stimme zu meiner Linken in einem ungewohnt garstigen Tonfall.
„Ach ja?“ Auch die Stimme zu meiner Rechten klingt gereizt.
„Ja.“
„Hört auf. Ich habe gerade keinen Kopf für eure Diskussionen. Helft mir lieber auf die Sprünge. Meine Eltern haben mich nochmal weggeschickt.“
„Weißt du noch wohin?“ Die Stimme zu meiner Rechten konzentriert sich wieder voll und ganz auf mich.
„Ich denke schon. Ich bin ins Heim gekommen.“
„Was für ein Heim?“
Nun lass sie doch endlich.“ Wieder die Stimme zu meiner Linken. Sie will mich beschützen, wie sie es bisher immer getan hat.
„Nein. Sie will sich doch erinnern.“
„Ja. Will ich. Hilf mir.“
„Deine Eltern haben dich in eine betreute Wohngemeinschaft geschickt.“
„Sie sind mit mir nicht klar gekommen.“
„Und weißt du noch warum?“
„Nein. Nein, ich erinnere mich nicht.“ Mein Kopf beginnt zu brennen und zu schmerzen. Er tut so weh, dass ich das Handy fallen lasse, um ihn mit beiden Händen zu stützen.
„Okay.“ So ruhig habe ich die Stimme zu meiner Rechten noch nie erlebt. Sie macht sogar eine Pause beim Sprechen und auch von links meldet sich niemand mehr.
„Entschuldige dich bei Lena.“ Wieder die Stimme zu meiner Rechten. Ich frage nicht weiter nach. Beginne laut zu sprechen und die Worte sprudeln nur so aus mir heraus. Weinerlich, wie ein kleines Kind, gestehe ich ihr meine Schuld und sage, wie leid es mir tut. Dass ich das alles doch nicht gewollt habe und bis heute an sie denke. Dass ich sogar jeden Tag an sie denke und hoffe, dass es ihr eines Tages wieder besser gehen wird.

„Du hast sie absichtlich geschubst. Du wolltest auf die Schaukel und hast genau gewusst, dass du sie damit verletzen kannst. Es war dir egal. Es ist dir noch heute egal. Gib es doch zu. Du musstest die Schule wechseln, weil du nicht nur in deiner verdammten Einbildung aggressiv geworden bist. Nicht nur Lena hat unter dir gelitten. Du bist krank. Warst es damals schon.“ Die Stimme zu meiner Rechten hat scheinbar wieder zu ihrer alten Form zurückgefunden. Vorwürfe. Schuldzuweisungen. Was zum Teufel hatte dieses Handy gerade ausgelöst. In mir drin ist alles am Bersten. Mein Kopf so schwer. Meine Augen drücken und brauchen eine Pause. Ich schließe sie und was sich dann vor meinem inneren Auge abspielt, kann ich nicht mehr in Worte fassen. Bilder sind da, die ich bewusst nie gesehen habe.
Ich bin sieben Jahre alt und stehe auf dem Schulhof meiner Grundschule. Ich brülle irgendetwas und trete anschließend mit voller Wucht gegen die Schaukel. Niemand sitzt darauf. Keine Lena und auch sonst kein anderer. „Selber schuld, wenn du nicht runtergehst. Ich bin dran.“ schreit mein siebenjähriges Ich und setzt sich schließlich selbstzufrieden auf die Schaukel.
Ein Schnitt.
Da war noch mehr. Zwischen dem Handy und dem Bild. Scheinbar habe ich einfach alles auf den Vorfall mit Lena projiziert, weil es der harmloseste war. Lena existiert nur in meinem Kopf. Doch die Selbstverletzungen nicht. Ich sehe ein blutiges Badezimmer, sehe wie meine Eltern weinend zusammenbrechen. Ich sehe wie ich mit ca. zwölf Jahren auf eine Gruppe Jungs zu renne und auf einen einprügele als gäbe es kein Morgen mehr. Immer wieder das Wort. Frankenstein, Frankenstein. Immer wieder. Meine Arme und Beine sind komplett vernarbt. Zerstörerisch.
Noch ein Schnitt.
Ich sehe mich, wie ich in das Haus meiner Eltern einbreche. Auf dem Dachboden zerwühle ich alle Kisten die mir in die Finger kommen. Im nächsten Moment habe ich mein Handy in der Hand. Also mein eigenes und mein altes, pinkes Handy. Benommen sehe ich mir dabei zu, wie ich erst den Akku tausche, dann ein Selfie mache, wie ich es auf das alte Ding sende und alles weitere auf dem pinken Teil lösche.
Schnitt.
Dann wieder ich selbst im Wald. Dunkel gekleidet, mein Blick sieht verschlossen aus. Immer wieder sehe ich mich um und deponiere das Handy im Gestrüpp. Es wird hell und ich verstecke mich gegenüber der Fundstelle im Gebüsch, doch dort wo die Bäume und Sträucher besonders eng stehen. Dann beobachte ich mich, wie ich mich selber dabei beobachte das Handy aus dem Gebüsch zu ziehen. Ich sehe, wie sich mein Blick verdunkelt, wie ich das Handy beäuge und damit das Tor zu meiner Vergangenheit öffne.
Wieder ein Schnitt.
Vor mir der kleine Bach, dahinter die grüne Wiese. Um mich herum die Bäume, die sich leicht im Wind bewegen. Vertrautheit.
„Ich war das.“ Hauche ich und warte vergeblich auf eine Antwort. „Ich war das alles, ganz alleine. Lena existiert nicht. Es ist die Rache an mir selbst. Für all die vergeudeten Jahre. Die Schmerzen. Hab mich selber ausgetrickst. Rache.“ Meine Stimme klingt hektisch. Meine Gedanken lassen sich nicht ordnen und überschlagen sich regelrecht. Ich habe keine Kontrolle über die Worte, die aus meinem Mund kommen. Noch immer warte ich vergeblich auf die Stimmen in meinem Inneren, die mir helfen würden die Situation zu verstehen. Ich grusele mich vor mir selbst. Kann nicht greifen, was gerade passiert ist. Ich kneife meine Augen zusammen und beginne zu schreien. Alles, was sich in mir angestaut hat, alle Fragen in meinem Kopf, der ganze Schmerz und das Gefühl mir selber nicht mehr trauen zu können, formt sich zu einem Schrei.
Hände packen mich, halten mich fest. Ich kneife verzweifelt meine Augen zu, versuche meine grausame Welt auszuschließen. Überall sind Hände. Fremde Hände. Ich schreie lauter und versuche mich zu befreien, doch ich kann mich nicht mehr bewegen. Jemand kniet auf mir und ruft nach Verstärkung.
Ich öffne wieder meine Augen. Der Wald ist weg, ebenso der schöne Duft nach grün und Freiheit. Nach Spontanität und Lust und Laune.

 

 

3 thoughts on “Verloren

  1. Liebe Namensvetterin,
    deine Geschichte hat mir gut gefallen! Ich finde es total spannend, dass die Handlung komplett auf eine einzige Person beschränkt ist und musste an der Stelle schmunzeln, als die Protagonistin auf den Internet-Button kommt und kurz in Panik gerät 😀
    Davon ab, finde ich die Dialoggestaltung sehr gelungen. Ich wollte auch unbedingt bis zum Ende lesen und herausfinden, wohin die aufkommenden Erinnerungen deine Protagonistin führen.
    Mir sind zwischendurch kleine Dopplungen aufgefallen. Z.B. “Am liebsten aber war ich schon damals immer im Wald.” Entweder damals oder immer würde reichen, oder?

    Ich habe dir auf jeden Fall ein Herzchen dagelassen! 🙂

    LG
    Merle (Geschichte: Sepia)

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