SADSVincent³

 

Dinge passieren! So sagt man jedenfalls. Ich bin anderer Meinung und nun sollte ich mich zuerst vorstellen.

 

Ich bin Rick Tantum, fünfundvierzig Jahre alt und Reporter. Wie Sie richtig vermuten, nehme ich kein Blatt vor den Mund. Weder bei meinen Freunden, noch bei den Leuten, die ich interviewe.

 

Meine Freunde beschränken sich auf genau zwei. Einer davon ist Vincent Clark, ein dreiundvierzigjähriger Postangestellter und wenn ich es so sagen kann, seit fast vierzig Jahren mein bester Freund und seit er achtzehn ist auch mein Mitbewohner.

 

Der andere ist einer meiner Kollegen und hat mir alles beigebracht, bald jedoch geht er in seine wohlverdiente Rente und dann bekomme ich seinen Schreibtisch und seinen Posten, doch das nur nebenbei.

 

*

 

Heute ist Freitag, der 13. März 2020 und ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Meine tägliche Kaffeeration, um meine Kollegen, für die nächste Stunde, zu ertragen, holte ich mir bei Greta, einer sehr hübschen Barista in meinem Lieblingscafé. Wir kennen uns seit drei Jahren, doch bis heute habe ich nie den Mut aufgebracht sie, um ein Date zu bitten.

 

»Guten Morgen, Greta«, grüßte ich freundlich und bekam sofort einen Kaffeebecher gereicht.

 

»Guten Morgen, Rick, na wie sieht’s heute im Land der schlechten Nachrichten aus?«, fragte sie mit einem Lächeln, dass jedem halbwegs normalen Mann, weiche Knie beschert hätte.

 

»Ich bin für die schlechten Nachrichten nicht zuständig, ich schreibe sie nur auf«, grinste ich.

 

»Schöne Ausrede, prima wenn man eine hat, oder?«, konterte sie.

 

»Welche Ausrede brauchst du und wofür? Ich kenne eine Menge gut klingender Worte, vielleicht kann ich dir helfen?«, versuchte ich unseren Smalltalk in Gang zu halten.

 

Sie seufzte herzergreifend und zog mich hinter die Theke. »Mein Ex-Freund ist ein Irrer und lässt sich nicht abschütteln. Ich habe ihm schon mehr als einmal gesagt, dass Schluss ist, doch er taucht immer wieder auf, als wäre nichts gewesen. Langsam macht er mir echt Angst«, gestand sie mit ängstlich flackerndem Blick.

 

»Damit solltest du zur Polizei gehen«, riet ich besorgt.

 

»War ich schon, doch die nehmen es nicht ernst«, seufzte sie wieder.

 

»Würdest … würdest du wollen, ich meine … soll ich dir helfen?«, stammelte ich plötzlich. Sie stand so nah, roch verdammt gut und sah so verletzlich aus, in diesem Augenblick.

 

Hoffnungsvoll richtete sie ihre blauen Augen auf mich und warf ihr langes strohblondes Haar, auf die Schultern zurück. »Würdest du das echt machen, Rick?«

 

Ich nickte nur, denn ein Kloß hatte sich in meinem Hals festgesetzt und hinderte mich am Reden.

 

Mein Kaffeebecher schwankte gefährlich, als sie mir um den Hals fiel und mich mit einem tiefen Atemzug drückte. »Danke, das ist so lieb«, dankte sie mir schon jetzt, obwohl ich noch nicht einmal wusste, wie meine Hilfe aussehen sollte.

 

»Schreib mir doch den Namen auf und ich schaue mal, was ich über den Mistkerl finde«, versuchte ich meine Verlegenheit zu überspielen.

 

*

 

Zehn Minuten später, verließ ich das Café und rannte schier zu meinem Schreibtisch in der Redaktion. Mein Magen flatterte und meine Hände zitterten, als ich den Namen in meinen Laptop eingab.

 

»Hast du eine neue Story?«

 

Ich schrak zusammen und knallte schnell den Deckel des Laptops zu.

 

»Wenn du so mit deinem PC umgehst, wird er nicht lange halten!«, ermahnte mich mein Praktikant Nils, der genau neben mir stand.

 

»Klugscheißer, hast du keine Arbeit?«, blaffte ich ihn an.

 

Er schob seine Hände in die Hosentaschen und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Doch hätte ich, wenn du mir welche geben würdest«, stellte er leise klar. Er hob seine Hand, als ich meinen Mund öffnete, um ihn erneut zusammenzustauchen.

 

»Ja, ich habe bereits Kaffee gekocht, deinen Schreibtisch sortiert und die Bilder, die ich gestern für dich geschossen habe, in die Seite eingefügt. Wenn du nicht zehn Minuten zu spät wärst, hättest du es bereits gesehen und müsstest mich nicht für dein schlechtes Gewissen zusammenscheißen!«, warf er mir vor und atmete tief durch. »Und bevor du jetzt wieder sagst, dass ich froh sein kann hier zu sein und mit dir zu arbeiten, erkläre ich zum hundertsten Male, dass ich, das bereits bin. Also hier und froh und so …«, fasste er Hand wedelnd zusammen.

 

Ich rieb mir die Stirn. Wie kam dieser Jungspund dazu, mir solche Antworten zu geben?

 

»Du hast gesagt, ich soll ehrlich sein, egal wer vor mir steht«, erinnerte er mich an meine eigenen Worte, als hätte er meine Gedanken erraten.

 

»Okay pass auf«, begann ich und reichte ihm Gretas Zettel, »recherchiere über diesen Kerl, aber kein Wort zu den anderen, verstanden?«

 

Er nahm den Zettel, nickte und verschwand endlich.

 

*

 

Vier Stunden später tauchte er wieder auf und knallte ein vollgeschriebenes Notizbuch auf meinen Schreibtisch. »Hier steht alles drin, die Webverläufe habe ich gelöscht und jetzt gehe ich raus und mache Fotos«, informierte er mich.

 

»Du hast einen Anhaltspunkt, wo er sein könnte?«, fragte ich irritiert. Entweder war er wirklich so gut oder er hatte nur die Schnauze voll und wollte an die frische Luft.

 

»Der Kerl ist null koscher und deshalb habe ich meine Freunde im Darknet gefragt, nun, sie kennen ihn und er ist gruselig.« Nils legte sich seinen Kameragurt um den Hals und nickte mir zu, bevor er verschwand.

 

»Sei vorsichtig Kleiner!«, rief ich ihm nach und erwartete auch diesmal keine Antwort. Er antwortete selten auf so was.

 

Ich sah zur Tür und hob erstaunt meine Augenbrauen, als sein Kopf im Türrahmen erschien. »Das bin ich Rick und ich melde mich einmal pro Stunde«, versicherte er und verschwand nun endgültig.

 

Er meldete sich zweimal und danach nie wieder. Mich selbst verfluchend, weil ich einen dreiundzwanzigjährigen in sein Verderben geschickt hatte, verließ ich das Büro und begann ihn zu suchen. Die Infos in seinem Notizbuch hatte ich gelesen und mich gefragt, wie Greta an diesen Typen geraten war.

 

Er hieß Vincere Clarkson und war dreiundvierzig Jahre alt. Seine Herkunft war unbekannt und auch sein Lebenslauf, sah manipuliert aus. Ein echter Unterweltmensch und ich hatte meinen Praktikanten auf ihn losgelassen.

 

Über meine nächsten Schritte nachdenkend, lief ich durch die Stadt und blickte in jede finstere Gasse. Jedes Mal, wenn ich hinter einen Müllcontainer schaute und dort einen Stapel alte Kartons durchsuchte, hatte ich Angst, einen toten Praktikanten zu finden.

 

Mein klingelndes Handy ließ mich zusammenzucken. Ohne aufs Display zu sehen, nahm ich den eingehenden Anruf an. »Mach’s kurz«, knurrte ich genervt.

 

»Hey ich bin’s«, meldete sich Nils.

 

»Du blöder Hund, warum meldest du dich jetzt erst?«, schnauzte ich sofort und atmete erleichtert durch.

 

»Du hast mich vermisst? Oh, das ist niedlich Rick«, spottete er feixend.

 

»Halts Maul Kleiner. Wo warst du Scheißkerl!«

 

»Soll ich jetzt sagen, wo ich war oder das Maul halten?«, zog er mich auf.

 

»Rede und dann bringe ich dich um«, konterte ich genervt, von seiner guten Laune.

 

Ich lehnte mich an die dreckige und vollgesprayte Wand hinter mir und blickte in den Abendhimmel, während ich zuhörte.

 

»Ich bin zwei Querstraßen östlich von dir und du solltest dringend herkommen, denn du wirst nicht glauben, was ich gefunden habe«, klärte er mich flüsternd auf.

 

»Woher weißt du wo ich bin und warum flüsterst du?«, fragte ich, jetzt selbst flüsternd, nach.

 

»Tracking und ich bin nicht so allein, wie ich gerne wäre«, erwiderte er und legte auf.

 

Pingend ging ein Screenshot eines Standortes auf meinem Handy ein.

 

Ich rannte los und hatte die Strecke in nicht einmal zwanzig Minuten geschafft. Erneut sah ich auf mein Handy, denn Nils war nicht zu sehen. Allerdings sah ich etwas anderes.

 

»Vincent?«, fragte ich mich selbst, denn dieser Kerl, der gerade die Straße überquerte, sah meinem bestem Freund sehr ähnlich doch sein Klamottenstil, passte eher zu einem ….

 

Ruckartig wurde ich in die Gasse hinter mir gezerrt, an die Wand gedrückt und mir wurde der Mund zugehalten.

 

»Shht!«, fauchte mich Nils leise an und blickte schnell um die Häuserecke.

 

Durchatmend nahm er endlich seine Hand von meinem Mund und trat zurück. »Tschuldige, die komische Begrüßung, doch mit dem Kerl da«, erwies mit seinem Daumen hinter sich, »ist nicht zu spaßen.«

 

»Spinnst du? Das ist mein Mitbewohner, der ist total harmlos«, klärte ich ihn kopfschüttelnd auf.

 

»Das ist ganz sicher nicht dein Mitbewohner, mit dem will keiner zusammenleben, nicht mal die härtesten Gangster, glaub mir.«

 

Ich kaute auf meiner Unterlippe. Ja, Vincent hatte schon komisch ausgesehen, mit diesem langen Ledermantel und den Bikerboots.

 

»Denk gar nicht nach«, platzte Nils in meine Gedanken, »da ist noch etwas, das ich dir zeigen muss.« Er zog sein Handy, wie ich dachte. »Das ist übrigens nicht meines, ich habe es … gefunden … könnte man sagen«, fasste er grinsend zusammen.

 

»Du hast es geklaut?« Stirnrunzelnd blickte ich ihm in die Augen.

 

»Nö gefunden, als mich dieser Bursche da, verfolgt hat und auf die Schnauze gefallen ist, hat er es verloren und als er wegging, habe ich es aufgehoben. Gefunden also.«

 

»Er hat dich verfolgt?!«

 

»Verflucht noch mal, wollen wir jetzt eine Grundsatzdiskussion über Sinn und Unsinn führen oder hörst du mir jetzt zu, schließlich geht’s um dich du Arsch!«, stauchte mich Nils wütend zusammen und brachte mich damit zum Schweigen.

 

Abwartend sah ich ihn nun an und atmete entsetzt durch, als er das Handy anschaltete und mir Bilder zeigte, die darauf gespeichert waren. Sie zeigten mich, bei meinem Gespräch am Morgen, mit Greta. Je weiter Nils in den Bildern zurückging, umso unheimlicher wurde das ganze. Es waren nur Bilder von mir und Menschen, mit denen ich mich zufällig oder auch absichtlich, getroffen hatte. Selbst ein Bild von mir und Nils war darauf.

 

»Unsere erste gemeinsame Kaffeepause, erinnerst du dich?« Fragend sah er mich an.

 

»Das war vor acht Monaten«, erwiderte ich verständnislos.

 

»Naja er verfolgt dich schon länger, denn in diesem Haus«, wieder wies Nils hinter sich, »ist seine Wohnung und glaub mir, ich habe noch nie in meinem ganzen Leben ein so abgefucktes Gruselkabinett gesehen.« Um seine Worte zu unterstreichen, schüttelte er sich.

 

»Wohnung? Er wohnt doch bei mir?«, wiederholte ich.

 

Nils klatschte sich seine flache Hand vor die Stirn. »Hallo, muss ich’s nochmal sagen, der Kerl da ist ein Auftrags-Mörder und ganz sicher nicht dein Mitbewohner, der gelinde gesagt, eine Komplett-Pfeife ist«, sinnierte er und hob seine Kamera. »Ich habe zwei Fotos, zu mehr kam ich nicht, dann musste ich aus dem Fenster und …«, er verstummte, als ich ihn mit mörderisch dunkler Miene ansah.

 

Ich vergaß jedoch alles, als ich die Fotos anstarrte.

 

»Nettes Wohnzimmer, oder?«, fragte Nils feixend nach.

 

Die Bilder reichten von meinen frühen Kindertagen, noch als Schwarzweiß und in schlechter Qualität bis zu hochauflösenden mit digitaler Technik geschossener Aufnahmen von heute.

 

»Wir brauchen einen Ort, an dem wir arbeiten können ohne das uns jemand stört!«, stellte ich leise klar.

 

»Wenn dir ein paar Nerds nichts ausmachen, dann gehen wir zu mir«, schlug Nils vor. »Doch wie verhindern wir, dass er uns verfolgt?«, setzte er fragend nach und lugte um die Ecke des Gebäudes. »Ich kann Rauch sehen, der aus dem Hauseingang kommt«, teilte er mit und blickte dann mich an »ich gehe also davon aus, das Killer-Vinc im dunklen Hauseingang steht und seine Lunge schädigt, weil er auf uns wartet«, witzelte er humorfrei.

 

Ich blickte mich suchend um, doch wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht einmal, wonach ich suchte. Wie das allerdings so mit Eingebungen ist, sie kommen überraschend.

 

»Nach oben!«, raunte ich Nils zu, als ich die Feuerleiter am Ende des Gebäudes sah.

 

»Hübsche Aussicht und weiter?«, wandte sich Nils an mich, als wir am Dachrand standen.

 

»Wir warten«, sagte ich knapp und setzte mich.

 

»Worauf bitte?«

 

»Klappe Mensch!«, fauchte ich und zerrte Nils neben mich auf den Boden.

 

Eine halbe Stunde später löste sich ein Schatten aus dem Hauseingang und verschwand in der Gasse, in der wir gestanden hatten.

 

»Er wusste genau wo wir sind«, stellte ich klar und blickte Nils an. »Bist du sicher, dass er das Handy nicht orten kann?«

 

»Oh Scheiße«, fluchte er und zog es hervor. Wild darauf herumtippend sprang er auf und rannte zum anderen Ende des Daches. Schwere Stiefel waren plötzlich auf der Metalltreppe zu hören, mir rutschte das Herz in die Hose und ich ballte meine Fäuste. Wenn ich schon sterben sollte, dann nicht kampflos.

 

Nils kehrte zurück, legte das Handy auf den Boden und nahm mein Handgelenk. »Ich hoffe du bist gut in Form alter Mann, denn wir werden jetzt mal Spiderman nachahmen und springen.«

 

Bevor ich protestieren konnte, ließ er mein Handgelenk los und sprintete auf den seitlichen Dachrand zu. Ich sah wie er sich auf dem anderen Dach abrollte und sofort weiter rannte.

 

Ich ging noch ein paar Schritte zurück und nahm Anlauf, viel Zeit zum Denken hatte ich nicht, denn die Geräusche auf der Feuerleiter wurden lauter.

 

Ein Haarschopf tauchte auf und ich richtete jetzt meinen Blick auf das andere Dach. Nach einem letzten gestressten Durchatmen, schob ich meine Angst, auf dem Boden aufzuschlagen, beiseite und rannte los. Meine Landung war nicht so elegant wie Nils’ doch ich überlebte es ohne größere Blessuren.

 

»Oh da bist du ja«, empfing mich ein grinsender Nils. Plötzlich schluckte er hart und griff erneut nach meinem Arm. »Keine Zeit zum Nachdenken, gleich noch mal!«, keuchte er entsetzt und rannte wieder davon. Diesmal hielt ich Schritt, denn auch ich hatte den rot leuchtenden Punkt, gesehen. Pfeifend schlug eine Kugel neben mir auf dem Dach ein und beschleunigte meinen Sprint. Fluchend landeten Nils und ich, auf dem nächsten Dach und rappelten uns hastig auf.

 

»Er ist weg«, keuchte Nils und lehnte sich an die Treppenhausüberdachung.

 

»Keine Zeit zum Ausruhen, wir müssen weg hier!«, mahnte ich und riss die Tür zum Treppenhaus auf. »Du hast genau zwei Minuten und dreiundzwanzig Sekunden, um drei Stockwerke nach unten zu rennen und aus dem Haus zu verschwinden«, machte ich ihm, nach einer schnellen Berechnung, klar.

 

»Das Haus hat vier Stockwerke«, warf Nils ein, während er mir hinterherrannte.

 

»Habe auch nie gesagt, dass ich die Tür nach draußen nehme«, knallte ich ihm an den Kopf und öffnete das Fenster zum Hof, als wir im ersten Stock angekommen waren. Ich hockte mich aufs Fensterbrett und hörte bereits die Eingangstür ins Schloss fallen.

 

Ein hässlicher und stinkender Busch, bremste meinen Fall und ich zerrte Nils an die Hauswand, als er neben mir landete. Hektisch atmend pressten wir unsere Rücken an die raue Wand und beteten, dass wir nicht gesehen wurden.

 

Als nichts zu hören oder zu sehen war, schubste ich Nils an und zeigte zum Ende des Gebäudes. Wir rannten geduckt hinter den Büschen an der Wand entlang und erreichten unbeschadet die Hausecke.

 

Ich wollte zur Straße zurück, doch Nils hielt meinen Arm fest und zeigte zum Zaun. »Da lang, auf der Straße sucht er als Erstes.«

 

Verdammt, ich wollte in diesem Moment so gern lautstark protestieren und Greta verfluchen, weil sie mich in diese Lage gebracht hatte, doch ich winkte nur resigniert ab und folgte Nils.

 

*

 

Er führte mich in eine ziemlich schicke Wohngegend, mit modernisierten Jugendstilvillen.

 

»Frag gar nicht Rick, bin auch nicht stolz drauf«, murrte Nils plötzlich und öffnete ein leise ächzendes schmiedeeisernes Tor.

 

Mein Praktikant war also ein Abkömmling reicher Eltern und null stolz drauf. Geld allein macht eben doch nicht glücklich.

 

Rennend legten wir den Weg zur Villa zurück, als ein Wagen mit quietschenden Reifen auf der Straße hielt.

 

»Hat der uns schon wieder gefunden?«, raunte Nils und klopfte in einem festgelegten Rhythmus, an eine Seitentür.

 

Er drückte den Burschen unsanft beiseite, der die Tür öffnete und schloss sie leise hinter uns.

 

»Licht aus Jungs und keinen Mucks!«, befahl er und schob einen Riegel vor die Tür. Schnell griff er in meine Tasche, nahm mein Handy und legte es zusammen mit seinem eigenen, in eine Metallkiste. »Nur zur Vorsicht«, erklärte er.

 

Wir warteten eine halbe Ewigkeit, in fast völliger Finsternis doch wir hörten niemanden, der um die Villa schlich.

 

»Okay, wir können nicht länger warten«, beschloss Nils und drückte den Lichtschalter.

 

Ich sah außer ihm noch drei Burschen, in seinem Alter, die mich abwartend ansahen.

 

»Was denn?«, fragte ich Schulter zuckend.

 

»Sie und der da, sie sind zusammen aufgewachsen«, sprach mich einer der drei Jungs an.

 

»Moment, bevor es kompliziert wird«, mischte sich Nils ein. »Rick, das sind Spirit, Water und Fire«, stellte er die drei vor.

 

Ich verkniff mir ein Grinsen, lümmelte mich auf einen der abgewetzten Sessel, die in meiner Nähe standen und atmete durch. »Gibt’s in dieser Nerd-Höhle auch Kaffee?«

 

»Ja klar doch«, nickte Nils und verschwand hinter einer Wand, die mit Monitoren bestückt war. Ich zählte acht an der Zahl und sah mir die Bilder an, die jetzt darauf zu sehen waren.

 

»Nochmal«, begann Spirit und drehte sich auf seinem Stuhl zu mir um, »Sie und Killer-Vinc, sind am gleichen Ort aufgewachsen«, stellte er in den Raum.

 

»Nein, denn ich kenne diesen Typ nicht!«, widersprach ich ihm. »Ich bin mit Vincent Clark aufgewachsen, einer armen Sau die zusehen musste, wie seine Eltern abgeschlachtet wurden, weil irgendein Irrer etwas gegen sie hatte. Vincent war gerade drei und schrie, das ganze Waisenhaus zusammen, als die Polizei ihn zu uns brachte. Es dauerte vier Jahre, bis er nicht mehr, vor Angst nachts ins Bett gemacht hat oder schreiend unter der Treppe saß, weil er wieder einen Albtraum hatte. Vincent ist gutmütig und hat mit diesem Kerl, außer seinem Aussehen nichts gemein!«, machte ich klar.

 

»Was zu beweisen wäre«, tönte Fire und blickte auf die Monitore. Ein Lebenslauf war zu sehen und ein Foto.

 

»Das ist Vincent«, versicherte ich.

 

»Nope«, widersprach Fire und vergrößerte den Namen.

 

»Das ist Vincere Clarkson. Was nicht besonders einfallsreich ist, wenn das Alter-Ego Vincent Clark heißt und der echte Name ist. Ich habe es überprüft und alte Zeitungsartikel von diesem Tag gefunden. Gruselige Sache und für einen Dreijährigen ein recht traumatisches Erlebnis«, fasste er zusammen und lehnte sich zurück.

 

»Jetzt bin ich wohl dran«, begann Water zu reden und zeigte Bilder, die ich selbst zu einigen meiner Artikel gemacht hatte.

 

»Ich will gar nicht wissen, wie ihr daran gekommen seit«, knurrte ich sauer und nahm den Kaffee den Nils mir reichte.

 

»Tschuldige, aber als diese Sache zu groß wurde, habe ich mir Hilfe gesucht. Du gibst deine Quellen auch nicht immer alle preis«, erinnerte er mich.

 

»Deshalb hast du dich stundenlang nicht gemeldet und hast mich die Stadt nach dir absuchen lassen!« Oh ja, da war doch noch eine Sache, für die ich ihm in den Arsch treten wollte!

 

»Komm runter Rick, tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast. Ich konnte schlecht telefonieren, als ich in Killer-Vinc Schrank gesteckt habe«, verteidigte er sich.

 

»Du hast was

 

Er hob seine Hände und ging rückwärts. »Hey, das … das kam selbst für mich überraschend«, verteidigte er sich.

 

»Nils, du hast dich in Gefahr gebracht und das war absolut dämlich«, warf ich ihm gut gemeint vor und griff an seinen Ellenbogen, damit er mich ansah. »Verstehst du mich?«

 

»Natürlich weiß ich das«, brummelte er. »Aber er hatte etwas vergessen und kam überraschend zurück.«

 

»Leute, das ist alles nebensächlich!«, schrie Water dazwischen. Er hatte einige Bilder vergrößert und jetzt konnten wir alle sehen, auf was er uns aufmerksam machen wollte.

 

»Er war immer da.« Schockiert und verständnislos sah ich auf die Monitore. Wieso hatte ich ihn nicht bemerkt?

 

»Das ist ein ganz persönliches Ding«, schloss Water.

 

»Na toll!« Seufzend atmete ich durch und lehnte mich zurück. Was zum Geier hatte ich diesem Kerl getan?

 

*

 

Kaum verließ ich die Nerd-Höhle, spürte ich ein nervöses Kribbeln in meinem Nacken. Immer wieder gingen mir die Informationen durch den Kopf, auf die, die vier Nerds, Nils schien ebenfalls einer zu sein, gestoßen waren.

 

Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, Vincent könnte etwas mit den Morden, an meinen Freundinnen, zu tun haben. Ja, das war meine persönliche Bürde. Jede Frau oder jedes Mädchen, dass ich bis jetzt hatte, wurde mit gebrochenem Genick, irgendwo in der Nähe gefunden.

 

Meine erste Freundin hatte ich mit vierzehn, da war Vincent gerade elf. Wie sollte ein Elfjähriger genug Kraft haben, einer Dreizehnjährigen das Genick zu brechen?

 

Meine zweite Freundin hatte ich mit siebzehn, da war Vincent vierzehn und wieder stellte sich mir die Frage, wie er hätte die Kraft haben können?

 

Bei meiner letzten Freundin, die ich mit achtundzwanzig kennenlernte, konnte ich es mir durchaus vorstellen, denn Vincent war fünfundzwanzig und hatte ordentlich an Muskelmasse zugelegt. Aber er war immer so lieb und gutmütig! Nicht eiskalt und mörderisch.

 

»Bleib stehen Rick, ich schieße nicht gern in den Rücken«, hörte ich eine Stimme hinter mir. Jedoch klang es nicht nach Vincent.

 

»Vincere nehme ich an«, kommentierte ich, drehte mich um und blickte in den Lauf einer nachtschwarzen Beretta.

 

»Richtig!«, bestätigte er.

 

Er sah wirklich aus wie Vincent, selbst die Narbe, die dieser sich bei einem Sturz zugezogen hatte, besaß er.

 

»Vincent?«, fragte ich völlig konfus nach.

 

»Wieder richtig«, erwiderte der Mann erneut.

 

Ich hob meine Hand. »Okay ich bin verwirrt. Erkläre mir das!«, forderte ich streng.

 

»Spiel dich nicht so auf, dieser Ton zieht bei Vincent, doch nicht bei mir!«, stellte er ruhig klar. »Wie du siehst, bin ich er und er ist ich. Wie ein leckerer Keks mit Füllung«, grinste er unheilvoll.

 

Fragend zog ich eine Augenbraue nach oben.

 

»Dissoziative Identitätsstörung oder einfacher ausgedrückt, multiple Persönlichkeit, schon mal gehört?«

 

Ich nickte und plötzlich ergaben einige Vorkommnisse in Vincents Leben einen Sinn, der früher nicht da war.

 

»Ich bin eine Alters (abgel. vom engl. alternative), eine Teilpersönlichkeit. Vincent der Schisser, ist hingegen der sogenannte Host (engl. Gastgeber), die Hauptidentität. Obwohl die Grenzen hin und wieder ziemlich verschwimmen und ich ihn lange unterdrücken kann, bevor er sich wieder durchsetzt«, redete Vincere weiter, »außerdem bin ich definitiv, der Hübschere von uns beiden. Irgendwo gibt es noch eine dritte Persönlichkeit, doch sie traut sich nicht hervor und jammert nur im Verborgenen«, winkte er schließlich ab.

 

»Was willst du von mir?« Ich versuchte das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken, doch er schien es trotzdem zu bemerken.

 

Grinsend und mit böse funkelnden Augen sah er mich an. »Oh früher wollte ich nur, dass der kleine Vincent sich besser fühlt, denn ich habe es ihm in seinem Schmerz leichter gemacht. Dann zeigte mir der Doc, wie ich stärker werden konnte …«, feixte er.

 

»Welcher Doc?«, fragte ich nach.

 

»Du erinnerst dich an den Tag, als diese Kerle in den schwarzen Anzügen, vor der Schule, auftauchten? Nun sie brachten uns zu einem Labor und dort begannen sie mit uns zu experimentieren, wie mit einer Ratte. Vier Jahre ging das so, dann ließen sie uns endlich in Ruhe. Ab da war ich derjenige der dir Rache schwor. Du hast Vincent belogen und ihn traurig gemacht, dass konnte ich dir nicht durchgehen lassen. Also habe ich beseitigt, was Vincent traurig macht«, spie er mir hasserfüllt ins Gesicht.

 

»Du hast mich verfolgt und jede meiner Freundinnen getötet!«, schrie ich ihn an.

 

»Ich habe dich beobachtet und aufgepasst, dass du Vincent nicht mehr traurig machst«, erwiderte er mit flackerndem Blick.

 

»Du bist verrückt!«

 

Ein unheimliches Lachen, folgte meinem Vorwurf, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Vincent ist der bescheinigte Verrückte, ich bin nur ein Teil von ihm«, klärte er mich auf und richtete eine zweite Beretta auf mich.

 

»Und warum willst du mich umbringen?«

 

»Nicht nur dich auch Vincent«, eröffnete er mir.

 

»Wenn du Vincents tötest, stirbst du auch!«, erinnerte ich ihn.

 

»Nebensächlich, Fakt jedoch ist: Bist du tot, dann muss sich Vincent der Schisser, keine Sorgen mehr machen, dass du ihn allein lässt«, klärte er mich mit eiskalter Stimme auf.

 

»Das habe ich nie gewollt!«, schrie Vincent auf.

 

»Schnauze Vincent, ich tue das für dich, wie immer!«, redete er plötzlich mit sich selbst.

 

»Vincent! Vincent, hör mir zu!«, mischte ich mich ein. Ich wollte ihn erreichen, um Vincere von seinem Vorhaben abzubringen.

 

»Seid beide still!«, blaffte Vincere und senkte die Waffen.

 

Dicht trat er an mich heran. Seine bernsteinfarbenen Augen richteten sich auf mich. Unverkennbar war ein gewisser Wahnsinn darin zu erkennen.

 

»Gut, dann bring mich um, doch glaube nicht, dass Vincent sich nicht irgendwann dafür rächen wird!«, knurrte ich ihn an. Keine Ahnung, ob ich richtig damit lag, aber ein Versuch war es wert.

 

Höhnisch grinste mich Vincere an und sackte urplötzlich zusammen.

 

Keuchend stand Nils hinter ihm und senkte die Schaufel, die er ihm auf den Kopf geschlagen hatte. »Ausgenockt würde ich sagen«, kommentierte er und atmete durch. »Die habe ich gerufen«, teilte er mit, als Polizeisirenen zu hören waren.

 

Vincere kam zu sich, nachdem ihm Handschellen angelegt und er entwaffnet wurde.

 

Schockiert blickte er mir in die Augen. »Rick? Rick, was machen die Polizisten mit mir? Was habe ich getan? War das Vincere? Hat er dir weh getan?«, fragte ein entsetzter Vincent.

 

»Vincere wollte mich töten, weißt du das nicht mehr?«

 

Mit Tränen der Verzweiflung in den Augen schüttelte er seinen Kopf und ließ ihn dann hängen. »Tut mir leid Rick, so ist es wohl besser. Ich wollte dir niemals schaden.«

 

»Ich weiß Vinc und wir zwei werden immer Freunde sein, doch du brauchst Hilfe«, machte ich ihm klar. Kurz bäumte er sich im Griff der Männer auf. Jeder der Umstehenden sah die Veränderung, die mit ihm vonstattenging. Seine dunkelbraunen Augen wurden heller und seine Gesichtszüge arrogant und eiskalt. »Es ist noch nicht vorbei Rick!«, drohte er mir.

 

»Doch Vincere, du hast Vincent verloren! Aber er wird mich niemals verlieren!«

 

Aus heiterem Himmel begann er in Russisch zu fluchen und versuchte die Polizisten abzuschütteln. Sie jedoch packten ihn fester und verfrachteten ihn ins Auto.

 

Durchatmend sahen Nils und ich dem Wagen hinterher.

 

»Er hat all die Jahre meine Freundinnen beseitigt nur damit ich bei Vincent bleibe«, sprach ich jetzt mehr mit mir selbst als mit Nils.

 

»Dann hat er sich wohl nur aus Berechnung mit Greta eingelassen, um dich endlich in die Finger zu kriegen«, warf er ein.

 

»Greta?«, fragte ich nach.

 

»Tz, du stehst auf sie, das habe ich sofort gemerkt«, feixte Nils mich an.

 

»Stimmt, doch mit dem Hintergrund, dass all meine Freundinnen ermordet wurden, konnte ich sie schlecht, um ein Date bitten«, seufzte ich.

 

»Das kannst du jetzt nachholen«, begann Nils und stützte sich auf den Stiel der Schaufel, »Ende gut, alles gut!«, setzte er nach.

 

»Ein Ende Kleiner, kann auch der Anfang von etwas besserem sein«, mit diesen Worten ließ ich ihn stehen und trat meinen Heimweg an.

 

 

Ende

 

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