Jule KatzVerlorene Erinnerung

Wer bist du, fragte sie sich im Gedanken als sie ihn dabei beobachtete wie er seinen Kaffee trank und den Sportteil der Zeitung las. Und wer bin ich?

„Ist was?“, fragend sah er sie an. Er merkte, dass etwas nicht stimmte. „Nichts“, schnell nahm sie einen Schluck von ihrem Tee und sah Wilhelm beim Spielen zu. Er war ein stilles Kind. Konnte sich gut mit sich selbst beschäftigen. Martins Blick ruhte weiter auf ihr. Er glaubt mir nicht, die Angst kroch ihr über den Rücken. Sie lächelte ihn an. „Was wollen wir am Wochenende unternehmen?“, fragte sie, um ihn abzulenken. Noch kurz sah er sie misstrauisch an, dann seufzte er und sagte: „Ich muss noch einen Bericht zu Ende schreiben. Aber am Sonntag können wir an den See fahren, wenn du willst.“

Er wusste, wie sehr sie es liebte schwimmen zu gehen. Das war eine Sache an ihm, die sie zu schätzen wusste. Er war bemüht, dass sie oft genug die Gelegenheit bekam, ihre Bahnen zu schwimmen. Sie fuhren an den See, weil er Schwimmbäder nicht mochte. Generell mochte er keine Orte, an denen viele Menschen unterwegs waren. Sie hatte es nie hinterfragt. Fand es nicht merkwürdig, dass sie meistens nur unter sich blieben. Aber seit dem sie die Bilder erhalten hatte, da waren all diese Sachen keine kleinen Marotten mehr, sondern Warnzeichen. Zeichen, die sagten, hier stimmt etwas nicht. Sie vertraute ihm nicht mehr. Alles was er sagte, erschien ihr plötzlich wie eine Lüge. Wer ist dieser Mann, fragte sie sich zum hundertsten Mal an diesem Morgen. In endlos Schleife zogen die Fragen ihre Bahnen.

Wer bin ich? 

Wer ist er?

Was ist an dem Tag passiert, als ich den Unfall hatte?

Warum ist er der einzige Mensch in meinem Leben, der mir etwas über mich erzählen kann?

Wieso ist meine Vergangenheit so grau und trostlos? Ohne Freunde? Ohne richtige Familie?

Und wieso in aller Welt, habe ich ihm geglaubt?

Wegen der Bilder, schoss es ihr durch den Kopf. Er hat dir Bilder von euch gezeigt. Bilder von eurer Hochzeit. Bilder von gemeinsamen Urlauben. Du hattest keinen Grund, ihm nicht zu glauben. 

Und dann war dieser Brief für sie aufgetaucht. Er hatte im Briefkasten gelegen, ohne Absender. Es war das erste Mal, dass sie Post bekommen hatte. Plötzlich hielt sie Fotos in der Hand, die ihr eine andere Version ihrer selbst zeigten als die, die sie kannte. Oder besser gesagt als die, die er ihr gezeigt hatte.

Er hatte ihr erzählt, dass sie keine Freunde besaß, weil sie nur schwer anderen Menschen vertraute. Weil sie aus einer verkorksten Familie kam, in der beide Eltern Alkoholiker gewesen waren. Außerdem seien ihre Eltern beide tot. Ihre Mutter war an Krebs gestorben, ihr Vater hatte sich das Leben genommen.

Ihre Vergangenheit schien so erbärmlich, dass sie an manchen Tagen froh gewesen war, sich nicht zu erinnern. Es ist schwer, ein Leben oder Menschen zu vermissen, an die man sich nicht erinnern kann. Dagegen schien ihr das Leben, das sie jetzt führte angenehmer. Auch wenn es nicht perfekt war. Aber welches Leben war das schon?

Er stand auf, ohne sein Geschirr wegzuräumen. Das tat er nie. Für ihn war klar, dass sie sich darum kümmern würde. „Ich geh ins Büro und setz mich an den Bericht“, sagte er. „In Ordnung“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Sei normal, ermahnte sie sich.

Als er weg war, räumte sie die Küche auf und setzte sich zu Wilhelm. Er zeigte ihr, was er gemalt hatte. Dabei handelte es sich um bunte, wild durcheinander, gekritzelte Striche auf weißem Papier. Sie liebte seine Kunstwerke. Kunst von Kindern wirken auf den ersten Blick so, als würden sie nichts Besonderes ausdrücken, aber sie verstand, dass sie das sehr wohl taten. Kinderbilder zeigten, wie es aussah, wenn man lebendig war. Und wenn man etwas tat, einfach nur, um es zu tun und nicht, um etwas ausdrücken zu wollen. Manchmal malte sie selbst etwas. Sie tat es heimlich, weil es ihm nicht gefiel, was sie malte. Ihre Werke waren bunt und abstrakt. Er sagte, sie sähen aus wie Kindergartenbilder. Sie mochte es. Die Farben und Formen. Sie hatten etwas Tröstliches. Wilhelm griff nach neuem Papier und begann wieder von vorn. Hochmotiviert ließ er den Buntstift wild über das leere Papier fegen. „Das bist du“, sagte er aufgeregt und klang unheimlich stolz dabei. Lächelnd strich sie ihm durch sein hellblondes Haar. Es war genau so golden wie ihres. Sie hatte sich früher gewundert, dass es so hell war, weil Martin rabenschwarzes Haar hatte. Seit dem Brief schwirrte ihr unaufhörlich ein ganz bestimmter Gedanke durch Kopf, der ihr zu verrückt schien, als das er wahr sein konnte.

Vielleicht ist er gar nicht sein Sohn. 

Sie war bereits vor dem Unfall schwanger gewesen. Die Ärzte waren überrascht, dass das Kind keinen erheblichen Schaden abbekommen hatte, aber Wilhelm überlebte. Sie hatte nicht daran gezweifelt, dass er der Vater war. Er war ihr Ehemann, das bezeugte der Ring an ihrem und seinen Finger und die Bilder, die er ihr gezeigt hatte. Er hatte Wilhelm nie wie einen Sohn behandelt. Meistens verhielt er sich so, als sei Wilhelm eine Last, die er akzeptieren musste. Er ertrug ihn. Mehr nicht.

Deshalb hatte sie sich auch gewundert, als er den Wunsch von einem zweiten Kind geäußert hatte. Wozu willst du ein zweites Kind, wenn du nicht mal das Erste liebst, hatte sie ihn fragen wollen, aber nicht getan, weil sie Angst vor seiner Reaktion gehabt hatte. Seit dem schlief er jeden Freitagabend mit ihr. Es gefiel ihr nicht, aber sie wusste nicht, was sie tun sollte. Er war ihr Mann. Und wenn man verheiratet ist, schlief man miteinander.

Auch das hatte sie nicht hinterfragt. Oder dass es ihr zuwider war, wenn er in sie eindrang. Sie versteifte dabei und bewegte sich kaum. Ihn störte es nicht. Mit jeder seiner Bewegungen stöhnte er auf und wenn er kam, hielt sie die Luft an, um nicht loszuschreien. Natürlich begriff sie, dass sie ihn nicht liebte. Aber sie wusste nicht wohin und außerdem hatte sie keinen Job. Er wollte nicht, dass sie arbeitete. Schließlich muss sich ja jemand um den Kleinen kümmern, hatte er gesagt. Als sie ihn fragte, wieso Wilhelm nicht in die Kita könne wie die Kinder ihrer Nachbarn, da sah er sie entgeistert an. Die Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben und sie fürchtete einen kurzen Augenblick, dass er sie schlagen würde. Aber dann hatte er nur laut gelacht. Sei nicht albern. Du willst doch nicht so sein wie die! Du bist schließlich eine gute Mutter oder nicht? Sie hatte genickt, weil sie Angst hatte, dass er sie doch noch schlug, wenn sie ihm widersprach.

Als er im Büro verschwunden war lief sie zum Regal und zog eines der Bücher heraus. Es war Krieg und Frieden von Tolstoi in dem sie den Brief versteckt hielt. Sachte zog sie ihn heraus. Kurz hielt sie inne und lauschte. Alles war ruhig, nur Wilhelm summte leise vor sich hin.

Sie öffnete den Umschlag und holte die zwei Bilder heraus, die sich darin befanden.

Das erste Bild, das sie sich ansah, zeigte sie auf eine Art und Weise, die sie nicht von sich kannte. Sie war ungewöhnlich fröhlich und lachte. Außerdem trug sie ein Kleid, das sie sonst nicht anziehen würde. Es war gelb wie die Sonnenblumen auf den Feldern. Und dann war da noch er. Sein Gesicht hatte etwas Offenes, vermutlich lag es an seinen Augen. Sie spiegelten etwas von Neugierde und Freude wider, beides Gefühle, die ihr fremd geworden waren. Seine Haut war gebräunt, als würde er viel Zeit in der Sonne verbringen. Sein Arm lag um ihre Schulter und ihr Gesicht lehnte an seiner Brust. Sie wirkten vertraut. Wie ein Liebespaar. Ihr Herz machte ein Satz.

Obwohl sie sich nicht an seinen Namen, geschweige denn an sein Gesicht, erinnern konnte, bewirkte sein Anblick, dass ihr warm wurde. Etwas in ihrem Bauch begann zu kribbeln und eine Welle von Kummer überkam sie, die ihr Tränen in die Augen trieb. Sie vermisste ihn.

Ihn, diesen Fremden auf dem Bild. Sie wusste, dass sie ihn liebte. Aber sie erinnerte sich nicht an seinen Namen und das war eigentlich das Schlimmste daran.

Manchmal sah sie auch Orte oder Dinge, die Gefühle in ihr auslösten, zu denen ihr aber jegliche Erinnerung fehlte. Da war dieses dunkle Loch in ihr, das sie nicht zu füllen wusste. Was tut man, wenn das Schicksal einem jegliche Erinnerungen seines Lebens beraubt? Sie wusste es nicht. Aber jetzt war es so weit, dass sie bereit war, nach der Wahrheit zu suchen. Sie musste. Denn sie verstand endlich, dass sie eine Lüge lebte. Wer auch immer er war, er war nicht ihr Ehemann. Auch wenn sie die letzten zwei Jahre mit ihm verbracht hatte. Und auch wenn sie wusste, was sein liebstes Essen war, wie er morgens aus sah, wenn er aufstand und was er sich abends im Fernseher ansah, war er nicht ihr Mann. Ihr Bauchgefühl hatte es die ganze Zeit über gewusst, nur nicht ihr Kopf. Ihrem Geist fehlten Erinnerungen, die ihr Herz nicht verloren hatte. Sie drehte das Foto in ihren Händen. Es war nicht das erste Mal, dass sie die drei Worte las, die ihr jemand auf die Rückseite geschrieben hatte. Das bist du. Wieder klopfte ihr Herz. Das bin ich! Eine ungeahnte Energie durchströmte ihren Körper und hinterließ eine Gänsehaut auf ihren dünnen Armen. Plötzlich war Hoffnung in ihr. Die Hoffnung, dass ihr Leben doch nicht so jämmerlich war, wie sie dachte. Dann griff sie nach dem zweiten Bild. Sie lag auf einer Coach und las in einem Buch. Sie wirkte konzentriert. An der Wand hinter ihr hing ein Gemälde und sie erkannte, dass sie es gemalt haben musste. Es war am Rande bräunlich und der Mitte etwas bunter. Es gefiel ihr. Genau so wie ihr die Vasen auf der Fensterbank gefielen, die am Rande des Fotos zusehen waren. Wieder keimte Sehnsucht in ihr auf. Sie drehte das Bild um. Diesmal waren es vier Worte, die dort geschrieben standen.

Das ist dein Zuhause.

Zuhause. Es war kein fremdes Wort. Doch als sie die Zeilen las, bekam das Wort eine neue Bedeutung. Plötzlich verband sie ein Gefühl damit. Geborgenheit. So hatte sie sich seit dem Unfall nicht mehr gefühlt, und das, obwohl ihr Mann alles für sie getan hatte. Er kochte, kaufte ein und sprach ihr gut zu. Er bemühte sich. Sie hatte das Gefühl, er wollte um alles in der Welt, dass sie ihn liebte. So sehr, wie auch er sie liebte. Aber sie schaffte es nicht. Und dafür hatte sie sich geschämt. Aber jetzt, während sie die Briefe in den Händen hielt, durchströmte sie pure Erleichterung. Sie liebte ihn nicht, weil er nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Das machte ihr gleichermaßen Angst, wie es ihr auch Kraft gab. Und Mut. Es gab ein Leben, von dem sie nichts wusste. Ein Leben, zu dem sie zurückkehren konnte. Sie musste nicht bei ihm bleiben. Hier, in dieser winzigen Wohnung, die nach Rauch stank.

„Was tust du da?“, seine Stimme war ruhig und kontrolliert und sie wusste sofort, dass das kein gutes Zeichen war. Sie erstarrte, nur ihre Hände zitterten. Sie drehte sich nicht um. Zu groß war die Angst davor, was sie in seinem Blick sehen würde, wenn sie ihm jetzt in die Augen sah. Langsam kam er auf sie zu. Noch immer starrte sie auf das Bild in ihren Händen. Bitte nimm es mir nicht weg, dachte sie und die ersten Tränen liefen über ihre Wangen. „Woher hast du das?“, fragte er, noch immer mit ruhiger Stimme. Ihre Stimme war nur ein leises Schluchzen, als sie antwortete: „Sie lagen im Briefkasten.“

Er nahm sie ihr stumm aus der Hand. Dann wandte er sich von ihr ab, lief zur Spüle und zündete sie mit einem Feuerzeug an. Verzweifelte sah sie zu, wie ihr altes Ich zu Asche zerfiel. Dann drehte er sich wieder zu ihr um. Erst jetzt, fand sie die nötige Energie, um ihn anzusehen. „Wer bist du?“, flüsterte sie. Er verzog keine Miene. „Die Liebe deines Lebens“, sagte er und ein ungutes Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit. „Nein, bist du nicht“, sagte sie und wusste nicht, woher sie den Mut nahm, so mit ihm zu sprechen. Seine Fassade begann zu bröckeln. Eine Falte bildete sich zwischen seinen Brauen und seine Mundwinkel zuckten grimmig. „Du liebst mich“, seine Stimme war nur noch ein bedrohliches Brummen. Ihr Blick huschte zu Wilhelm. Still saß er da und starrte die beiden an. Angst lag in seinen Augen. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie wusste nicht, wie weit sie gehen konnte. Sie wollte nicht, dass es eskalierte und Wilhelm etwas zu sehen bekam, was kein Kind der Welt zusehen bekommen sollte. Sie schluckte schwer. Dann sagte sie: „Du hast Recht.“ Die Worte hingen in der Luft und sie hoffte, dass sie seine Explosion verhinderten. Sein Gesicht war noch immer vor Wut verzerrt. Wieder kam er langsam auf sie zu. Panik machte sich in ihr breit und sie wagte nicht, sich zu bewegen. Er blieb erst stehen, als er ihr so nah war, dass sich ihre Nasenspitzen berührten. „Sag, dass du mich liebst“, raunte er. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und am liebsten wäre sie zusammen gebrochen. Aber das tat sie nicht. Nicht, wenn Wilhelm neben ihr saß und sie sehen konnte. „Ich liebe dich“, sagte sie kaum hörbar. „Lauter“, forderte er sie auf. „Ich liebe dich“, wiederholte sie, sah ihm dabei aber nicht in die Augen. Er nahm ihr Kinn zwischen die Finger und zwang sie somit, ihn anzusehen. Er lächelte, aber es war kein echtes Lächeln. Dann küsste er sie. Mit seiner Zunge öffnete er ihre Lippen und drang in sie ein. Fast hätte sie gewürgt, aber sie riss sich zusammen. Nicht jetzt, nicht hier, dachte sie und blieb stark. Dann ließ er sie wieder los und trat einen Schritt zurück. „Braves Mädchen“, wieder lächelte er. Er ist verrückt, schoss es ihr durch den Kopf. Wieso hatte sie all die Zeit nicht gemerkt, wie verrückt er war?

Er lief zur Wohnungstür und schloss sie ab. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, lag etwas in seinem Blick, das sie zuvor nicht gesehen hatte. Etwas Dunkles, Gefährliches. Sie musste handeln. Sie wusste nur noch nicht wie.

Schweigend lief er zurück ins Büro. Als er weg war, fiel sie auf die Knie und umschloss Wilhelm mit ihren Armen. Weinend vergrub er sein Gesicht an ihrer Brust und schmiegte sich eng an sie. Die Tür ging wieder auf und er kam mit einer Pistole in der Hand zurück. Die beherrschte Ruhe von eben war wie weggeblasen. Dafür war jetzt verzerrter Wahnsinn, in seinem Gesicht zusehen.

„Du wirst ihn immer lieben, oder?!“, schrie er sie an, während er mit der Pistole rum fuchtelte. Sofort schob sie den Kleinen hinter sich.

„Was?“, ihre Stimme versagte, bevor sie das Wort zu Ende gesprochen hatte.

„Du liebst ihn, obwohl du nicht mal mehr weißt, dass es ihn gibt“, sein Kopf war rot angelaufen und er presste verbissen die Worte zwischen den Zähnen hervor. Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich erneut und er begann laut zu lachen.

„Aber du musst nicht auf ihn warten. Er ist tot! Hörst du? Tot!“, er drückte den Lauf der Pistole an ihre Stirn und sie wusste, dass es jetzt vorbei war. Ihr kleines, trauriges Leben würde ein Ende finden. „Ich habe ihn getötet“, er grinste breit. Sie sah ihn an. Musste wissen, ob da Wahrheit in seinen Augen lag.

„Er lungerte vor dem Haus herum. Also habe ich ihn angesprochen und gefragt was er hier sucht“, er ging wieder einen Schritt zurück und lief nervös im Kreis. „Natürlich log er mir ins Gesicht, so als wäre ich dumm!“, ein kehliges Lachen verließ seinen Hals. „Aber ich wusste wer er war. Also bat ich ihn herein. Er vertraute mir, das war sein Fehler. Jakob war schon immer viel zu naiv.“

Jakob! Der Name hallte in ihrem inneren wider. Jakob. Jakob. Jakob.

Nichts. Nicht eine Erinnerung stieg in ihr auf, nur dieses tiefe Gefühl von Sehnsucht und Liebe.

„Was hast du getan?“, flüsterte sie entsetzt. „Das was jeder gute Mann getan hätte, der seine Frau nicht verlieren will“, die Wut trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. „Er wollte dich mir weg nehmen!“, er sprach über sie, als sei sie ein Gegenstand, den man besitzen und stehlen konnte. „Ich musste ihn aufhalten“, er sprach wieder etwas ruhiger und sank auf die Knie, so dass sie auf Augenhöhe waren. Tränen liefen über sein Gesicht. Sanft strich er über ihre Wange.

„Verzeihst du mir?“, plötzlich war seine Stimme ein Wimmern. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Er war wie ausgewechselt. Als würde sich seine Persönlichkeit alle paar Sekunden verändern. „Bitte verzeih mir“, er begann zu schluchzen. Sie sagte nichts. Starrte ihn nur an, während sie verkrampft Wilhelm hinter ihrem Rücken festhielt. Sag nichts Falsches, ermahnte sie sich. Bleib ruhig! 

Sein Körper bebte und große Tränen kullerten auf den Boden. Eine Weile saß er weinend vor ihr, bis er abrupt damit aufhörte und seinen Kopf hob. Still sah er sie an. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Und eine ihr unbekannte Kälte, lag plötzlich in seinem Blick. Seine Mundwinkel zuckten und ein Grinsen breitete sich aus. „Er ist tot“, sagte er erneut und die Freude darin war nicht zu überhören. „Tot. Tot. Tot“, sang er lachend und stand schwungvoll auf. Dann sah er herablassend auf sie hinab. „Sieh doch nur, zu was er dich macht. Ein Häufchen Elend bist du, seit sein Brief dich erreicht hat. Hätte ich gewusst, dass er ihn dir hinterlassen hat, hätte ich ihn vernichtet.“ Sie sagte nichts, wartete nur bis zu dem Moment, wenn sich sein Gesicht wieder verändern würde. Der Mann der jetzt vor ihr stand, kannte keine Gnade. Sie musste auf den warten, der bitterlich weinte. „Ich musste ihn töten“, er sagte es so, als hätte er keine Wahl gehabt.

„Ich liebe ihn auch tot“, sie sah ihm tief in die Augen. Komm schon, dachte sie. Ich weiß, dass du da drin bist.

„Was sagst du?“, zischte er und sofort schwebte die Pistole vor ihrem Gesicht. Sie zögerte nicht. „Ich liebe Jakob“, seinen Namen auszusprechen, veränderte alles. Auf einmal sah sie Bilder vor ihrem inneren Auge.

Die Erinnerungen kamen in hohen Wellen zurück, die sie überrollten. Eine schneller als die andere, brach über ihr zusammen. Sie sah Jakobs Lächeln, hörte, wie er ihren Namen rief. Sofia. Ihr Name war Sofia! Sie spürte seine Lippen auf ihren, hörte, wie er unter der Dusche sang, sah, wie sie sich darüber stritten, wer dran war, den Müll raus zu bringen, und warum seine Socken schon wieder überall herum lagen. Und dann sah sie Martin. Den Mann, mit dem sie die letzten zwei Jahre verbracht hatte. Wie er ihr vor der Arbeit auflauerte, sie belästigte und nicht in Ruhe ließ. Sie erinnerte sich wieder an den Unfall. Sie war auf einem Kongress in Zürich gewesen. Er war ihr gefolgt. Als das Unglück passierte, muss er der Erste gewesen sein, der zur Stelle war. Sie lag mehrere Tage im Koma. Er musste ihren Ausweis beschlagnahmt und sie als seine Frau ausgegeben haben. Vermutlich hatte er alles fälschen lassen. So wie die Bilder, die er ihr gezeigt hatte.

Alles war eine Lüge.

Wieder hob sie den Blick.

„Ich liebe Jakob“, sagte sie und in ihrer Stimme lag eine Klarheit, die sie in den letzten Jahren nicht gehört hatte. „Ich liebe Jakob“, wiederholte sie.

Und dann passierte es wieder. Sein Körper sackte zusammen, er schrumpfte ein bisschen, zog den Kopf ein und begann wieder zu weinen. „Nein, nein, nein“, jammerte er. „Wieso liebst du mich nicht?“, er sah sie verzweifelt an. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Fast hätte er ihr Leid getan. Die Pistole lag schlaff in seiner Hand. Er stand einen knappen Meter von ihr entfernt. Sie wusste, dass sie nicht viel Zeit hatte, bis der kalte Ausdruck in sein Gesicht zurückkehren würde. Sie ließ Wilhelm los und machte einen schnellen Schritt auf ihn zu. Flink riss sie ihm die Waffe aus der Hand. Als er reagierte, war es zu spät. Sie zielte auf ihn. Und da war es wieder, der kalte Blick. Und dieses bedrohliche Grinsen in seinem Gesicht.

„Sie ist nicht geladen“, sagte er leise. Ihr Herz schlug wie wild gegen den Brustkorb. Er war stärker als sie. Wenn es stimmte, was er sagte, dann hatte sie verloren.

Sie streckte ihren Rücken durch und hob ihr Kinn. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Sie wusste jetzt wieder, wer sie war. Das konnte er ihr nicht nehmen, genau so wenig, wie ihre Liebe zu Jakob. Selbst dann nicht, wenn er tot war.

„Wir werden sehen“, sagte sie mit fester Stimme. Sie schloss die Augen.

Dann drückte sie ab.

Der Knall hallte so laut durch die Wohnung, dass sie das Gefühl hatte, die Kugel wäre ihr durch den Kopf geflogen. Als sie die Augen wieder öffnete, lag er vor ihr. Blut floss aus seinem Bauch und er hielt sich die Wunde mit zitternder Hand. Er röchelte und wirkte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie ließ die Waffe fallen. Dumpf fiel sie zu Boden. Dann drehte sie sich zu ihrem Sohn. Wilhelm stand wie versteinert da. Er zitterte am ganzen Körper und die Panik in seinem Gesicht, brach ihr das Herz. Aber jetzt waren sie frei. Und sie wusste wohin.

Sie hatte eine Familie und Freunde, zu denen sie gehen konnten.

Sie dachte nicht daran, irgendetwas mitzunehmen. Das hier war nicht ihr Zuhause, hier war nichts, woran sie sich erinnern wollte. Obwohl Martin sich noch bewegte, kniete sie sich zu ihm hinunter und nahm sich den Wohnungsschlüssel aus seiner Hosentasche. Dann verließ sie mit Wilhelm auf den Armen die Wohnung und lief die Treppen hinunter. Als sie die Tür öffnete und ins Freie trat, war sein Gesicht, das Erste, was sie wahrnahm.

Da stand er. Und er lebte.

Ein Einsatzkommando der Polizei, eilte an ihnen vorbei die Treppen hinauf zur Wohnung. Es herrschte Unruhe und viele Stimmen sprachen durcheinander. Aber alles was sie sah, war er. Jakob rannte auf sie zu und schloss sie fest in seine Arme. Sein vertrauter Geruch erfüllte ihre Nase und sie nahm ihn weinend in sich auf. Er hielt sie solange fest, bis jemand kam und ihr sagte, dass sie ihnen folgen sollte. Es gab vieles zu klären, das wusste sie. Aber in diesem Augenblick, da sah sie nur zu ihn.

Er hielt ihre Hand in seiner und sie wusste, er würde sie nicht loslassen.

Sie war wieder Zuhause.

Bei ihm.

3 thoughts on “Verlorene Erinnerung

  1. Alles in allem eine spannende Kurzgeschichte. Der Einstieg war für mich etwas verwirrend, aber dann habe ich schnell begriffen, wer wer ist. Die Idee, jemandem eine falsche Identität “einzureden” nach einem Gedächtnisverlust finde ich spannend.
    Schau aber nochmal bezüglich der Kommasetzung, das ist mir immer wieder aufgefallen. Und auch in den Zeiten springst du manchmal. Das sind formale Dinge, die schnell behoben werden können und den Lesefluss noch besser machen können.

Schreibe einen Kommentar