ClaudiundTimmWAHRHEIT ODER PFLICHT

 

Madura Island, Indonesien

 

 

 

Jochen stand am Strand und blickte in die Weite des Meeres. Es roch nach Fisch und Benzin. Obwohl ihm heiß war und er stark schwitzte, fühlte er sich doch wieder wohl. Er nahm einen Schluck aus seiner kleinen Wasserflasche. Das Gefühl der Erleichterung erfüllte ihn. Er lächelte. Er war nach einer langen Reise am Ziel angekommen. Circa 11.300km lagen nun zwischen Berlin und ihm. Das hatten sie im Internet nachgesehen. Und nun war er bereit, alles neu anzugehen. Ein Neuanfang stand vor ihm und der würde hier beginnen. Es war keine schöne Reise gewesen. Und keine freiwillige. Seine Frau Svenja hatte früher in einem Reisebüro gearbeitet und ihm die Route ausgearbeitet.

 

 

 

Begonnen hatte es mit einer Zugfahrt nach Hamburg. Da waren sie noch gemeinsam unterwegs gewesen. Aber Jochen war kein „Zug-Typ“. Überhaupt hielt er nicht viel von öffentlichen Verkehrsmitteln. Sein Porsche war sein liebstes Fortbewegungsmittel, das war schneller und vor allem war man dann ohne die anderen Idioten der Welt unterwegs. Bis alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, hatten sie sich zusammen in Hamburg aufgehalten. Dann hatte sich ihr Weg getrennt. Als Backpacker getarnt hatte er sich am Hamburger Flughafen in die lange Schlange vor dem Economy Class Check-in eingereiht, um sich dann in einen engen Sitz des Flugzeugs nach Dubai zu quetschen. Obwohl es ihm einleuchtete, auf diese Weise in den Mengen der Touristen zu verschwinden, dachte er auf der Reise nicht nur ein Mal, dass er zu alt und zu wohlhabend war für diesen Mist. Er war Unternehmer, er hatte eine kleine, aber gut gehende IT- Beratungsfirma. Naja, zumindest hatte er die Firma bis jetzt gehabt. Angekommen in Dubai war er per Bus nach Abu Dhabi gefahren. Von dort hatte er dann einen weiteren Flug nach Bangkok genommen. Er hatte neben zwei aus seiner Sicht nicht gepflegten Männern sitzen müssen, die alles getrunken hatten, was die Fluggesellschaft gratis für die Economy Class vorgesehen hatte. In gebrochenem Englisch hatten sie erzählt, dass sie Seeleute seien. Hoffentlich auf einem Frachter, auf dem euch keiner sieht, hatte er gedacht. In Bangkok war er nochmal umgestiegen und weiter nach Jakarta geflogen. Danach hatte er sich geschworen, niemals mehr in der Economy Class zu reisen. Das waren für seinen Geschmack zu viele Flüge gewesen und zu viele andere Menschen zu dicht bei ihm. Und er hätte von sich aus niemals eine solche Reise gemacht. Wäre da nicht die Angst, die ihm spürbar im Nacken saß. Die trieb ihn stetig weiter und ließ ihn alles ertragen, was ihm sonst zuwider war. Die Flüge hatten Svenja und er separat mit verschiedenen Kreditkarten gebucht. Es würde schwer werden, seiner Spur zu folgen. Doch nicht unmöglich, denn Flüge konnte man nur mit einer Identität nutzen. Sein Reisepass und die Kreditkarten waren das letzte, das an sein altes Leben erinnerte. Noch. Der Plan sah vor, dass seine jetzige Identität in Indonesien endete und seine neue begann. Seine Kreditkarten hatte er deswegen zerschnitten und in unterschiedlichen Papierkörben und Straßenabläufen in Jakarta verteilt. Als nächstes hatte er Jakarta mit dem Bus verlassen. Ein weiterer Reise-Albtraum für einen Porsche-Fahrer. Während einer Pause kaufte er vier kleine Fleischspieße an einem Straßenstand. Dabei ließ er unbemerkt seinen Reisepass unter das Rost der zu einem Grill umgebauten Tonne gleiten, wo er in den Flammen und der Glut verschwand. Dann ging die Reise mit dem Bus weiter und schließlich war er auf Madura Island angekommen. Eine Insel, von der er noch nie gehört hatte. Aber Svenja hatte ihm versichert, dass es für ihre Zwecke genau der richtige Ort war. Es war alles andere als eine indonesische Trauminsel, die dortigen Einwohner galten innerhalb Indonesien als vergleichsweise rau. Nur wenige Touristen, am ehesten abenteuerlustige Backpacker, verirrten sich überhaupt dorthin.

 

 

 

Zwei Tage sollte es dauern, bis er hier den Kontakt treffen sollte, der seine neuen Papiere und damit sein neues Leben bringen würde. Er hätte keine Ahnung gehabt, wie und wo man Papiere und Ausweise für eine neue Identität erhalten könnte. Seine Kenntnisse hierzu reichten nicht über die guten alten James Bond Filme hinaus. Und er war nun wirklich kein Geheimagent. Eine App konnte er programmieren. Aber Ausweise, Papiere, eine neue Identität waren etwas ganz Anderes. Svenja hatte davon natürlich auch keine Ahnung. Sie war Reisebürokauffrau. Das war aus seiner Sicht nichts Anspruchsvolles. Er hielt sie nicht für eine „Leuchte“. Aber sie sah super aus neben ihm, man konnte sie also gut vorzeigen. Natürlich konnte auch jemand wie Svenja intelligente Menschen kennen, sie war ja auch mit ihm zusammen. Und so vermittelte sie den Kontakt zu einem früheren Schulfreund von ihr. Er hatte noch nie von dem Kerl gehört, aber er hatte auch nicht wirklich Interesse, Svenjas Freunde kennenzulernen. Sie konnte sich ja ab und zu mit ihren Freundinnen nach dem Fitness-Studio zu einem Prosecco verabreden, dann hatte sie ihren Spaß und er blieb davon verschont. Aber nun war dieser Schulfreund doch ein Glücksfall gewesen. Er hatte ein Sicherheitsunternehmen, welches Personenschutz und Industriespionage betrieb. Letzteres hatte er anders und harmloser umschrieben, aber darauf lief es hinaus. Sie hatten ihm nicht seine ganze Geschichte erzählt. Aber genug. Er hatte zugesagt, zu besorgen, was nötig sei. Solange sie keine Fragen zum „Wie“ und „Woher“ stellten. Und als Ort für den Identitätswechsel hatten sie Indonesien ausgesucht. So würde der bisherige Jochen nie von seiner Reise zurückkehren. Danach würde es nur noch den neuen „Jochen“ geben, wie auch immer er dann heißen würde. Er würde es heute erfahren am vereinbarten Treffpunkt. Um keine neuen Spuren zu erzeugen, hatte er die Nächte auf Madura Island in einem kleinen Wurfzelt verbracht, das er mitgebracht hatte. Das passte irgendwie zu seiner Rolle als Backpacker und er musste nirgends einchecken und seinen Ausweis vorzeigen. Unnötig zu erwähnen, dass er lieber in 5-Sterne Hotels abgestiegen wäre. Nichts außer Angst hatte ihn zu dieser Tortur bewegen können. Und dazu sein gesamtes altes Leben inklusive seines Unternehmens und seines Porsches aufzugeben. Er hatte Angst um sein Leben. Und das war dann doch Grund genug, wie ein reisender Student völlig verschwitzt mit einem Rucksack am Ende der Welt rumzulaufen. Doch nun war es fast überstanden. Der Tag war gekommen, heute sollte er den Kontakt treffen, heute würde ein neues Leben beginnen. Sein neues Leben.

 

 

 

Er dachte zurück an die letzten Wochen vor der Reise. Als sich alles geändert hatte. Sein Leben aus den Angeln gehoben worden war. Weil ihn seine Vergangenheit eingeholt hatte. Eine Vergangenheit, mit der er schon lange abgeschlossen hatte. Er hatte sie im Wesentlichen ignoriert und in sich begraben. Wenn man an etwas nicht mehr denkt, dann verschwimmt es irgendwann. Zeit heilt alle Wunden, sagen die Leute. Aber manchmal nicht. In seinem Fall hatte die Vergangenheit dann plötzlich und unvermittelt zugeschlagen. An dem Tag, als das Handy auftauchte.

 

 

 

 

 

4 Wochen zuvor – Berlin-Zehlendorf

 

 

 

Svenja kam auf ihn zu und warf ihm ein Handy in den Schoß. „Seit wann bist Du Hertha-Fan?“, fragte sie. Er schaute erst das Handy in seiner billigen Hertha BSC Plastikschutzhülle und dann sie fragend an. „Das ist nicht meins, was soll das?“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Das lag draußen auf der Terrasse neben dem Liegestuhl. Da hast Du doch vorhin gesessen. Meines ist es nicht. Und Du bist hier der Fußball-Fan.“ Sie schaute ihn beschwichtigend an. „Aber von Union. Und Du kennst doch meine Telefone, Babe.“ „Du bist doch besessen von diesen Smartphones. Ständig ist mal ein neues da.“ „Also bitte, ich brauche die für die Firma und den Job, das weißt Du. Und Du lebst ja wohl auch gut von meiner Firma und mir, oder etwa nicht? Dieses hier ist keins von meinen. Also was soll das? Es liegt doch nicht einfach auf der Terrasse rum?“ Sie zuckte mit den Achseln. „Ich habe es nicht herbeigezaubert.“ Sie wartete keine Reaktion ab und lief bereits Richtung Küche davon. Er sah sich das Handy an. Dieses Modell war nicht wirklich neu. Die recht billige Plastikhülle mit dem Logo von Hertha BSC sollte wohl das Smartphone schützen. Lieber keinen Schutz als eine Hertha-Hülle, dachte er bei sich. Er aktivierte das Smartphone, welches ihn erstaunlicherweise nicht sofort nach einem PIN-Code fragte. Da hatte sich aber jemand nicht so Mühe gegeben mit der Sicherheit seines Handys. Aber so konnte man wenigstens nachsehen, was es damit auf sich hatte. Das Startmenü des Smartphones öffnete sich. Es gab kein spezielles Hintergrundfoto, der Hintergrund leuchtete in einem Blauton. Er tippte auf das Adressbuch Symbol. Dort waren aber keine Nummern und Namen gespeichert bis auf die Hotline des Mobilfunkanbieters, die wohl standardmäßig dort erscheint. Als nächstes versuchte es bei den Nachrichten. Dort waren neue Nachrichten von unbekannten Absendern. Er öffnete die jüngste Nachricht. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er sah. Die Nachricht enthielt das Foto eines Kindes und den Text „Ich weiß, was du getan hast.“ Er wusste sofort, welches Kind er da sah. Seine Hände zitterten. Schnell öffnete er die nächste Nachricht. Nun starrte er auf ein Foto von sich selbst. Wie er auf der Terrasse saß, noch im Pyjama und mit einer Kaffeetasse in der Hand. In den weiteren Nachrichten fand er weitere Fotos von sich selbst. Fotos von ihm beim Tanken, im Fitness Studio, auf dem Büro Parkplatz. Was sollte das? Hektisch wechselte er zwischen den Nachrichten auf dem Smartphone.

 

Er merkte, wie er schwitzte. Panik stieg in ihm auf.

 

„Wo hast Du dieses Handy her, Babe?!“, schrie er fast. „Von der Terrasse, habe ich doch gesagt“, antwortete sie, während sie mit einem Glas Wasser aus der Küche kam. Er war bereits aufgesprungen und rannte zur Terrassentür. Er schloss sie und sah aus dem Fenster. Niemand war zu sehen. Es war auch nichts zu hören. Als das Handy unvermittelt mit einer Melodie klingelte, ließ er es vor Schreck fast fallen. Er starrte auf das Display. „Anruf von Unbekannte Nummer“ stand dort. Wie ferngesteuert ging er den Flur entlang in Richtung seines Arbeitszimmers. Während er lief, nahm er das Gespräch an. „Hallo?“ Einen Moment war es still, dann sprach eine elektronische Stimme zu ihm: „Ich weiß, was Du getan hast. Du hast nun die Wahl, Wahrheit oder Pflicht. Stelle Dich also der Wahrheit oder wähle Pflicht. Der Klingelton ist ein Spoiler.“ Es knackte und die Verbindung brach ab. Was zum Teufel passierte da? All diese Fotos von ihm. Jemand beschattete ihn. Und dieser Jemand wusste Bescheid über das Kind. Er überlegte fieberhaft, was er jetzt tun sollte. Die Stimme hatte den Klingelton erwähnt. Es war irgendeine Melodie gewesen, aber er hatte nicht darauf geachtet. Er wählte im Menü das Symbol für Einstellungen und suchte nach der Einstellung für den Klingelton. „Stirb Langsam Soundtrack“ stand dort. Wähle die Wahrheit oder stirb?! Er sollte also sterben. Was zum Teufel sollte er jetzt tun? Was genau macht man, wenn das Leben bedroht wird? Woher kam dieses verdammte Handy. Es hatte eine Prepaid-Karte, wie er nach ein paar Handgriffen feststellte. Konnte er es dennoch hacken und zurückverfolgen, in welchen Funknetzen es sich eingewählt hatte? Aber wozu? Selbst wenn er den genauen Wohnort des Handybesitzers kannte, was sollte er dann tun. Und wenn es jemand war, der so etwas im Auftrag erledigte, könnte er doch gar nichts gegen so jemanden ausrichten. Er hatte zwar eine Idee, wer hinter diesen Nachrichten stecken könnte, aber diese Person würde so etwas keinesfalls selbst tun. Und wenn er zur Polizei gehen würde? Nur würden die ja auch wissen wollen, weshalb man es auf ihn abgesehen hatte. Und dann müsste er ja von dem Kind erzählen. Dann müsste er ja wirklich die Wahrheit wählen. Verurteilung und ins Gefängnis gehen. Er? Nein, das war eine Option, die er sofort verwarf. Was blieb dann also? Er musste erstmal weg und nachdenken.

 

 

 

„Was ist denn?“ Svenja stand hinter ihm und sah ihn fragend an. „Wir müssen wegfahren, pack ein paar Sachen zusammen“, sagte er. Sie antwortete irgendwas, aber er hörte ihr nicht zu. Dieses verdammte Kind, das damals wie anscheinend auch heute aus dem Nichts aufgetaucht war. Hätte doch diese Familie Bergmann besser auf ihr Kind aufgepasst. Die Bergmanns waren eine der einflussreichsten Familien hier in Berlin, sie waren vernetzt in Wirtschaft und Politik. Auch zu den Kunden seiner kleinen IT-Beratung gehörten sie. Dass es das Kind der Bergmanns gewesen war, hatte er an jenem Abend nicht gewusst, als es passiert war. Natürlich hatte er zu viel getrunken, aber das gehörte bei manchen Kunden einfach dazu. Das musste man tun. Und dann war dieses Kind mit dem kleinen, roten Fahrrad einfach auf die Straße gefahren. Und dann war da dieser Einschlag gewesen. Es hätte ihn doch ruiniert. Es war einfach unmöglich gewesen, mit so einem Unfall etwas zu tun zu haben. Nach einem anonymen Anruf war das Kind gefunden worden. Es war aber zu spät gewesen. Er hatte die Schäden am Auto in Tariks Werkstatt beheben lassen. Svenja hatte ihn dort abholen müssen, doch er ließ öfter mal an seinem Porsche etwas machen. Er glaubte nicht, dass Svenja etwas mitbekommen hatte. Er wäre jedenfalls nie auf die Idee gekommen, ihr etwas anzuvertrauen. Wozu auch. Selbst wenn es so wäre, würde sie wohl wissen, dass es besser war, bestimmte Themen nicht anzusprechen. „Du hast Deine Frau ganz gut trainiert“, hatte ihm einmal ein Kumpel auf einer Party grinsend zugeflüstert. Er war darauf irgendwie stolz gewesen. Aber gerade brauchte sie wohl ein wenig Nachhilfe. Sie stand immer noch vor ihm und schaute ihn fragend an. „Ich hab doch gesagt, pack ein paar Sachen zusammen, wir fahren weg. Irgendetwas daran unverständlich? Mach schon, Babe!“

 

„Was ist denn los, wo wollen wir denn hin?“ Nun schubste er sie Richtung Flur. „Mach, was ich Dir sage. Ich erklär’s Dir gleich im Auto“, sagte er. Er spürte ein Gefühl in sich, dass er nicht oft hatte: Angst. Der Bergmann Familie bzw. Friedrich Bergmann war viel zuzutrauen, man wollte einfach nicht sein Feind sein. Wie war man nur auf ihn gekommen? Was hatte er übersehen?

 

 

 

 

 

Weitere 4 Wochen zuvor – Potsdam

 

 

 

Friedrich Bergmann schaute auf die Havel. Er hatte den Verlust seiner Tochter nie überwunden. Seine Frau und er hatten nie wieder in ein „normales“ Leben zurückgefunden. Und nun wusste er nach der langen Ungewissheit, wer dafür verantwortlich war. Und ausgerechnet die Frau dieses Schweines hatte dies aufgedeckt. Er schaute sie an und dann fragte er direkt heraus: „Wären sie bereit, auch ganz offiziell bei der Polizei oder bei Gericht zu wiederholen, was sie mir erzählt haben?“ Svenja holte tief Luft. „Grundsätzlich ja. Aber googeln Sie ähnliche Fälle im Internet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er durchkommt damit. Es wird schwer, verwertbare Beweise vorzulegen. Ich weiß aus erster Hand, was ich Ihnen erzählt habe. Aber alle Belege und Beweise sind nicht mehr da. Am besten wäre es, wenn er die Geschichte bestätigt bzw. gesteht. Allerdings würde er eher tot umfallen, als das zu tun.“ Beide schauten gedankenverloren auf die Havel. Sie atmete hörbar ein und fuhr fort. „Und ich habe mir die Frage gestellt, was man wohl tun könnte, damit er wählen muss. Ich weiß nicht genau, wie ich es erklären soll. Kennen Sie das Spiel „Wahrheit oder Pflicht?“ Er nickte verwundert und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Dieses Gespräch ging nun in eine ganz andere Richtung, als er erwartet hatte. „Ich bin mir nicht sicher, was Sie antreibt. Was Sie sagen, klingt, vorsichtig ausgedrückt, illegal. Und mein Interesse ist, dass der Schuldige am Tod meiner Tochter sich verantworten muss. Ich gebe zu, ich würde mir da als Vater deutlich mehr vorstellen, als der deutsche Rechtsstaat. Wahrheit oder Pflicht… Was soll denn das bedeuten?“ „Hören Sie Herr Bergmann, ich verstehe, dass Ihnen mein Anliegen komisch vorkommt. Es ist so… Mein Mann sollte… Es gibt einiges, das er getan hat.“ Sie machte eine kurze Pause, als sie merkte, wie sich ihr Hals zuschnürte. Sie schluckte. Dann sammelte sie sich wieder und fuhr fort: „Aber er musste nie die Verantwortung dafür übernehmen, nie Rechenschaft ablegen, niemals die Sicht der Anderen annehmen. Er fühlt nicht mit. Er sollte in eine Situation kommen, in der er sich entscheiden muss. Pflicht oder Wahrheit. Ich bezweifle stark, dass er Wahrheit wählen wird.“ Er runzelt die Stirn. „Und was wäre dann die Pflicht?“ „Wenn er wieder mal vor der Wahrheit flieht, dann sollte ihn die Flucht aus, wie nannten sie es, dem deutschen Rechtsstaat hinausführen. An einen Ort, an dem man „das Urteil“ selbst bestimmen kann.“ Sie war in Gedanken diverse Male durchgegangen, wie sie Herrn Bergmann ihren Vorschlag unterbreiten könnte. Sie hatte das Gespräch in vielen Versionen beim Joggen durchdacht. Svenja war von sich selbst überrascht, wie ruhig und klar sie es nun dargelegt hatte. Aber sie war innerlich sehr angespannt. Wie würde Herr Bergmann nun auf ihr Anliegen reagieren. „Hören Sie, Frau Marthens…“ „Sagen Sie Svenja bitte.“ Er räusperte sich. „Svenja, ich… Das ist…“ Er brach ab und schwieg eine Weile. Sie sah ihn nur an. „Ich muss erstmal nachdenken. Kann ich Sie… Dich morgen nochmal treffen?“ Sie nickte, drehte sich langsam um und lief auf dem Gehweg davon. Er sah wieder kurz zur Havel, dann zu ihr. Es kam ihm selbst seltsam vor, dass er ihren Gedanken nicht abwegig fand. Fast war er davon erschreckt, dass sich zum ersten Mal seit dem Tod seiner Tochter etwas in ihm regte. Mit seiner Frau wechselte er kaum Worte, über ihre Tochter hatten sie lange nicht mehr gesprochen. Seine Frau ging anders mit dem Thema um und schloss es in ihrem Herzen ein. Er spürte, wie sehr es ihn reizte, nun etwas aktiv tun zu können. Natürlich konnte er seine Tochter nicht zurückbekommen von den Toten. Aber nun könnte er aktiv werden und der Verantwortliche für den Tod kam nicht einfach so davon. Wahrheit oder Pflicht hatte Svenja gesagt. Aber es ging doch um ihren Mann. Was musste man einer Frau wie Svenja wohl antun, damit sie solch eine Idee hatte und umsetzen wollte?

 

 

 

 

 

Weitere 4 Wochen zuvor – Berlin-Grunewald

 

 

 

Svenja joggte durch den Wald. Sie lief und lief. Sie folgte keiner bestimmten Route und bog ohne rechten Plan wahllos auf Waldwege ein, während sie tief in ihre Gedanken eintauchte. Als Reisebürokauffrau hatte sie in vielen Hotels übernachtet. Manchmal hatte man durch Wände oder Verbindungstüren Geräusche aus den Nebenzimmern hören können. Auch lautes Geschrei, Streit und bedenkliche Geräusche verschiedener Sex Praktiken waren dabei gewesen. Ob man wollte oder nicht hatte man einen Ausschnitt aus dem Leben anderer Menschen wahrgenommen. Aber es war immer das Leben der Anderen gewesen. Die sichere Wand, so dünn sie auch jeweils gewesen war, hatte immer dazwischen gestanden. Besonders schlimme Dinge betrafen doch immer nur die Anderen. Sie bog nach rechts ab in einen kleinen Trampelpfad. Vielleicht hätten diese Anderen ihr Leben allerdings auch als „schlimm“ bezeichnet. Die Demütigungen und die herablassende Art von Jochen waren auch ihren Freundinnen nicht entgangen. Gerade, wenn andere dabei waren, konnte Jochen ein richtiges Ekel sein. Sie gestand sich ein, dass sie sich daran gewöhnt hatte. Umso mehr hatte sie versucht, die wenigen schönen Momente zu genießen, die es auch nur gab, wenn sie alleine waren. 

 

 

 

Aber vor zwei Tagen war es eben nicht das Leben der Anderen gewesen. Es war ihr passiert und keine Wand hatte sie davon getrennt. Sie hatte doch „Nein“ gesagt. An jenem Tag hatte sie die betriebsbedingte Kündigung erhalten. Und war niedergeschlagen gewesen. Sie hatte Trost und Verständnis gesucht. Und Jochen war ausgerechnet an diesem Tag mal wieder angetrunken von einem sogenannten Kundentermin nach Hause gekommen. Sie wusste nicht mehr genau, wann es völlig eskalierte. Aber er hatte sie „hysterisch“ genannt. Und an sein deplatziertes Grinsen erinnerte sie sich, als er ihr sagte, dass sie doch trotzdem noch gebraucht würde. Und dann war da noch die Erinnerung an den Schmerz und die Fassungslosigkeit, als er immer weiter machte und nicht zu stoppen war. Sie hatte ihn angeschrien und versucht sich zu wehren. Doch er hatte sie unsanft auf die Couch geworfen. Ihren Arm hatte er in einem festen Griff so verdreht, dass es sehr geschmerzt hatte. Und so war es geschehen. Danach hatte er sie einfach liegen lassen und war in seinem Arbeitszimmer verschwunden. Auch nun liefen ihr noch Tränen herunter, wenn sie daran dachte. Sie wollte wegrennen, doch sie lief nur kreuz und quer durch den Wald. Richtig wegrennen konnte sie nicht. Sie war so abhängig geworden, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ihre Mutter wurde im Pflegeheim betreut und sie war ohne ihren Job gerade jetzt auf Jochen angewiesen, ob sie es wollte oder nicht. Sie würde erstmal da durch müssen. Abrupt blieb sie stehen, völlig außer Puste. Wenn man doch nur die Regeln selbst machen könnte. Warum sagte eine Monopoly-Lebensereignis-Karte nicht einfach: „Sie wurden vergewaltigt. Ziehen Sie das Vermögen ihres Mannes ein und schicken Sie ihn in die Wüste.“ Oder lassen sie ihn in eine Gletscherspalte fallen oder lassen sie ihn an den Grund der See sinken. Sie hatte doch im Reisebüro gelernt, eine finale Destination müsste sie doch finden können.

 

Sie kannte Jochen gut, aber dass er so weit gehen würde mit ihr, das hatte sie nicht vorhergesehen. Oder hatte es nicht wahr haben wollen. Jochen hatte dunkle Geheimnisse und war zu einigem fähig. Das hatte sie gewusst. Dachte er wirklich, sie hätte damals die roten Kratzer an seinem Porsche nicht bemerkt? Oder die Rechnung für die Reparatur? Oder seine Nervosität? Und wie er scheinbar beiläufig die Pressemeldungen über den Tod des Bergmann Kindes verfolgt hatte? Sie hatte natürlich Eins und Eins zusammengezählt. Für wie dumm hielt er sie eigentlich? Leider wusste sie auf diese Frage auch die Antwort.

 

 

 

 

 

Wieder 12 Wochen später – Auf See, 10 Seemeilen vor Madura Island, Indonesien

 

 

 

Jochen war am Strand abgeholt worden. Ein kleines Schlauchboot hatte ihn übergesetzt auf eine Motoryacht. Nun saß er im Heck der Yacht und hielt eine Flasche Bintang Bier in der Hand. Seine Kontaktperson kam aus der Kabine herausgelaufen und hielt einen braunen Umschlag in der Hand. „You come for this“, sagte der Mann in gebrochenem Englisch. „Genau… Ähm… Yes, exactly“, antwortete Jochen ihm. Jochen nahm den Umschlag entgegen. Damit konnte es nun weitergehen. Schon übermorgen würde er in dem Luxus Resort in Thailand sein als wer-auch-immer. Dort würde er sich endlich von dieser beschissenen Reise erholen. Er hatte sogar schon Pläne, wie er neu durchstarten würde. Das war ja das Schöne an der IT – man konnte jederzeit von jedem Ort der Welt arbeiten. Sein neues Ich würde er gleich kennen lernen. Hauptsache er würde seine jetzige Identität los und seine Vergangenheit und Bergmann hinter sich zurücklassen. Svenja würde sich in der Zwischenzeit in Berlin um alles kümmern und diskret Geld transferieren. Er hatte ihr alles genau erklärt, hoffentlich bekam sie das alles hin. Sie würden sich sicherheitshalber eine Weile nicht sehen können. Aber er würde sich die Zeit auch ohne sie vertreiben können. Sie war in letzter Zeit nicht sehr motiviert im Bett gewesen, er hatte da ohnehin immer mal nachhelfen müssen. Jetzt sollte sie sich erstmal nützlich machen und sich um alles kümmern.

 

 

 

Er sah wieder auf den Umschlag. Er legte ihn vor sich und griff hinein. Was er ertastete, fühlte sich gar nicht wie ein Pass an. Er zog einen Gegenstand heraus und benötigte einen Moment, um zu erkennen, was er in der Hand hielt. Der Anblick des Handys mit der billigen Hertha BSC Plastikschutzhülle fühlte sich mehr wie ein Stromstoß an als ein Déjà-vu. Die Erleichterung und die Gedanken an den Luxus in Thailand zerplatzten wie eine Seifenblase. Plötzlich fühlte sich alles leer an und er starrte fassungslos auf das Handy. Ein Post-it auf dem Telefon zeigte ihm eine Nachricht: „Du hattest die Wahl, an jedem einzelnen Tag. Wahrheit oder Pflicht. Die Wahrheit hast Du nicht gewählt.“

 

 

 

Er nahm es fast nicht wahr, als er gepackt und über die Reling gezogen wurde. Er fiel und tauchte mit Kopf und Schulter zuerst ins Wasser. Der Schreck und die Panik brachten es mit sich, dass er einerseits Wasser schluckte und andererseits plötzlich wieder ganz wach war und alles klar wahrnahm. Er riss die Augen unter Wasser auf und sah, wie das Handy an ihm vorbei in die Tiefe sank. Irgendwie schaffte er es wieder an die Oberfläche. Hustend und spuckend sah er sich um. Was in Gottes Namen war denn hier los?

 

Er hörte das Motorengeräusch der Motoryacht und drehte sich um. Und da sah er sie, bis sie schließlich in der Ferne verschwand. Die Erkenntnis traf ihn wie einen Schlag. Seine Reise war zu Ende und er würde nun sterben müssen. „Pflicht!“

4 thoughts on “WAHRHEIT ODER PFLICHT

    1. Vielen Dank für das Lob, das freut uns sehr! Es hat Spaß gemacht zusammen zu schreiben. Eine Premiere! 🙂 Wir haben noch mehr Ideen, also wird es bestimmt auch weitergehen… sagen wir mal bei 20 Likes der Geschichte. 😀
      C & T

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