Madeline KaufmannVertraute Fremde

Wie spät war es? Verzweifelt schaute ich mich im Raum um, in dem weder eine Uhr noch ein Wecker in Sichtweite war. Mein Kopf pochte. Der widerliche Gestank von Zigarettenrauch, verursacht durch den Aschenbecher auf dem Nachttisch neben mir, in dem noch immer ein Kippenstummel fleißig vor sich hin qualmte, verstärkte meine Kopfschmerzen.
Die Fenster waren geschlossen, die Rollläden gerade so weit geöffnet, dass ein schmaler Lichtstrahl hindurchfallen konnte und dem verqualmten Zimmer einen hellen Schleier verpasste. Eigentlich war es hier drin viel zu klein für ein Doppelbett, dennoch stand es neben dem Fenster in die Ecke gequetscht, sodass es nur von einer Seite aus begehbar war. Einen Schrank oder ähnliches gab es nicht – dafür musste ein Stuhl herhalten, über dem sämtliche ungefaltete, vermutlich bereits getragene Klamotten hingen. Meine Sachen hingegen waren im ganzen Raum verteilt: Der rote BH hing über der Bettkante, den Slip konnte ich auf der Fensterbank entdecken und meine Bluse sowie die hautenge Jeans gesellten sich neben der Bettdecke auf dem Boden, welche im Eifer des Gefechts heruntergefallen war und, trotz der eisigen Außentemperaturen, in dem viel zu heißen Zimmer nicht weiter benötigt wurde.
Die Füße des Mannes neben mir ragten über den Rand des Bettes, seine braune Mähne überdeckte sein Gesicht und er roch unwiderstehlich – zumindest war das gestern Abend der Fall gewesen; nun war da nur noch der Geruch von Alkohol, abgestandenem Rauch und Schweiß.
Ich griff nach meinem BH und fischte den Slip von der Fensterbank, wobei ich mich über den Schönling beugen musste und kurz die Befürchtung hatte, ihn dadurch aufzuwecken, ehe ich aus dem Zimmer schlich.
Die Wohnung war nicht hässlich. Zu behaupten sie war schön, wäre jedoch auch gelogen. In Unterwäsche tappte ich ins Wohnzimmer, welches im Gegensatz zum Schlafzimmer sehr geräumig war. Jeden Spiegel, an dem ich vorbeilief, ignorierte ich gekonnt – diesen elendigen Anblick wollte ich mir um alles in der Welt ersparen. Ich kannte die Frau, die ich darin sehen würde gut – sie wusste, wie falsch alles war, was sie gestern Nacht getan hatte und ebenso wusste sie, dass sie es bereuen würde, wenn sie weiter darüber nachdachte. Daher tat sie es nicht, sie tat es nämlich nie, und war fast schon froh über die Tatsache, dass sie sich ohnehin an den Großteil dieser Nächte nicht erinnern konnte. Lediglich ein paar Gedankenfetzen würden ihr bleiben, aber sie hatte es bereits perfektioniert, diese beiseite zu schieben; in eine Schublade die sie nie öffnete.
Nachdem ich auf der Küchenzeile eine kleine Digitaluhr entdeckt hatte – sie zeigte 6:12 Uhr – begab ich mich mit ruhigen, aber schnellen Schritten zurück ins Schlafzimmer, um mich vollständig anzuziehen. Meine Bemühung, dies möglichst leise anzustellen, schien sich zu bewähren. Der Mann, wer immer er war, schlief tief und fest weiter.
Als ich im Flur meine Schuhe entdeckte, wünschte ich mir, ich hätte mich gestern Abend gegen High-Heels entschieden, denn nun war mir viel mehr nach gemütlichen Hausschuhen zumute. Meine Füße fühlten sich wund an und auch wenn ich bereits gesehen hatte, dass sie an einigen Stellen tatsächlich aufgeschürft und blutig von der langen, durchtanzten Nacht waren, so war es doch der Rest meines Körpers, der sich verletzt und beschmutzt anfühlte.
Draußen dämmerte es. Es waren bestimmt Minusgrade und auf den Straßen war kein Mensch zu sehen. Lediglich ein paar Autos rasten mit horrenden Geschwindigkeiten an mir vorbei, als ich die Bordsteinkante entlanglief, ausschauhaltend nach einer Bushaltestelle.
Erst an der frischen Luft merkte ich, wie alkoholisiert ich tatsächlich noch war. So sehr ich auch versuchte meinen Blick zu fokussieren, der Horizont sowie die noch immer angeschalteten Straßenlaternen waren verschwommen und das Geradeauslaufen fiel mir schwerer als gedacht. Jedes Mal, wenn mich ein Auto passierte, zuckte ich zusammen und sah den verschwommenen Rücklichtern in der Ferne hinterher. Mein dünner Mantel schützte mich kaum vor der Kälte und da ich weder Schal noch Mütze, geschweige denn Handschuhe dabeihatte, sehnte ich mich mit jedem Schritt mehr nach einem heißen Schaumbad.
Die Straße schien endlos, eine Bushaltestelle hatte ich nicht gesehen; dank meines Zustands vielleicht auch übersehen. Blind durchwühlte ich meine Handtasche nach meinem Smartphone, was das Geradeauslaufen nicht unbedingt vereinfachte. In den schmalen Fächern meiner schäbigen Michael-Kors-Fälschung fand ich einen knallroten Lippenstift, Portemonnaie, meine Schlüssel sowie eine Kippenschachtel, deren fehlender Inhalt einen noch immer anhaltenden Nachgeschmack hinterlassen hatte. Mein Smartphone hingegen bekam ich nicht zu greifen.
Den Blick nun vom Fußweg abwendend, konzentriert auf meine Tasche, schaute ich noch einmal genauer nach. Hoffentlich hab ich das scheiß Ding nicht verloren, dachte ich, wütend auf mich selbst.
Ehe ich mich versah, rutsche der pfennigschmale Absatz meiner Schuhe den Bordstein hinab. Im Bruchteil einer Sekunde dröhnte ein gefährlich nahes, ohrenbetäubendes Hupen durch meinen noch immer pochenden Kopf. Ich zuckte zusammen.

Schweißgebadet schreckte ich hoch. Ich trat die viel zu dicke Daunendecke von der Bettkante und öffnete wehleidig die Augen. In meine Nase drang der Geruch von frischen Spiegeleiern und Bacon.
»Na Schlafmütze, auch mal wach? Ich habe dir Frühstück gemacht.« Kylian, dessen leuchtende Rehaugen zu mir heruntersahen, stellte ein fertig gedecktes Tablett neben unserem Bett auf dem Nachttisch ab.
Unserem Bett. Mir schossen Gedankenfetzen der vergangenen Stunden ins Gedächtnis. Was war passiert? Wie spät war es? Und wie war ich in unser Bett gekommen? Mit einem Mal kamen tausend weitere Gedanken und mit dem Versuch diese zu ordnen, fühlte es sich an, als würde mein Kopf jeden Moment platzen. Ich fasste mir an die Schläfen und presste die Augen zusammen.
»Alles in Ordnung, Schatz?« Schatz, dachte ich, diesen Namen habe ich überhaupt nicht verdient.
»Ja sicher,«, log ich und brachte ein vages Lächeln hervor, »ich habe nur etwas Kopfschmerzen.«
»Ihr wart ja auch echt lange unterwegs.«, lachte er. Kylian sah geduscht aus, seine Haare gestylt, sein durchtrainierter Körper in frische Klamotten geworfen – genau wie es sich für einen normalen Erwachsenen früh morgens unter der Woche gehört.
»Ja, es tut mir leid, ich-«, murmelte ich und räusperte mich, als das unerträgliche Sodbrennen, welches mir durch die Kehle schoss, mich davon abhielt, den Satz zu beenden. Wenn ich ehrlich zu mir war, wusste ich aber ohnehin nicht, was ich Kylian erzählen wollte.
»Du brauchst dich nicht rechtfertigen«, er strich mir eine Haarsträhne aus meinem Gesicht und blickte mir mit seinen tiefbraunen Augen direkt in meine, »Weihnachtsfeier hat man ja nicht alle Tage.«
Ich wandte meinen Blick ab und nickte zustimmend, konnte ihn dabei aber nicht ansehen. Meine Erinnerungen an den gestrigen Abend waren ein einziger schwarzer Schleier, welcher, so sehr ich es auch versuchte, nicht zu durchblicken war. Die einzigen Bruchstücke, die mir blieben, waren vom heutigen Morgen; das Aufwachen im Bett eines Fremden und die morgendliche Suche nach einer Bushaltestelle.
Leider musste ich mir eingestehen, dass ich diese Dinge in den letzten Monaten oft erlebt hatte. Und so sehr mich dann mein Kater quälte, war der schwierigste Part doch jedes Mal, meinem treuen, mich liebenden Ehemann am Morgen danach in die Augen zu sehen. Dann wollte ich am liebsten unter der Bettdecke verschwinden und nie wieder hervorkommen.
Ich wusste nicht einmal was das Schlimmste war – dass ich meinen Körper immer wieder, ohne darüber nachzudenken, fremden Männern hingab oder die Tatsache, dass Kylian mir so viel Vertrauen schenkte, es nicht einmal hinterfragte, wenn ich die ganze Nacht weg war, und ich dies erbarmungslos ausnutzte.
Ja, diese Szenarien wiederholten sich; doch dieses Mal war das Muster ein anderes. Wie so oft, wenn ich dann im eigenen Bett aufwachte, erinnerte ich mich noch an den Fremden, an den Versuch ihn nicht zu wecken, während ich mich anzog und aus der Wohnung schlich. Auch der unvermeidbare Walk of Shame, den ich anschließend auf mich nehmen musste, war mir nicht aus dem Gedächtnis verschwunden. Ich musste mir jedoch eingestehen, einen schlimmeren Filmriss zu haben, als ich ihn bisher kannte, denn ob ich eine Bushaltestelle gefunden, ein Taxi genommen oder den ganzen Weg von wo auch immer bis ins eigene Bett zu Fuß gemeistert hatte, wollte mir einfach nicht mehr einfallen. Dank des Restalkohols, wirkte meine Erinnerung an diesen Morgen, als gehöre sie einer anderen Person, als hätte ich das Geschehen nur beobachtet. Und trotzdem verursachten diese grellweißen Scheinwerfer und das plötzliche Hupen, welches mir nach wie vor in den Ohren dröhnte, noch jetzt Gewitter in meinem Kopf.
Oder waren es lediglich ein mieser Albtraum und ein furchtbarer Kater?
»Danke für das Frühstück, Schatz.«, ich wagte es, Kylian anzusehen und gab ihm einen schnellen Kuss auf die Wange, in der Hoffnung, er würde meine Fahne nicht riechen, »aber ehrlich gesagt habe ich gar keinen Hunger. Ich werde es in den Kühlschrank stellen und später essen, okay?«
»In Ordnung«, Kylian lächelte mir noch einmal zu und verließ dann das Zimmer. Wie immer nahm er mir nichts übel. Am liebsten hätte ich einfach gegessen und ihm gezeigt, dass ich seine Bemühungen mehr als alles in der Welt wertschätze, aber bloß der Gedanke daran etwas essbares zu mir zu nehmen, ließ den Geschmack von Erbrochenem in mir hochkommen.
Mit all meinen Kräften zerrte ich mich aus dem Bett und spürte beim Auftreten, trotz des weichen Teppichbodens im Schlafzimmer, meine wunden Fußballen. In unserem Haus war es angenehm warm, sodass ich mir lediglich meinen dünnen Morgenmantel aus Satin überwarf, ehe ich die Treppe hinunterstolperte. Kylian hatte sich bereits in sein Arbeitszimmer verzogen, welches er vermutlich erst wieder verlassen würde, sobald es Zeit fürs Abendessen war.
Samt Tablett begab ich mich in die Küche, jeder Schritt eine Überwindung; aber eben doch ein Schritt. Dort angekommen, stellte ich das Frühstück kalt, befüllte den Wasserbehälter der Kaffeemaschine und stellte eine Tasse – einen Kelch, wie Kylian sie nannte – darunter. Koffein und eine kalte Dusche, dann sieht der Tag schon ganz anders aus.
Um ein wenig frische Luft in die für meinen Geschmack zu stickige Küche zu lassen, öffnete ich die Terassentür, welche an diese angrenzte. Niemals hätte mein jüngeres Ich sich ausmalen können, dass ich mit vierundzwanzig Jahren, verheiratet mit dem treuesten Mann der Welt, in einem freistehenden Haus am Stadtrand leben würde. Ich liebte es hier; wenn ich die Tür öffnete, hörte ich Vogelgezwitscher statt Autolärm und den Blick in unseren, an einen rar besuchten Park angrenzenden, Garten genoss ich auch nach zwei Jahren noch genauso wie am Tag des Umzugs.
Ich war im Begriff, den rot leuchtenden Knopf der Maschine zu betätigen, als mich ein Lied, dessen unverkennbare Melodie mir die nächsten Tage nicht mehr aus dem Kopf gehen würde, davon abhielt. Dem leisen Klingeln folgend, schaute ich mich um und suchte nach dem Ding, das dieses abspielte. Statt in der Küche, fand ich es auf dem mosaikbesetzten Gartentisch, nahm es mit rein und legte es dort ab.
»Baby, dein Handy klingelt!«, rief ich, vergebens, denn Kylians Arbeitszimmer war weder im Erdgeschoss noch konnte er mich durch die verschlossene Tür hören.
Ich betrachtete das heruntergekommene iPhone, dessen nun auf der Arbeitsfläche liegendes Display aufleuchtete und wild vor sich hin vibrierte. Mir fiel auf, dass es gar nicht Kylians Handy war und ich starrte es an, darüber grübelnd, wem es gehören konnte. Als der anonyme Anrufer nach einigen Sekunden aufgelegte, ploppte eine SMS am oberen Bildschirmrand auf. Noch bevor mir der Gedanke kam, das Gerät lieber wegzulegen, da ich nicht wusste in wessen Handy ich im Begriff war herumzustöbern, tippte ich reflexartig darauf und betrachtete den Inhalt der SMS.
Angehängt war ein Foto mit einer Frau darauf, bekleidet in lediglich einem roten String, die blonden Haare wild durchwühlt, die Wimperntusche verschmiert.
Mir blieb der Atem stehen.
Auch wenn die Erinnerung an diesen Moment kaum vorhanden war, erkannte ich es sofort. Das Foto zeigte nicht irgendeine Frau, es zeigte mich, in der Nacht, die ich gerade versuchte zu verdrängen. Meine Brust fühlte sich mit einem Mal an, als hätte jemand einen gigantischen Fels darauf platziert.
Unter dem Bild, welches auf den ersten Blick aussah, wie aus einem schlechten Schmuddelfilmchen, standen die Worte ›Du solltest wirklich aufhören diese Dinge zu tun‹.
Ich versuchte tief Luft zu holen. Mir wurde bewusst, wie weggetreten ich tatsächlich gewesen sein musste, wenn ich nicht einmal mitbekommen hatte, fotografiert zu werden. Aber wer konnte dieses Foto aufgenommen haben? Der einzige Mann, der mit mir im Raum gewesen war, war ebenfalls am Rande des Bildes zu sehen. Ich fragte mich auch, wie das iPhone in unseren Garten kam, ob es jemand dort platziert hatte. Oder hatte Kylian ein neues Handy? Warum wusste ich nichts davon? Am meisten beschäftigte mich jedoch, was der Absender mit dieser Nachricht bezwecken wollte; und mit diesem Gedanken schoss noch mehr Panik in mir hoch. Wurde ich gerade Opfer einer Erpressung? Oder war es ein Stalker?
Mein Gedankenkarussell schien unendlich, sodass ich meine Schockstarre nur schwer lösen konnte, als mein Ehemann plötzlich im Türrahmen des Kücheneingangs stand.
»Hey, hast du mich gerufen?«, er kam einen Schritt näher und erst jetzt realisierte ich seine Anwesenheit, »Alles in Ordnung?«, wollte er sich versichern, als ich panisch das Handy von der Arbeitsfläche zog und ein festes Zucken meinen ganzen Körper durchschoss.
Ich schluckte und versuchte, gelassen zu erscheinen. »Alles bestens… ich hatte gedacht, dein Handy klingelt, war wohl nur das Radio.«, stotterte ich und hielt das Smartphone so fest in meiner linken Hand, als wollte ich es zerquetschen. »Hast du eigentlich neuerdings ein Firmenhandy?«
»Nein, wie kommst du darauf?«, Kylian runzelte die Stirn, da mein Versuch, meine angespannte Lage zu überspielen, wohl nicht an ihm vorbeiging.
»Ach, nur so ein Gedanke.«

Obwohl ich seit zehn Minuten das Haus hätte verlassen müssen, saß ich noch immer nur in Unterwäsche bekleidet auf den kalten Badezimmerfließen. Die Tür hatte ich verriegelt, das Smartphone lag vor mir und ich starrte es an, darauf wartend, es würde einen Ton von sich geben und vergeblich hoffend, dieses Rätsel würde sich von allein lösen.
Die Nummer zurückrufen konnte ich nicht, genau wie der Anruf war auch die SMS unterdrückt und abgespeicherte Kontakte gab es keine. Das Smartphone war leer – bis auf dieses grausame Foto, das ich angestrengt versuchte aus meinem Gedächtnis zu löschen.
Steckte der fremde Schönling der letzten Nacht dahinter? Wusste er von meiner Ehe und wollte mich erpressen? Ich dachte darüber nach, zu ihm zu fahren und ihn zur Rede zu stellen, doch das war unmöglich, denn ich wusste gar nicht mehr, wo er wohnte, geschweige denn, wie ich es allein mit ihm hätte aufnehmen sollen.
Bis hierhin hatte ich es im Alltag immer geschafft, die Augen davor zu verschließen, dass diese abscheuliche Seite von mir existierte. Sie war wie ein stechender Kopfschmerz, der sich hin und wieder meldete und mich daran erinnerte, dass ich mich schlecht fühlen musste. Ja, mich plagte ein schlechtes Gewissen; diese Nächte waren längst mehr als ein Ausrutscher und wenn ich darüber nachdachte, warf ich mir selbst Dinge vor, die gar nicht in Worte zu fassen waren. Doch es war beinahe wie eine Sucht – ich war mir durchaus bewusst was ich tat und auch, welche Konsequenzen dies haben konnte. Und doch wurde ich seit dieser ersten Nacht vor knapp einem Jahr zur Wiederholungstäterin. Manchmal fragte ich mich, ob ich vielleicht einfach nicht aushalten konnte, wie perfekt mein Leben ohne dieses Geheimnis wäre. Irgendetwas in mir schien zu glauben, ich bräuchte diese selbstzerstörerische Seite. Ich spielte mit dem Feuer und der Beweis dafür, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ich mich verbrannte, lag nun vor mir.

Als ich an diesem Morgen auf der Arbeit eintraf, war mir bewusst, dass es keine leichte Schicht werden würde. Von dem übermäßigen Alkoholkonsum letzte Nacht war mir noch immer speiübel und selbst Kaffee schien ich nicht herunterzubekommen; nicht mal riechen zu können. Ich legte meine Sachen im Hinterzimmer ab und band mir die Schürze um. Die Ereignisse von vor meiner ersten Tasse Kaffee versuchte ich herunterzuschlucken, da der Gedanke daran meine Panik nur bestärkte, und warf noch einen letzten Blick in den Spiegel, ehe ich mich hinter den Tresen begab. Das mysteriöse Smartphone lagerte ich in meiner Handtasche im Hinterzimmer, mein eigenes hatte ich bisher nicht wiedergefunden.
Glücklicherweise teilte ich mir die Schicht mit Fynn, dem Neuen, was bedeutete, dass ich nicht viel Smalltalk halten musste. Er schien mit seinen jungen achtzehn Jahren gerade mit der Schule fertig geworden zu sein und jobbte seitdem bei Danny‘s – vermutlich um eine Weltreise oder ein überteuertes Motorrad zu finanzieren. Mit Sicherheit wusste ich dies aber nicht, da wir bislang kaum mehr als drei Worte gewechselt hatten.
Ich startete meine Routine, welcher ich in jeder Schicht nachging, beginnend mit dem Abwischen der Tische. Freude bereitete mir dies keine, genauso wenig wie die restlichen Aufgaben dieses Nebenjobs. Doch ich hatte es mir selbst ausgesucht. »Schatz, du musst nicht arbeiten.«, hatte Kylian immerzu gesagt, »Von meinem Einkommen kauf ich dir den Laden!«, hatte er gescherzt. Seit er sich vor etwa drei Jahren mit seiner IT-Firma selbstständig gemacht hatte, welche kurz darauf durch die Decke ging, stand nicht mehr zur Debatte, ob ich mich weiterhin bewerben sollte. Aber ich wollte es ja unbedingt. Nicht nur, dass es mich nicht befriedigte, nur Haus- und Ehefrau zu sein; ich hatte sogar das Gefühl, ich brauchte die Arbeit. Als Beschäftigung, Ablenkung.
Zwar war ich im Gastronomiebereich ausgebildet, hatte mich jedoch von Kylian breitschlagen lassen, lediglich einen Nebenjob anzunehmen, was leider dazu führte, dass ich mir maßlos überqualifiziert vorkam. Mich über meinen Job zu beschweren, wo ich ihn doch nur ausübte, um nicht tatenlos im Geld meines Mannes zu schwimmen, schien mir aber doch Klagen auf sehr hohem Niveau zu sein.
Die ersten zwei Stunden der Schicht vergingen schleppend. Der Laden war leer, was mir auf der einen Seite zugutekam, da mir ein klarer Kopf zum Arbeiten unter den gegebenen Umständen leider fehlte. Dennoch freute ich mich über jeden Kunden, den ich bedienen konnte, über jeden Kaffee, den ich kochte und über jedes Rückgeld, das ich ausrechnen musste; denn das bedeutete Ablenkung. Und diese hatte ich an jenem Tag bitternötig.

12:04 Uhr – noch knapp eine Stunde bis zur Mittagspause. Ich hatte mir noch einen weiteren Kaffee gemacht, kippte etwas Milch und jede Menge Zucker hinein, schob ihn aber schließlich doch beiseite. Fynn stand ein paar Meter entfernt, lehnte sich entspannt gegen den Tresen und spielte Candy Crush. Nach wie vor war wenig zu tun.
»Schaust du bitte einmal im Lager nach, ob wir noch Espressobohnen haben?«, forderte ich ihn auf und mit einem Nicken verschwand er. Gerne wäre ich selbst gegangen, einfach um irgendetwas zu tun, bedauerlicherweise hatte ich die Anweisung, den Neuen noch nicht allein am Tresen zu lassen.
»Sally!«, hörte ich ihn rufen und seufzte in mich hinein, da ich ihm zuvor bereits dreimal gezeigt hatte, wo er die Espressobohnen fand. »Sally, ich glaube dein Handy klingelt!«, rief er erneut und mein Blick erstarrte.
Bitte nicht.
»Bringst du mir meine Tasche mit, bitte?«, fragte ich, wobei ich mich zusammenreißen musste, dass meine Stimme nicht allzu zittrig klang. Im nächsten Moment stand mein Kollege neben mir und drückte mir diese wortlos in die Hand.
Das Gerät hatte bereits aufgehört sich zu melden, mit schwitzigen Händen und angehaltenem Atem kramte ich es, ein paar Schritte entfernt von Fynn, heraus. Ich drehte mich von ihm ab, stellte sicher, dass er das Display nicht sehen konnte – was überflüssig war, denn er schien ohnehin wieder vertieft in sein Spiel zu sein – und öffnete die neue SMS, die eingegangen war.
Meine böse Vorahnung bestätigte sich. Erneut ein Foto. Erneut mit mir darauf, wenig bekleidet, betrunken und nicht bei Sinnen. Nur der Mann war ein anderer, sowie der Ort und der Zeitpunkt. Die Nachricht, die den Schreckensmoment dieses Mal abrundete, lautete: ›Bist du wirklich so naiv? Das wirst du noch bereuen!‹.
Ich zitterte am ganzen Leib und obwohl ich dachte, meine Übelkeit hatte bereits ihren Höhepunkt erreicht, hatte ich nun das Gefühl, ich müsste mich jeden Augenblick übergeben.
»Ich mache heute früher Pause, bis später!«, brachte ich gerade noch hervor, ehe ich meine Tasche griff und durch die Hintertür verschwand. Fynn alleinzulassen würde mich meinen Job kosten, doch abgesehen davon, dass dieser ohnehin beschissen war, verschwendete ich in diesem Moment keinen Gedanken daran.
Ich stand im Innenhof des Cafés, hielt mich an einer Mülltonne fest, da ich glaubte jede Sekunde mein Augenlicht zu verlieren und kotzte mir die Seele aus dem Leib. Dann sank ich zu Boden, nicht darauf achtend, in welche Grütze ich mich an diesem verdreckten Ort setzen könnte, und fing bitterlich an zu heulen.
Wie konnte es möglich sein, dass diese Bilder existierten? Wer machte sich diese Mühe? Verzweifelt versuchte ich, eine Logik dahinter zu erkennen. Wenn derjenige mich erpressen wollte, sollte er doch wenigstens seine Forderung stellen.
Mir kam ein neuer Gedanke. Ich schluckte schwer, denn dieser war mir unheimlich. Was, wenn Kylian mir diese Bilder sendete? Lag das Smartphone deswegen in unserem Garten? Wusste er Bescheid und wollte mich quälen? Eigentlich traute ich ihm etwas derartiges nicht zu, dafür war er viel zu lieb; Kylian war eher der Typ, der sich stets bemühte, Beziehungskonflikte offen und ehrlich zu kommunizieren, um gemeinsam eine Lösung zu finden. Dennoch, wenn er die Person hinter dieser Sache war, hätte ich es ihm nicht einmal verübeln können.
Ohne weiter nachzudenken, wählte ich, wie ferngesteuert, seine Nummer und wartete das Freizeichen ab; länger, als ich es normalerweise tat. Als ich gerade doch noch einen Rückzieher machen wollte, nahm er ab.
»Beck, hallo?«
Ich fing unmittelbar an, erneut loszuheulen und die Worte sprudelten nur so aus mir heraus, ohne dass ich das Gefühl hatte, irgendeine Art von Kontrolle über sie zu haben. »Wenn du es weißt, dann sag es doch einfach, verdammt! Das ist scheiße… man, das ist echt ätzend!«
»Sally, bist du das?« Ich wollte antworten, schluchzte aber mittlerweile so sehr, dass ich es nicht konnte. »Sally, beruhig dich erstmal! Was ist los? Wovon sprichst du?«, fragte mein Ehemann in besorgtem Tonfall.
Erneut schoss Panik in mir hoch und ohne zu zögern, legte ich auf. Wenn er es wirklich wusste, hätte er es doch spätestens jetzt zugegeben, oder nicht? Ironischerweise hatte ich sogar, seit mir der Gedanke gekommen war, für einen kurzen Moment gehofft, dass er tatsächlich dahintersteckte. Dann war die Wahrheit über all meine scheußlichen Taten endlich raus. Und wir könnten darüber reden. Und dieser Albtraum, der mich seit heute Morgen verfolgte, würde endlich aufhören – ohne, dass ein Fremder diese Bilder besaß.
Doch dem war nicht so, stattdessen meldete sich das Smartphone erneut. Wieder ein Foto, noch älter, und eine neue Nachricht: ›Dein armer, treuer Ehemann. Du Schlampe!‹.
Ich öffnete die SMS und tippte schlagartig auf das kleine Mülltonnensymbol; dasselbe tat ich mit den übrigen Nachrichten. Ehe ich mich jedoch versah, kam eine neue. Und noch eine. Und das Smartphone hörte gar nicht mehr auf, diese Melodie von vorhin in Dauerschleife abzuspielen. Nur dass sie nun nicht durch einen Anruf, sondern durch unsagbar viele, hintereinander empfangene Fotos verursacht wurde.
Ich hatte das Gefühl, mir blieb der Atem weg. So sehr ich auch versuchte, nach Luft zu schnappen, desto mehr schnürte sich mir die Kehle zu. Von Panikattacken hatte ich bereits gelesen, aber nicht aufmerksam genug, um zu wissen, was in einer solchen Situation zu tun war. Mit aller Kraft zog ich mich an der Mülltonne hoch, stolperte in Richtung Hintertür und stemmte diese auf. Ehe ich jedoch einer Menschenseele in diesem gottverdammten Café begegnete, hatte sich mein Augenlicht bereits entschieden, sich von mir zu verabschieden.

 

Als ich heute Morgen das Smartphone fand und das Foto sah, ging ich von Erpressung aus. Ich dachte, ich müsste gerettet werden. Ich war überzeugt, jemand wollte mir etwas Böses und insgeheim glaubte ich sogar, ich verdiente es.
Ich nahm Kylians Anwesenheit wahr, wie er am Bett stand und mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Ich konnte sein Parfum riechen und spürte die warme Aura auf mir, die er ausstrahlte. Ich wollte ihm sagen, wie leid mir alles tat, wollte ihn umarmen und küssen und um Verzeihung betteln. Aber er stand nicht an unserem Bett.
Der Duft seines Parfums mischte sich mit einem unangenehm strengen Geruch von Desinfektionsmittel. Leise im Hintergrund konnte ich ein Radio erahnen, welches gerade Mr. Brightside spielte, jene Melodie, die mich von nun an in meinen schlimmsten Albträumen verfolgen würde. Und dann war da noch das unerträglich laute Gerät neben mir, das ein wiederkehrendes Piepen von sich gab, welches meinem Ehemann mitteilte, dass mein Herz noch schlug. Dass ich froh sein konnte, dass mich der Fahrer nur seitlich erwischt hatte. Und dass ich mit etwas Glück wieder auf die Beine käme.
Ich dachte, ich müsste gerettet werden. Und das musste ich auch. Doch nicht vor irgendjemandem. Nur vor mir Selbst. Einer selbstzerstörerischen Frau, der das Leben nun eine zweite Chance gab.

Viele suchen in allem, was sie anfangen,
heimlich nur sich selbst, ohne es zu merken.

Thomas von Kempen

5 thoughts on “Vertraute Fremde

  1. Hallo
    Ich fand die Perspektive, die Geschichte, die Handlung, deinen Schreibstil und das große Finale toll.

    Respekt.
    Lob und Anerkennung.

    Du hast viel Arbeit und Herzblut in die Story gelegt.
    Das spürt man.
    Da und dort bemerkt man kleine Fehler, das ist aber alles okay.

    Alle großen Autoren und Schriftsteller haben Lektoren. Die finden und “vernichten ” solche Flüchtigkeitsfehler ganz unauffällig.

    Mir geht’s um die Geschichte.
    Und die Grundidee.
    Um das Talent des Autors.

    Du hast Talent.

    Deine Geschichte hat mich gefesselt und berührt.
    Vielen Dank dafür.

    Schreib weiter und weiter.
    Und du wirst von Tag zu Tag besser.

    Mein Like hast du natürlich sicher.

    Ich danke dir für die tolle Unterhaltung.

    Ganz liebe Grüße.
    Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, meine Geschichte auch zu lesen.
    Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen.

    Meine Geschichte heißt:
    “Die silberne Katze”

    Vielen Dank und bleib gesund.
    Swen

  2. Hi, ich kann mich im Großen und Ganzen meinem Vorschreiber nur anschließen. Mir hat Dein Schreibstil sehr gefallen. Auch die Geschichte, die Erzählperspektive und vor allem die toll beschriebene innere Zerrissenheit der Protagonistin. Den Schlusstwist und das damit recht offene Ende fand ich großartig. Mach unbedingt weiter ( wenn Du nicht sowieso schon länger schreibst).
    Tolle Geschichte!

    P:S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen und ein Feedback da zu lassen : Glasauge

  3. Hallo Madeline,
    versuche gerade noch ein paar Geschichten zu lesen und deine wurde mir eben bei ungelesene vorgeschlagen.
    Das Ende hat mich überrascht und ich möchte unbedingt wissen, was nun weiter passiert. Du hast mit deinem Schreiben die Neugier an den Figuren geweckt. Toll gemacht.
    Alles Gute!
    Jana(„Strafe“)

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