sinaa.ckWenn das Böse siegt

Zoe
Ich beugte mich herab, öffnete das Türchen des großen Gehäuses und nahm die Kerze heraus. Badumm! Ein kleiner Gegenstand fiel zu Boden. Es war das kleinste Handy, das ich je gesehen hatte. Ich griff danach und betrachtete es von allen Seiten. Seltsam. Was hatte es in der Grablaterne verloren? Neugierig tippte ich auf eine der kleinen Tasten und das Display leuchtete auf. Was ich dann las, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Es waren nur wenige Worte, doch die genügten bereits, um meinen Körper auszuknocken. Mein Herz raste, meine Lunge zog sich zusammen und mein Magen fuhr Achterbahn. Noch bevor ich das Ende des Textes erreicht hatte, gaben meine Beine unter dem enormen Druck meines Körpers nach und ich sackte zusammen wie ein alkoholisierter Rentner nach der dritten Geisterbahnfahrt. Das war zu viel Rummel auf einmal. Erst der Tod meiner Eltern vor einigen Monaten, dann Laras Beerdigung und jetzt das. Die Häppchen vom Beerdigungsessen bahnten sich binnen weniger Sekunden ihren Weg nach oben, sodass ich mich übergeben musste. Direkt neben Laras Grab. Direkt neben dem offenen Erdloch, in dem der Sag meiner Schwester lag. Mit der linken Hand stützte ich mich kopfüber auf dem erdigen Boden ab, in der rechten hielt ich das Mini-Handy, das mit nur einem Atemzug mein Leben grundlegend verändert hatte. Mein Kopf pochte wie wild und vor meinen Augen hüpften schwarze Pünktchen energisch auf und ab. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Die tiefe Trauer, die ich seit Tagen empfand, hatte sich in eiskalte Angst verwandelt. Wer konnte diese schreckliche Botschaft, hier hinterlegt haben? Und was führte die Person im Schilde, die schrieb: „Hier ruht Zoe Sänger, geboren am 17. Juni 1995, gestorben am 17. Juni 2020“. Augenblicklich hatte ich begriffen: Sollte ich dem unbekannten Absender Glauben schenken, würde ich noch heute sterben.

 

Die dunkle Seite
Scheiße! Ich hatte nicht kommen sehen, dass zwei Gießkannen und eine Kiste aus dem Regal rechts neben mir auf den Boden gefallen waren – und ich direkt hineinlaufen würde. Das Knallen, das folgte, war so laut, dass es kaum zu überhören war. Ich musste unbedingt vorsichtiger sein. Gerade jetzt, wo ich doch kurz davorstand, mir meinen größten Traum zu erfüllen, der alle Narben der Vergangenheit in Luft auflösen würde. Wo war denn bloß der verdammte Lichtschalter? Als ich vergangene Nacht hergekommen war, hatte eine Taschenlampe für die nötige Beleuchtung gesorgt. Allerdings besaß der Raum keine Fenster, sodass es hier selbst tagsüber relativ dunkel war. Ich tappte mit der Hand an der hölzernen Wand entlang. Da! Ich legte den kleinen Schalter um und ein warmes Licht durchflutete den Raum. Die Decke war überzogen von Spinnenfäden, Mäuse hatten auf dem Boden ihre Exkremente hinterlassen und eine Ecke war von Schimmel übersät. In der Dunkelheit war mir der Dreck kaum aufgefallen. Doch er war der beste Beweis dafür, dass sich selten Menschen an diesem Ort aufhielten. Damit wurde dieses schäbige Fleckchen Erde zum perfekten Versteck für mein Vorhaben. Ich schielte durch den Riss in der hölzernen Wand und musste – bei Zoes elendigem Abbild – grinsen. Sie würde einen grausamen Tod sterben, so viel war klar. In Gedanken ließ ich den Tag nochmal Revue passieren. Bisher lief alles nach Plan. Erst durfte ich, natürlich aus einiger Entfernung, live miterleben, wie Lara unter der Erde versank und nie mehr auftauchen würde. Danach waren alle Gäste zum Kaffeetrinken in das schäbige, alte Café zwei Straßen weiter getrabt und ich hatte freie Bahn. Freie Bahn, um alles für meinen mörderischen Plan vorzubereiten. Ich versteckte meine Botschaft seelenruhig und fein säuberlich in der Grablaterne – ohne, dass jemand Verdacht schöpfte. Und dann hieß es abwarten und geduldig sein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Zoe zurückkommen würde, um sich im Stillen von ihrer geliebten Schwester zu verabschieden. Ich hatte sie lange genug beobachtet, um zu wissen, wie sie tickte. Es war interessant, wie viele Gemeinsamkeiten wir hatten. Genau wie ich hatte sie blaue Augen und schulterlange, braune Locken. Sie arbeitete im Bestattungsunternehmen der Familie, packte gerne mit an und schien ein Auge fürs Detail zu haben. Dass sie die Grablaterne übersehen konnte, war also schier unmöglich – zumal ich sie auffällig inmitten der Trauerblumen platziert hatte. Spätestens wenn sie die Kerze anzünden wollte, würde ihr das Handy in die Hände fallen und das mörderische Abenteuer beginnen. Und genauso war es geschehen. Nun wurde es höchste Zeit, den letzten Teil meiner Mission einzuläuten. Ich drehte mich um und bahnte mir meinen Weg durch das verstaubte Chaos. Kurze Zeit später stand ich vor meinem Zielobjekt, das über einen festmontierten Stiel verfügte, etwas weniger als 150 cm lang war und – das Wichtigste – eine Edelstahl-Kappe besaß. Genau nach so einem Teil hatte ich Ausschau gehalten, Volltreffer! Ich lachte und fuhr mit den Fingern die scharfen Kanten des Stahl-Kopfes ab. Sie würden schon bald Bekanntschaft mit Zoes zartem Körper machen. Da war ich mir sicher.

 

Zoe
Als das Karussell in meinem Kopf aufhörte, sich zu drehen, setzte ich mich völlig erschöpft auf den Rand des Grabes. Obwohl ich nach wie vor unter Schock stand, fing mein Magen an, sich langsam zu entkrampfen. Mein Pulsschlag beruhigte sich und ich war zumindest wieder in der Lage, tiefer Luft zu holen und nachzudenken. Im besten Fall handelte es sich bei der Nachricht um einen schlechten Scherz, im schlimmsten Fall würde jemand sterben. Und das wäre ich. Was also war zu tun? So oder so musste ich die Polizei rufen, damit sie der Sache auf den Grund ging. Ich warf einen Blick auf das Handy in meiner Hand und schob kurzerhand das Bild mit der Nachricht beiseite. Als ich gerade auf den grünen Telefonhörer-Icon drücken wollte, um die 110 zu wählen, blieb mein Blick an einem Ordner mit dem Namen „Z wie Zoe“ hängen. Ich erstarrte. Der Absender kannte meinen Namen. Ein Panik-Gefühl übernahm die Kontrolle über meinen Körper und meine Bewegungen, sodass ich wie in Trance auf das Symbol klickte. Eine Galerie mit Bildern öffnete sich. Ich vergrößerte das erste Foto und stellte bei genauerem Hinsehen fest, dass Lara und ich zu sehen waren. Wir waren noch ganz klein, vielleicht ein paar Monate alt, und lagen zusammen in einem Laufstall im Garten unseres Elternhauses. Davor stand ein kleiner Junge, der etwa fünf Jahre alt sein musste. Doch wer war er und was hatte dieses Bild auf dem fremden Handy zu suchen? Komisch! Ich klickte mich durch den gesamten Ordner an Bildern, die allesamt Laras und meine Kindheit zeigten: Lara und ich glücklich und zufrieden auf einer Krabbeldecke, Lara und ich lachend in einer Wiege, Lara und ich eng aneinander gekuschelt in einer Baby-Wanne. Auf einigen Bildern war immer wieder der kleine Junge zu sehen. Vielleicht war er ein Nachbarskind oder der Sohn von Freunden ihrer Eltern? Ich konnte mich nicht an ihn erinnern. Klar war jedenfalls, dass die Sache ernst zu nehmen und ein Fall für die Polizei war. Also versuchte ich, wie geplant den Notruf zu rufen. Doch es klappte nicht: Kein Empfang! Mist! Ich durchwühlte meine Tasche, auf der Suche nach meinem eigenen Handy, als mir plötzlich einfiel, dass es zuhause auf der Kommode lag. Ich dachte, dass ich es am Tag der Beerdigung sowieso nicht brauchen würde. So blieb mir wohl nichts anderes übrig, als zu Fuß zur Polizeiwache zu gehen. So oder so musste ich hier weg – und zwar schnell! Doch als ich das Handy einpackte und loswollte, zuckte ich vor Schreck zusammen. Hinter meinem Rücken hörte ich Schritte, die sich näherten, und eine fremde Stimme: „Kann ich dir helfen?“ Ich drehte mich um und blickte in das freundliche, charismatische Gesicht eines Mannes, der eine grüne Latzhose, ein Paar verdreckte Arbeitsschuhe und ein Cape trug. Ganz offensichtlich war er der Friedhofsgärtner. „Ich bin Gerrit“, stellte er sich vor und gab mir die Hand. Entsetzt starrte ich ihn an. Erst als meine Schockstarre nach einer gefühlten Ewigkeit nachließ, konnte ich seine Hand schütteln. „Ich bin Zoe! Tut mir leid, bin gerade etwas neben der Spur. Es ist viel passiert“, stotterte ich verlegen und blickte auf Laras Grab-Loch. Er folgte meinem Blick und nickte betroffen. „Verstehe! Kanntest du die Verstorbene gut?“ Ich schluckte schwer. „Ja, sie war meine Schwester, Lara. Sie ist bei einem Auto-Unfall letzte Woche gestorben.“ „Davon habe ich gehört, mein aufrichtiges Beileid. Wenn ich etwas für dich tun kann, dann meld dich einfach bei mir. Ich bin jeden Tag hier, um die Gräber zu pflegen.“ „Danke, das ist nett von dir.“ Ich überlegte kurz, dann fügte ich schnell hinzu: „Du könntest mir tatsächlich einen Gefallen tun. Ich habe hier, am Grab, ein fremdes Telefon mit einer Drohung und Bildern drauf gefunden. Ich würde gerne die Polizei verständigen, habe aber mein Handy zuhause vergessen.“ „Oh, hört sich nicht gut an. Leider hab ich auch kein Telefon dabei. Meins liegt dahinten in der Gartenhütte“, sagte er und zeigte mit einem Finger auf einen etwa zehn Meter entfernt liegenden Schuppen. „Aber wenn du kurz mitkommst, dann geb ichs dir.“ Er lächelte mich freundlich an. „Dann los“, antwortete ich – froh darüber, jemanden gefunden zu haben, der mir schnell half ohne viele Fragen zu stellen. Als wir schließlich vor der Gartenhütte standen, bat er mich draußen zu warten. Während er das Handy holte, hörte ich ein Kramen und Fluchen, Gegenstände fielen zu Boden, aber ich dachte mir nichts dabei. Als er kurze Zeit später wieder raus kam, hielt er in der rechten Hand eine Schaufel, in der linken ein Handy. „So eine Unordnung da drinnen, wie soll man da nur das passende Werkzeug finden – geschweige denn ein kleines Telefon?“ Ich nahm das Gerät in die Hand und erstarrte mitten in der Bewegung. Es war das gleiche Mini-Handy, das ich in der Grablaterne gefunden hatte. Konnte das ein Zufall sein? Immerhin handelte es sich bei beiden Geräten um ältere Modelle, die sich heutzutage vermutlich niemand mehr kaufen würde – da war ich mir sicher. Entsetzt schaute ich ihn an. Er grinste. „Stimmt was nicht?“ „Das … das ist das gleiche Telefon, das ich am Grab meiner Schwester gefunden habe“, sagte ich mit zitternder Stimme. Er sagte nichts, nur sein Grinsen wurde breiter. Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf und Panik machte sich breit. Irgendwas war verdammt falsch an dieser Situation. Doch was? Hatte der Friedhofsgärtner was mit der Sache am Hut? „Tja, Zoe …“, legte er plötzlich los. „Haben deine Eltern dir nicht beigebracht, dass man fremden Leuten niemals trauen sollte?“ Er lachte herzhaft, nahm seine Schaufel fest in beide Hände, holte aus und schlug gegen meine Kniekehlen, sodass ich schmerzhaft zu Boden ging.

 

Die dunkle Seite
Nun lag sie – gefesselt und geknebelt – in der Schubkarre der kleinen Gartenhütte und wimmerte leise vor sich hin. Leicht hatte es mir das Miststück nicht gemacht. Sie schrie, biss und trat um sich, aber ich war schneller und stärker. Nachdem ich ihr mehrmals Schläge mit meiner Schaufel angedroht hatte, gab sie schließlich Ruhe. Sehr gut, nur so konnten wir uns ungestört unterhalten. Tränen liefen ihre Wangen hinab, als ich ein weißes Tuch über ihren Körper legte und etwas Erde drüber schüppte – nur, damit man ihre Gliedmaßen nicht auf den ersten Blick erkannte, falls sich ausnahmsweise doch mal jemand in die hinterste Ecke des Friedhofs verirrte. „Vermutlich fragst du dich, wer ich bin und was ich will. Ich erzähls dir!“ Sie versuchte zu schreien, doch brachte nur ein gedämpftes Quieken heraus. Das Tuch, das ihr Maul stopfte, erfüllte voll und ganz seinen Zweck. „Zunächst einmal … hast du natürlich recht gehabt: Mein Telefon ist das gleiche Telefon, das du auf dem Grab deiner Schwester gefunden hast. Ich war es, der die Nachricht geschrieben und die Kinderbilder hochgeladen hat. Und ich war es auch, der das Telefon versteckt hat. Von meiner Gartenhütte aus hatte ich dich immer bestens im Blick.“ „Warum?“, stieß sie mit nuschelnder und zugleich weinerlicher Stimme hervor. „Warum? Ja, das ist die entscheidende Frage. Doch bevor ich dir das beantworte, möchte ich dir eine Geschichte erzählen. Du wirst noch früh genug begreifen, was uns verbindet“, entgegnete ich forsch, während ich vor der Schubkarre auf und ab ging. Viel Platz war in der Hütte nicht, doch es half mir, mich auf meinen Plan zu konzentrieren und meine Worte gezielt auszuwählen. „Als ich klein war, haben meine Eltern oft im Sommer gegrillt. Es gab Fisch-Spezialitäten, Würstchen oder Gemüsespieße. Danach saßen wir auf der Hollywoodschaukel, aßen und spielten zusammen Spiele. Das war echt schön.“ Ich machte eine kurze Pause, atmete tief durch und setzte dann erneut an. „Doch einige Monate später veränderte sich mein Leben von Grund auf. Meine Eltern gaben mich in eine psychiatrische Anstalt, weil ich angeblich verhaltensauffällig war. Dabei bin ich bloß mit meinem Kaninchen im Planschbecken auf Tauchkurs gegangen.“ Dieser Gedanken zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht, doch ich musste ernst bleiben. „Tja Zoe, leider fanden meine Eltern das gar nicht witzig, sodass sie mich kurzerhand abschoben – vom Himmel in die Hölle. Dort wurde meine gute Seele gequält und verbrannt – so lange, bis nur noch Asche übriggeblieben war.“ Zoe starrte mich mit weit geöffneten, angsterfüllten Augen an. „Lass mich gehen“, nuschelte sie. „Was sagst du?“, fragte ich. „Lass mich gehen“, brachte sie gequält hervor. „Achsooo, das meinst du! Gleich werden wir gehen, ja. Aber jetzt bin ich noch nicht fertig mit dir. Denn das schlimmste an der Sache war, dass Lara und du ein fabelhaftes Leben führen konntet, während ich in der Hölle litt.“ Als Zoe ihren Namen hörte, schreckte sie hoch. „Ihr wart immer süß und unschuldig, wurdet von ganzem Herzen geliebt, habt eine erstklassige Ausbildung genossen, konntet Urlaub am Meer und in den Bergen machen, habt Geburtstage mit Freunden gefeiert und entspannte Familienabende zusammen verbracht. Doch damit ist Schluss. Ich möchte, dass alle am eigenen Leib spüren, was mir widerfahren ist.“ Wieder versuchte Zoe zu schreien, wahrscheinlich war das ihre Art zu antworten. „Halt die Klappe, du Miststück! Spätestens jetzt solltest du es begriffen haben: Ich bin dein Bruder! Und Brüder behandelt man mit Respekt“, schrie ich sie an. Das genügte und sie war still. „Was denkst du, wie deine Eltern und Lara tatsächlich gestorben sind? Ein Auto-Unfall war es jedenfalls nicht. Ich war es, der ihre Bremsen manipuliert hatte – und zwar so gut, dass kein einziger Bulle einen Mord vermutete.“ Bei dem Gedanken musste ich mir auf meine Schulter klopfen, das hatte ich wirklich grandios hinbekommen. „Allerdings ist mein lang geplantes Meisterwerk erst dann vollendet, wenn ich auch dein Leben ausgepustet habe. Puff, aus. Wie eine Friedhofskerze. Damit mir das gelingt, habe ich viel auf mich genommen – zum Beispiel bin ich letzte Nacht in diese Hütte eingebrochen, um die Gärtner-Klamotten zu klauen. Und das alles nur, weil ein Friedhof der perfekte Ort für einen weiteren „Unfall“ ist. Weißt du auch, warum das so ist? Nein? Ich verrate es dir: Niemand stellt Fragen, wenn ein Friedhofsgärtner sich nach einer Beisetzung um das Grab-Loch kümmert und es mit Erde auffüllt. Niemand!“ Dann sprang ich auf sie zu, packte noch ein paar Steine und Erdklumpen auf die Schubkarre, schnappte mir die Griffe und fuhr in Richtung Grab. Dort angekommen gab ich ihr mit aller Kraft einen Stoß in den Abgrund und begann, mit meiner Schaufel das Loch zu schließen. Denn wie heißt es so schön? Asche zu Asche, Erde zu Erde, Staub zu Staub …

Zoe
Ich stürzte in das Bodenloch und machte einen schmerzhaften Bauchklatscher auf Laras Sag. Der Geruch von Holz, Erde und Blut stieg mir in die Nase – das konnte ich trotz Verletzungen noch wahrnehmen. Doch erst als ein Haufen Erde auf mir landete und ein zweiter folgte, realisierte ich, was passierte. Ich zappelte und versuchte, die Fesseln zu lösen. Vergeblich! Ich wollte schreien, doch ich brachte kein vernünftiges Wort heraus. Klatsch, der nächste Haufen traf mich! Die Anstrengung des Tages hatte ihre Spuren hinterlassen und meine Kräfte schwanden dahin. Nun lag ich reglos da, hatte alle Hoffnung aufgegeben und ließ es über mich ergehen. Alles war so schnell gegangen, dass ich kaum Zeit hatte, das Gesagte zu verarbeiten. Stimmte es überhaupt, was er erzählt hatte? War er wirklich unser Bruder oder einfach nur ein Irrer, der aus der Psychiatrie geflohen war? Mein Leben lang war ich mir sicher gewesen, dass es immer nur Lara und Zoe, Zoe und Lara gab. Doch eines war auch klar: Wenn er nicht mein Bruder war, woher hatte er dann die Fotos, die nur meine Eltern besaßen? Klatsch! Der nächste Haufen fiel auf meinen Rücken. Dass erst sie bei einem Autounfall gestorben waren und kurze Zeit später meine Schwester durch das gleiche Missgeschick den Tod fand, kam mir schon immer suspekt vor. Mein Tod würde jedenfalls kein Unfall sein. Ich bin verfolgt, belästigt und zum Schluss ermordet worden – von einem Typ, der scheinbar mein Bruder war. Warum sollte das nicht auch für Lara und meine Eltern gelten? Mir kamen die Tränen und ich schloss die Augen. Wenn man eins uns eins zusammenzählte, ergab alles einen Sinn. Und ich war, unbewusst natürlich, ein Teil dieses schrecklichen Geheimnisses, das Gerrit mit dem Tod meiner ganzen Familie ausradieren wollte. Klatsch! Erde traf meinen Kopf. Schon bald würde ich meine Eltern und Lara wiedersehen. Doch bis es soweit war, standen mir unfassbare Qualen bevor. Ich spürte wie es Haufen um Haufen dunkler wurde. Die Luft, die mir noch blieb, wurde weniger und stickiger. Meine Gedanken verschwammen und mein Körper löste sich in Luft auf – so fühlte es sich zumindest an. Irgendwann dachte ich, dass meine Seele nun meinen Körper verlassen hatte und über dem Grab schwebte. Von oben konnte ich mein Sterben beobachten – wie eine Außenstehende. Und als plötzlich alles vollkommen schwarz wurde, wusste ich: Ich bin lebendig begraben worden und das war das Ende.

Später
„Wieder weg … noch nicht ganz sicher … Ursache unklar …“ Zoe hörte Stimmen, vermutlich Gesprächsfetzen, doch konnte sie nicht richtig zuordnen. Sie kamen ihr so fremd und doch so vertraut vor. Plötzlich knallte es laut – klang so, als hätte jemand eine Tür zugeschlagen. Wo zum Teufel war sie bloß? Sie blinzelte. Einmal, zweimal, dreimal. Erst nach mehreren Malen schaffte sie es, ihre Augen zu öffnen. Ein greller Lichtstrahl war auf sie gerichtet und leuchtete ihr mit maximaler Strahlkraft entgegen. Sie nahm einen Schatten, rechts von ihr, wahr. Plötzlich beugte sich die Silhouette über sie und fragte: „Wie geht es Ihnen?“ Zoe brauchte einen Moment, bis ihr Gehirn die Worte verarbeitet hatte. Anstatt die Frage zu beantworten entgegnete sie kraftlos: „Wo bin ich?“. Die Stimme räusperte sich. „In der Rosenholz-Psychiatrie. Wir mussten Ihnen ein Beruhigungsmittel spritzen, weil Sie wieder einen Anfall während der Therapiesitzung hatten“, erklärte die weibliche Stimme sanft. Zoes Kopf schmerzte. Das Licht war zu grell, sodass sie fürs erste ihre Augen wieder schloss. Nur langsam kamen Fragmente ihrer Erinnerung zurück, die sie zu einem schlüssigen Bild zusammensetzen musste – wie Teile eines Puzzles. Wenn sie sich tatsächlich in der Psychiatrie befand, musste die Stimme ihrer Ärztin gehören. „Was ist in der Sitzung passiert, Frau Kleemann?“, fragte Zoe nach einer Weile. Diese stieß einen erleichterten Seufzer aus und antwortete: „Sie haben mir, wie bei jeder Sitzung, von Laras Beerdigung erzählt.“ Aaah, Beerdigung – das war das Stichwort. Jetzt fiel ihr alles wieder ein. Das Kaffeetrinken, das Erdloch mit Laras Sag, die Gartenhütte und alle anderen schrecklichen Dinge, die dieser Tag mit sich gebracht hatte. Sie wollte das alles nur vergessen, am liebsten ganz tief schlafen, doch Frau Kleemann schien nicht locker zu lassen. „Wir müssen dringend über den weiteren Verlauf Ihrer Therapie sprechen“, sagte sie irgendwann. Zoe öffnete die Augen, dieses Mal klappte es ohne weitere Probleme, denn der Scheinwerfer, der auf sie gerichtet war, war weg. „Okay, wenn Sie meinen …“, entgegnete sie zögerlich. Frau Kleemann lächelte ihr aufmunternd zu. „Gut, dann fasse ich mal zusammen: Sie haben heute zum wiederholten Male erzählt, dass ihr Bruder Gerrit ihre Familie umgebracht hat und auch Sie, verkleidet als Friedhofsgärtner, am Tag der Beisetzung Ihrer Schwester Lara ermorden wollte. Nach wie vor berichten Sie dabei sowohl aus Ihrer eigenen Perspektive als auch aus der Sicht Ihres Bruders. Das bedeutet, dass Sie nun zum wiederholten Male Ihre Persönlichkeit gewechselt haben.“ Zoe kamen die Tränen, sodass Frau Kleemann es für das Richtige hielt, eine kurze Pause einzulegen. Sie gab ihr ein paar Minuten Zeit, ihre Worte zu verarbeiten. Danach sprach sie weiter. „Allerdings entspricht das nicht ganz dem wahren Tathergang, Zoe. Die Wahrheit ist, dass Sie als Kind hier in der Psychiatrie eingeliefert wurden. Ihre Eltern baten mich voller Verzweiflung um Hilfe, nachdem Sie Ihr Kaninchen im Planschbecken ertränkt haben. Es war schwer, das zu verarbeiten. Also sind Sie ausgebrochen, um sich an Ihren Eltern und Ihrer Schwester Lara zu rächen. Zum Schluss konnten Sie Ihre eigenen Gedanken und Schuldgefühle nicht weiter ertragen, sodass Sie in Ihrer Fantasie eine neue Figur als Schuldigen erfanden, eine Überdosis an Drogen nahmen und in das Grab-Loch Ihrer Schwester sprangen. In letzter Minute wurden Sie gerettet.“ Während Frau Kleemann sprach, beobachtete sie Zoe. Sie schien vollkommen klar im Kopf zu sein, doch verzog keine Miene. „Verstehen Sie, was ich sage und worauf ich hinauswill?“, fragte die Ärztin mit Nachdruck. Zoe überlegte und sagte schließlich: „Ja, ich verstehe!“ „Dann möchte ich Ihnen eine letzte Frage stellen.“ Frau Kleemann schaute nun direkt in die glasklaren, blauen Augen ihres Gegenübers. „Wer hat Ihre Eltern und Lara umgebracht?“ Für einen kurzen Moment zögerte Zoe, dann schloss sie die Augen und antwortete: „Gerrit!“

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