HanneyhillWeil ich dich hasse

1998

Markus Kowitz` Herz klopfte wie verrückt, als der Schulgong ertönte und seine Lehrerin die Stunde beendete. Endlich war Mittagspause, aber anstatt sich wie die anderen auf das Essen in der Kantine zu freuen, schob er ernsthafte Panik bei dem Gedanken an das Gespräch, das ihm in Kürze bevorstand. Während der Mathestunde hatte er sich keine Sekunde konzentrieren können, und die Schweißflecken unter seinen Achseln waren immer größer geworden. Jetzt zögerte er den Moment künstlich hinaus, indem er seine Sachen im Schneckentempo in seinem Rucksack verstaute. Wenn sein Herz sich doch mal beruhigen würde!
„Markus? Willst du nicht in die Pause?“, fragte Frau Hartkorn.
„Ähm … ja, doch.“
Mit zittrigen Beinen schleppte Markus sich aus dem Klassenzimmer und hinaus auf den Schulhof. Seine Freundin Laura sah er schon aus der Ferne am vereinbarten Treffpunkt neben der Sporthalle. Es würde ihr das Herz brechen.
„Hi Schatz“, begrüßte sie ihn und fiel ihm mit überschwänglicher Freude um den Hals.
„Hi.“
„Wie war Mathe?“ Laura drückte ihm einen fetten Kuss auf die Lippen und presste sich an ihn. Er dagegen, versuchte sich Distanz zu schaffen und etwas Luft zwischen seinen und ihren Körper zu bekommen. Sachte schob er sie von sich weg.
„Was ist los?“, fragte sie mit Misstrauen in der Stimme und ging nun von selbst einen Schritt zurück. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich wollte doch mit dir reden, weil …“ Er konnte es nicht aussprechen. Die Übelkeit lähmte ihn. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er jemanden verletzten musste, ohne es zu beabsichtigen. Laura war ein liebes Mädchen, aber eben nicht die Richtige für ihn.
„Sag es schon! Hast du eine andere? Wieso benimmst du dich so … so scheiße?“
Er hatte es tatsächlich geschafft. Er hatte sie völlig in Rage gebracht, noch bevor er überhaupt etwas gesagt hatte. Na das konnte ja was werden.
„So ist es nicht. Jedenfalls habe ich keine andere, aber … ich …“
„WAS? Rede!“
„Ich liebe dich nicht mehr. So, jetzt ist es raus.“
Lauras Augen füllten sich mit Tränen. Sie blickte ihn mit einer Mischung aus Wut und Traurigkeit an, die er nicht ertragen konnte. Genau vor diesem Moment hatte er so große Angst gehabt. Er konnte mit weinenden Menschen einfach nicht umgehen.
„Wieso? Es war doch alles so toll zwischen uns, wir haben und so gut verstanden!“
„Ich kann es dir leider nicht sagen, es tut mir so wahnsinnig leid.“
„Ich habe meine beste Freundin für dich im Stich gelassen! Scheiße Markus, ich liebe dich! Was soll ich denn jetzt machen? Wir sind füreinander bestimmt!“
Markus wollte sie in den Arm nehmen, doch sie wich zurück. Aus seiner Laura war in Sekunden ein Häufchen Elend geworden. „Fick dich, Markus!“ Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stürmte davon. Er fühlte sich mindestens genau so beschissen wie sie.

Ihr Ende

An jenem Nachmittag kam Laura Martens nicht wie gewohnt von der Schule nach Hause. Stattdessen erschien die Polizei bei den Martens an der Wohnungstür und informierte die Familie über den Tod des Mädchens. Sie war von einer Brücke auf die Fahrbahn gestürzt und sofort tot. Was genau geschehen war, konnte nie aufgeklärt werden.

2020

Als Marla das Haus verließ, stolperte sie fast über das Paket, das auf der Fußmatte lag. Hatte sie überhaupt etwas bestellt? Sie war schon spät dran, in einer halben Stunde ging ihre Schicht los. Hastig nahm sie das Päckchen, um es noch schnell in die Küche zu bringen, dann musste sie aber wirklich los.
Sie stellte es auf der Arbeitsfläche ab, da piepte es plötzlich im Inneren des Kartons.
Was war das? Kam das aus dem Paket?
Marla hielt einen Moment inne. Tatsächlich! Aus dem Paket kamen Geräusche!
Eilig holte sie eine Schere aus der Küchenschublade und schnitt den Karton auf. Das konnte nicht bis zum Abend warten, dafür war sie nun zu neugierig.
Der Inhalt verwunderte sie. In Zeitungspapier war ein Handy eingewickelt, ohne Originalverpackung, ohne Absender. Verunsichert nahm sie das Gerät in die Hand. Woher kam es? Was sollte sie damit? Bestellt hatte sie es unter Garantie nicht.
Um der Antwort möglicherweise ein Stückchen näher zu kommen, drückte sie den Homebutton. Es überraschte sie, dass die Eingabe eines Passworts gefordert wurde.
„Na toll.“
Marla versuchte es mit eins, zwei, drei, vier. Wie zu erwarten, war die Kombination falsch. Auch der Versuch, vier untereinanderstehende Zahlen zu drücken, zeigte keinen Erfolg. Frustriert legte sie das Gerät auf die Arbeitsfläche. Es war doch zum Verrücktwerden!
Noch einmal wühlte sie in dem Paket. Wenn das kein blöder Scherz war, um sie zu beschäftigen, dann musste es irgendeinen Hinweis geben. Als sie das Zeitungspapier herausnahm und eine handschriftliche Notiz vorfand, blieb ihr Herz fast stehen. Es standen nur drei Wörter auf dem kleinen Zettel. „Dein echter Name“. Diese eigentlich harmlosen Worte trieben ihr den Schweiß auf die Stirn. Wie war das möglich? Niemand wusste von ihrem Geheimnis. Sie betete inständig, dass der Absender dieses Pakets etwas ganz anderes meinte, als sie befürchtete. Es musste einfach so sein, sie hatte ihr Geheimnis immer gut gehütet!
Mit diesem Gedanken versuchte sie, sich selbst zu beruhigen. Sie gab die geforderte Antwort ein, die einfach falsch sein musste. Mit zitterndem Finger drückte sie die Eingabetaste.
Als der Bildschirm freigegeben wurde, setzte für einen kurzen Moment Marlas Herzschlag aus. Das war nicht möglich! Irgendjemand war hinter ihr Geheimnis gekommen und kannte zudem ihre Adresse! Das Bild, das auf dem Display angezeigt wurde, machte es noch schlimmer. Es zeigte sie selbst! Sie kannte es, der Schulfotograf hatte es damals geschossen, das war in der neunten oder zehnten Klasse. Seitdem hatte sie sich sehr verändert und war davon ausgegangen, dass niemand hinter ihr Geheimnis kam.
Marlas Gedanken überschlugen sich. Von wem war das Handy und was hatte das alles zu bedeuten? Wer hatte nach ihr gesucht? Plötzlich vibrierte das Gerät in ihrer Hand.
Oh mein Gott!
Nervös starrte sie auf das Display. Die Nummer war ihr völlig unbekannt. Um herauszufinden, was los war, musste sie den Anruf entgegennehmen.
„Hallo?“, flüsterte sie mit zitternder Stimme ins Handy. „Hier spricht Ma … Marla.“
„Weiß ich doch. Schön, endlich mal wieder deine Stimme zu hören nach so langer Zeit.“
Wer war das? Die Stimme kam ihr überhaupt nicht bekannt vor. Sie konnte nicht einmal erkennen, ob am anderen Ende ein Mann oder eine Frau sprach.
„Wer sind Sie?“
„Kannst du dir das nicht vielleicht denken? Ach ne, dir ist es scheinbar scheißegal, was damals passiert ist! Aber keine Angst, ich werde deiner Erinnerung schon noch auf die Sprünge helfen!“
„Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich habe niemandem etwas getan.“
„Ach nein? Sagt dir der Name Laura Martens nichts?“
Die Angst zuckte durch Marlas Körper und ließ ihren Atem stocken. Und wie sie den Namen kannte! Er war ein Teil ihres Lebens gewesen. Aber es war so lange her. Wieso musste man sie nach all der Zeit damit konfrontieren? Sie hatte selbst lange dafür gebraucht, um über die Sache hinwegzukommen. Es hatte Monate gedauert, bis sie sich nicht mehr so viele Vorwürfe gemacht hatte. Marla seufzte. „Ich … ich kenne den Namen.“
„Ich wusste, du würdest dich erinnern. Lass uns doch von Angesicht zu Angesicht darüber sprechen. In fünfzehn Minuten erwarte ich dich bei der alten Autobahnbrücke.“
„Nein“. Marlas Antwort kam ohne jegliches Zögern wie aus der Pistole geschossen.
„Das war keine Frage. In fünfzehn Minuten an der Autobahnbrücke oder die ganze Welt erfährt von deinem kleinen Geheimnis.“
Marla schluckte. Das durfte nicht passieren, ihre Welt würde zusammenbrechen! Sie hatte einen tollen Job, den wollte sie nicht verlieren, und ihre Freunde wussten auch nichts davon. Nicht einmal ihre beste Freundin. Sie hatte keine andere Wahl. Wer auch immer am Ende der Leitung zu ihr sprach, hatte sie vollkommen in der Hand.
„Verstanden, bin unterwegs.“
Marla legte auf und schob das Handy in ihre Hosentasche. Sie musste sich erst einmal mit einem Küchentuch den Schweiß von der Stirn wischen, bevor sie ins Auto stieg und mit klopfendem Herzen auf den vereinbarten Treffpunkt zusteuerte.

Bei der Brücke

Sie hatte das Auto ein Stück entfernt abgestellt und war nun zu Fuß auf dem Weg zur Brücke. Dafür durchquerte sie ein kleines Waldstück, hinter dem die Autobahn lag. Das flaue Gefühl in ihrem Magen bescherte ihr Übelkeit. Hier war sie früher öfter mal mit Laura spazieren gewesen. Doch woher wusste der Anrufer das?
Marla erreichte die Fußgängerbrücke und sah sich um. Scheinbar war sie zuerst da, außer ihr war niemand zu sehen. Sie stieg die Stufen hinauf und blickte, oben angekommen, auf die vielen Autos hinunter. Laura war immer so lebensfroh gewesen. Wieder an diesem Ort zu sein, riss die alte Wunde auf und ließ sie ein paar Tränen vergießen.
„Hast es ja hierher geschafft.“
Marla zuckte erschrocken zusammen und drehte sich um. Sie sah in das Gesicht einer jungen Frau. Sie kam ihr irgendwie bekannt vor, wusste aber nicht woher.
„Was wollen Sie von mir? Ich habe nichts getan.“
„Nichts getan?“ Die Frau schrie jetzt. „Du hast meine Schwester auf dem Gewissen!“
„Ich habe nich-“
„-Ich weiß, wer du bist! Du bist Markus Kowitz, der Typ, der meine Schwester auf dem Gewissen hat!“
„Deine Schwester?“ Jetzt wusste Marla, warum ihr das Gesicht so bekannt vorkam. Pia Martens, Lauras kleinere Schwester, hatte sie ein paar Mal auf dem Schulhof gesehen. Das war aber mehr als zwanzig Jahre her. „Ich habe nichts getan.“
„Das stimmt nicht. Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als du mit ihr schlussgemacht hast?“
„Woher weißt du-“
„-ich habe gerade mit meinen Freunden verstecken gespielt und mich im Gebüsch bei der Sporthalle versteckt, als du kamst. Meine Schwester hat immer so von dir geschwärmt und du hast einfach mit ihr schlussgemacht!“
„Was hätte ich denn tun sollen? Ich habe halt gemerkt, dass ich schwul bin und selbst gern ein Mann wäre.“
„Sie hat sich wegen dir das Leben genommen du Arschloch!“ Pias Gesicht schien vor Wut zu glühen. Sie war ganz rot. „Sie hat dich geliebt!“
„Ich … ich weiß.“ Marla, beziehungsweise Markus ließ den Tränen freien Lauf. „Mit tut das so leid.“
„Sieh an, jetzt heulst du auch noch. Was soll das Getue? Du scherst dich einen Dreck um meine Schwester. Weißt du, wie es ist, wenn man seine Schwester verliert?“
„Nein. Aber ich habe auch darunter gelitten! Jeden Tag habe ich mir solche Vorwürfe gemacht!“
„So ein Scheiß! Du hast ja nicht einmal gefragt, was genau passiert ist, weil es dich nie interessiert hat! Sie ist von dieser Brücke gesprungen, die Brücke, auf der ihr euch das erste Mal geküsst habt!“
„Woher weißt du-“
„-verdammt, ich bin ihre Schwester! Glaubst du nicht, wir hätten uns nicht alles erzählt?“
„Wie hast du mich gefunden?“
„Ist das jetzt wirklich dein einziges Problem?“, spuckte Pia ihr entgegen. „Ich hasse dich! Ich hasse dich so sehr! Deshalb wird dein Leben hier auch ein Ende finden!“ Die völlig aufgebrachte Frau zog plötzlich ein Messer hervor und stach auf Marla ein. Sie hatte keine Chance, auszuweichen.
„Bitte … bitte nicht …“ Blut lief aus Marlas Oberkörper. Die Schmerzen waren unerträglich. Ihr wurde schwarz vor Augen.
„So ungefähr hat Laura das auch gesagt, als du sie mit deinen Worten umgebracht hast!“ Völlig in Rage zog Pia das Messer aus Marlas Körper und stach immer wieder auf sie ein, bis sie zu Boden sackte und sich nicht mehr regte. „Jetzt hast du ihn wieder“, flüsterte Pia dem Himmel entgegen und verließ mit tränengefüllten Augen die Brücke.

3 thoughts on “Weil ich dich hasse

  1. Wow! Sehr gelungen! So manches mal war ich etwas wegen der Namen verwirrt, jedoch liest sich die Geschichte kurz und knackig. Ich glaube, wäre sie etwas länger ausformuliert, wäre es vielleicht etwas zu anstrengend geworden für mich.
    Aber du hast Talent und das Schreiben im Blut! Ich freue mich mehr von dir zu lesen! Lg Lia 🙂

  2. Hey Christina,

    ich habe deine Kurzgeschichte gelesen, weil mich dein Titel angesprochen hat. Das Thema, dass du in deine Geschichte hast mit einfließen lassen, finde ich gut gewählt, da durch die Geschlechtsumwandlung eine neue Identität entsteht.
    Hier und da wären vielleicht ein paar mehr Details zu den verschiedenen Charakteren hilfreich gewesen, um sich leichter mit den Figuren zu identifizieren. Zudem habe ich ein bisschen darauf gewartet, dass der Satz “Weil ich dich hasse” nochmal in deiner Kurzgeschichte vorkommt (aber das ist mein persönliches Empfinden 😉 ).
    Eine gute Leistung die du erbracht hast und definitiv berechtigt an diesem Projekt teilzunehmen 😀

    Liebe Grüße und noch viel Spaß beim Schreiben
    Sarah

    Ich würde mich sehr freuen, auch deine Meinung zu meiner Kurzgeschichte zu lesen 😉
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/unschuldskind

Schreibe einen Kommentar