Filomena OrsiWenn nicht ich dann du

Die Straßen waren um die Uhrzeit zum Glück noch leer. So konnte keiner sehen in welchem Zustand ich nach Hause laufen muss. Die Sonne warf schon ihre ersten Strahlen auf die Pflaster des Gehwegs, aber die Nacht hing in Form von einer erfrischenden Kälte in der Luft, als ich endlich die Eingangstür zu dem Plattenbau erreichte, in dem sich meine Wohnung befand. Ich suchte, von dem Restalkohol in meinem Blut noch etwas benebelt, meinen Schlüssel in meinen tiefen Jackentaschen. Als ich ihn endlich in der Hand hielt, kam gerade unser neuer Hausmeister mit entschlossenen Schritten auf mich zu. Er begrüßte mich mit einem leichten Kopfnicken und vermerkte nebenbei, dass ich ihn noch in sein Büro begleiten solle, da ich am Vortag mein Handy liegen ließ. Ich hatte noch nie einen Filmriss, aber ich konnte mich nicht erinnern, dass ich an besagtem Tag beim Hausmeister gewesen sein soll, ich kannte ihn doch noch gar nicht wirklich. Habe ich wirklich so viel getrunken? Ich folgte ihm in sein kleines Büro im ersten Stock, wo er mir das Handy reichte. Ich dankte ihm mit einem Hauch von einem Lächeln und machte mich auf den Weg zu meiner Wohnung, die sich drei Stockwerke weiter oben befand. Leicht außer Atem erreichte ich endlich, müde und erschöpft, meine weiße Wohnungstür. Doch als ich den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, fiel mir auf, dass die Türe einen leichten Spalt geöffnet war. Ich fing an, an mir selbst zu zweifeln als ich die Wohnung betrat und mich mehrmals vergewisserte, die Türe wirklich geschlossen zu haben.
Ich warf mich sofort in mein kuschliges Bett und wollte gerade meiner besten Freundin schreiben, dass ich sicher nach Hause gekommen war. Also zog ich den Anschaltknopf bis der gewohnte Lichtblitz mein Gesicht in das süchtig machende Blaulicht tauchte, aber etwas war anders. Statt meines normalen Sperrbildschirms wurde mir ein Bild aus meiner Galerie angezeigt. Ich tanzte mit meiner besten Freundin, das Foto musste heute Nacht entstanden sein, glaube ich. Darunter lief ein Countdown. 11:45:55; 11:45:54; 11:45:53, tick tock. Vielleicht hatte sich einer der Gäste gestern Abend einen Scherz erlaubt, dachte ich. Aber das Bild und der Countdown wollten auch nicht nach mehreren Ein- und Ausschaltversuchen von meinem Bildschirm weichen. Ich stand auf und wollte aus meiner Jackentasche den Zettel mit der Festnetznummer meiner Freundin angeln, die ich für Notfälle immer bei mir trug. Und da lief mir ein kalter, gänsehauterregender, Schauer über den Rücken. Innerhalb von Sekunden verspannte sich jeder einzelne Muskel in meinem Körper, der Schreck bewirkte blitzschnelle Nüchternheit. Denn was ich aus meiner Jackentasche zog war nicht die Festnetznummer, sondern mein Handy. Es lies sich wie gewohnt anschalten. Mein Sperrbildschirm war noch derselbe wie gestern Abend. Es schossen unzählige Fragen durch meinen Kopf. Wessen Handy lag auf meinem Bett, warum war ein Bild von mir darauf, wieso dachte der Hausmeister es sei meins und viel wichtiger noch, was würde passieren, wenn der Countdown zu Ende gezählt hatte?
Der Hausmeister, schoss es mir durch den Kopf. Von ihm kam das Handy, also musste er etwas damit z tun haben. Ich stieg die Treppen hastig hinunter und klopfte ungeduldig an seine Bürotür. Er rief mich mit einem etwas genervten Ton herein. Offenbar las er gerade eine Zeitung und wollte nicht gestört werden, aber das war wichtig, oder war es das?
Auf die Frage, was genau ich gestern von ihm wollte, sah er mich etwas ungläubig an, als würde ich ihn auf den Arm nehmen wollen. Als ihm bewusst wurde, dass mir nicht zu scherzen zumute war, berichtete er, wie ich mir am gestrigen Nachmittag einen neuen Hausschlüssel habe anfertigen lassen, weil ich meinen alten verloren hatte. Wo ich danach hingegangen sei, wusste er nicht mehr genau. Das nächste Mal als er mich gesehen hatte war vorhin. Als er wissen wollte, warum ich so aufgewühlt war, trugen mich meine schnellen Schritte bereits zurück nach oben. Ich nahm das Handy mit dem laufenden Countdown und verließ das Haus. Ich wusste nicht wonach ich suchen sollte, da bekam ich auf das falsche Handy eine Nachricht.
Ich weiß was du getan hast.
Die Panik, die sich in meinem Bauch ausgebreitet hatte, vernebelte jetzt auch meinen Kopf. Ich konnte keinen Gedanken zu Ende führen. Alles was mich füllte waren die unbeantworteten Fragen, die ich mir wegen diesem blöden Handy stellen muss. Wenn man mich in diesem Augenblick auf offener Straße gesehen hätte, und ich weiß, dass immerhin du mich gesehen hast, wäre der Anblick ein Chaos gewesen. Ich wusste nicht wohin mit mir, aber dann sah ich dich in meinem Augenwinkel. Du warst im Parkkomplex gegenüber des Plattenbaus auf einer Bank. Ich hatte noch nie jemanden auf dieser Bank gesehen. Erst recht nicht mit einer Schildmütze und einer Sonnenbrille um sechs Uhr morgens. Die Unentschlossenheit auf dich zuzugehen oder vor dir wegzurennen zerriss mich innerlich. Beim zweiten Hinsehen warst du verschwunden. Ich redete mir ein es sei nur eine Einbildung gewesen und ging zurück in meine Wohnung. Aus meiner Küche aus schaute ich neugierig aus dem Fenster um einen Blick auf die Bank im Park zu werfen, aber von dir war keine Spur. Stattessen fiel mein Blick auf die Spiegelung im Fenster. Ich sah deinen Schatten direkt hinter mir. Mein Körper zog sich krampfhaft zusammen, bevor er sich, wie von einem Blitz getroffen umdrehte, nur um zu sehen, dass du verschwunden warst. Aber du hast etwas für mich hinterlassen. Ein großer Briefumschlag lag auf dem Küchentisch. Beim Öffnen des Umschlags lief mir eine warme, rote Flüssigkeit über die Handfläche. Ich brauchte eine Weile um zu realisieren, was es war, aber als es dann soweit war, konnte ich mein Mageninneres nicht mehr länger in mir halten. Wer war so krank und schickte mir noch warmes Blut und was soll das bitte bedeuten?
Ich lies mir ein Bad ein, damit ich das Blut und gleichzeitig auch den Kater wegwaschen konnte. In der Hoffnung, dass mir ein wenig mehr Erinnerung an den letzten Abend offenbart wird. Aber leider half alles nichts. Ich konnte mich noch genau daran erinnern wie ich zur Feier fuhr und dort meine Sachen ablegte und sofort dazu angehalten wurde bei einem Trinkspiel mitzumachen. Ab da verschwimmen die Erinnerungen.
Ich beschloss mir etwas Bequemes anzuziehen und ins Bett zu schlüpfen, vielleicht war dieser Verfolgungswahn vorüber, wenn ich ausgeschlafen war. Ich schaute zur Sicherheit nochmal nach, ob die Tür wirklich verschlossen war und ziemlich kurz darauf fielen meine schweren Augenlieder zu.
Ruhiger Schlaf ist nach Definition zwar etwas anderes, aber ich war ausgeruhter als davor, als ich mich aus meinem Bett schwang um den Tag noch zu retten. Mittlerweile stand der Countdown auf 02:17:30. Noch etwas mehr als zwei Stunden hatte ich Zeit herauszufinden, was hier gerade passiert. Also versuchte ich so klar wie möglich zu denken. Ich tat das, was ich immer tat wenn ich nervös war. Ich spielte an meinem Schlüsselbund, denn das Klirren des Metalls beruhigt mich auf eine eigenartige Weise. Als ich meine Hände dabei beobachtete, wie sie mit dem Schlüssel spielten, fiel mir ein kleines Detail auf, das mir früher hätte auffallen müssen. Der Wohnungstürschlüssel, der sich an meinem Bund befand, war schon alt und zerkratzt. Der Schlüssel den ich grade in den Händen hielt wurde also kaum gestern erst angefertigt. Also muss es eine Person geben, die meine Identität gestohlen hatte, aber warum? Warum brauchtest du einen Schlüssel zu meiner Wohnung?
Mir wurde bewusst, dass ich ein leichtes Opfer war. Ich lies mich durch einen dummen Streich mit Blut in der Post und einem nachgemachten Schlüssel terrorisieren wie eine hilflose Schildkröte, die auf dem Rücken gelandet war. Das Schloss kann man austauschen. Du kommst hier nicht mehr rein, egal wer du bist. Da beschloss ich dem Hausmeister ein neues Schloss in Auftrag zu geben. Nachdem das erledigt war, blieb mir nichts anderes übrig wie ein aufgelöstes Nervenbündel in der Wohnung auf und ab zu gehen. Dann war der Zeitpunkt gekommen. Das Ende des Countdowns rückte immer näher.
Ich lief zurück zum Küchentisch, wo der Countdown nun auf etwa zehn Minuten stand. Ich wollte wegrennen und konnte mich gleichzeitig nicht bewegen. Ich sah den Minuten zu, wie sie langsam verstrichen. Die letzten Sekunden waren die Härtesten. Zehn – kalte Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Stirn. Fünf – ich biss mir meine Unterlippe blutig. Vier – meine Finger kratzten die Haut von den Fingernägeln. Drei – Die Schnappatmung trat ein. Zwei – der Eisengeschmack in meinem Mund verbreitete sich. Eins – Ich war kurz davor mich zu übergeben. Null. Die Zeit hielt für eine halbe Ewigkeit an. Mein Herz setzte aus, der Bildschirm wurde Schwarz. Und dann tauchte es auf. Es war ein Video. Man konnte mich unschwer darauf erkennen, da ich weinend in die Kamera schaue. Doch das ist nicht das Zentrum des Videos. Das Aufmerksamkeitserregende an dem Video ist, dass ich auf einem Feld kniee und mich mit einem Messer über einen Körper beuge. Der Körper ist regungslos, fast erstarrt. Meine Arme waren voll getrocknetem Blut. Es zeigt im groben Verlauf mich, wie ich mich von dem Körper entferne und das Messer an mir abwische und auf die Kamera zugehe. Dann endet das Video in einem schnellen Ruckeln. Ich konnte meinen Blick von der Dauerschleife nicht lösen. War ich wirklich in der Lage gewesen einem Menschen das Leben zu nehmen? Kaltblütig und Gleichgültig mit einem Küchenmesser? Das passiert doch höchstens im Film. Mehrere Dutzend Male versuchte ich auf dem Video zu erkennen, wer der reglose Körper war und ob er sich doch noch bewegte und ich es nur übersehen hatte. Doch nichts. Das einzige, das ich ausmachen konnte, war das der Körper weibliche Rundungen aufzuweisen scheint, er aber nicht ganz zu erkennen ist, weil er mit dem Rücken zur Kamera auf dem Boden liegt.
Es war schon Abend, als mich ein Klopfen an der Tür aus meiner Trance weckte. Es war der Hausmeister, der das neue Schloss anbringen wollte. Er bemerkte wohl, dass ich sehr angespannt war und fragte deshalb nach. Ich wusste nicht so recht, was ich ihm antworten sollte, da ich schlecht sagen konnte, dass ein komisches Mordvideo von mir aus letzter Nacht aufgetaucht war, also log ich. Ich erzählte ihm, dass es mir seit gestern Abend nicht so gut ging. So dachte er wenigstens ich wäre zu Hause geblieben und hätte niemanden erstochen.
Das Handy vibrierte. Ich wusste es war eine Nachricht von dir, also verließ ich den Raum um sie zu lesen.
Nordufer 20 um 22 Uhr. Ich warte auf dich.
Ok, ich musste herausfinden wer du bist. Also rief ich meine Freundin an um sie zu fragen, ob sie weiß, was ich an der Feier vergangene Nacht gemacht habe und mit wem ich unterwegs war, aber sie nahm das Telefonat nicht an. Es klingelte bis zur Mailbox. Mehr als eine Nachricht hinterlassen konnte ich nicht. Es war mittlerweile 18:50 Uhr. Zum Nordufer brauche ich eine halbe Stunde. Langsam wurde ich nervös. Ich packte die beiden Handys, meinen Schlüssel und meine Bahnkarte ein, damit ich auf dem Hinweg noch nach meiner Freundin sehen kann.
In der Bahn hatte ich das Gefühl etwas vergessen zu haben. Als mir einfiel wohin ich gerade ging, schoss mir meine Wohnungstür in den Kopf. Ich war mir nicht mehr sicher ob ich abgeschlossen hatte. Der Gedanke an mein neues Schloss konnte mich nur teilweise beruhigen, da ich mir nicht sicher sein konnte ob du es nicht auch geschafft hast dir einen weiteren Schlüssel nachmachen zu lassen. Meine Hoffnung darauf, dass du schon am Treffpunkt auf mich warten würdest besiegte meine aus Angst geschaffenen Zweifel. Meine immer lauter werdenden Gedanken wurden von der Stationsdurchsage in der Bahn unterbrochen. Ich entschloss mich auszusteigen und die letzte weitere Station zu meiner Freundin zu laufen, da ich noch etwas Zeit hatte und dachte, dass mir die frische Luft guttun würde.
Als ich die Wohnung meiner Freundin erreichte fiel mir auf, dass ihr Fahrrad, mit dem sie gestern zur Feier gekommen war, nicht an der gewöhnlichen Stelle abgeschlossen stand, also war sie vermutlich nicht zuhause. Ich fragte mich, warum sie sich noch nicht bei mir gemeldet hatte. Ich klingelte mehrmals und wartete auf eine Reaktion, doch wie erwartet war sie nicht da. Also entschloss ich mich schlussendlich weiterzugehen. Mir blieb noch genug Zeit um zum Treffpunkt zu kommen, deshalb ging ich noch ein wenig zu Fuß.
Als ich mich noch einmal nach dem fehlenden Fahrrad umsah, erblickte ich dich für einen kurzen Moment. Das wurde mir jedoch erst bewusst als ich darüber nachdachte woher mir die Schildmütze und die Sonnenbrille bekannt vorkamen. Ich schwang herum, aber du warst nicht mehr zu sehen. Ich dachte darüber nach, aus welchen Gründen du mir wohl folgen würdest.
Bei der nächsten Bahnstation stieg ich wieder ein. Jetzt konnte ich mich ausschließlich darauf konzentrieren wer sich in meinem näheren Umfeld befand. In meinen Augenwinkeln bildete ich mir immer wieder ein dich zu sehen, aber dem schien nicht so nachdem ich genauer hinsah. Ich sah nur einige wenige Menschen, die wohl ihren abendlichen Aktivitäten nachgingen. Ich machte mir einige Gedanken darüber wie gerne ich jetzt zuhause sitzen und mit einem Teller Nudeln meine Lieblingsserie schauen würde statt auf dem Weg zu einem Treffpunkt mit einer Person zu sein, die mir Blut in einem Briefumschlag geschickt hatte.
Ich wurde aus meinem Sofaabend in meinem Kopf gerissen als das Handy wieder vibrierte. Es erschien wieder eine Nachricht.
Sieh dich nicht nach mir um.
Jeder kennt diesen Moment, indem man dazu aufgefordert wird etwas explizit nicht zu tun. Aber genau dann will man es umso mehr. Das war ein solcher Moment. Ich ertappte mich immer wieder bei dem Versuch einen Blick auf die Spiegelungen der Fenster zu erhaschen, die mir offenbaren sollten, wer der anonyme Texter war. Daraufhin versuchte ich mich mit meinen Fotos von der Feier abzulenken, für die ich heute noch keine Zeit gefunden habe. Ich scrollte mich durch meine Galerie, bis ich ein Bild fand auf dem ich eine spezifische Schildmütze erkannte. Leider war sie nur einmal etwas unscharf zu sehen, aber immerhin wusste ich jetzt, dass ich mir deine Erscheinungen heute nicht eingebildet haben kann.
Als die Bahn Nordufer erreichte, stieg ich langsam aus und meine Nervosität stieg umso schneller an. Ich wusste in etwa wo sich mein Ziel befinden würde, deshalb lief ich einfach los. Mir wurde Bewusst wo du mich hinführtest, als ich am großen Parkhaus vorbeilief. Viele Menschen waren hier unterwegs. Ich fragte mich warum du einen so öffentlichen Ort gewählt hast, aber das sollte sich mir noch erklären.
Ich war mir zuerst nicht ganz sicher, ob ich dich sehen würde, aber jetzt stehst du da und schaust mich trotz Sonnenbrille eindringlich an. Du kommst die letzten Schritte auf mich zu und hakst dich bei mir ein als wären wir die besten Freunde. Du führst mich mit leichten, aber dennoch entschlossenen, Schritten zur vierten und letzten Etage des Parkhauses, auf der einige Tische mit Bänken stehen. Wir setzen uns gegenüber an einen Tisch. Ich weiß nicht was ich zu dir sagen soll, also fängst du an.
„Weißt du wer ich bin“
„Nein, ich kenne dich nicht.“
„Ich will dir erzählen wie du mir mein Leben gestohlen hast. Setz dich bequem hin, denn die Geschichte wird sehr ungemütlich für dich.“
Deine Stimme klingt sehr weiblich, doch die Schildmütze und große Sonnenbrille geben nicht viel von deinem Gesicht zu erkennen also höre ich nur zu.
„Du scheinst eine ziemlich wohlhabende junge Frau zu sein. Bestimmt hast du dich schon einmal gefragt wie es sich deine Eltern leisten können dir deine Wohnung im Stadtzentrum und deine Studiengebühren inklusive verschwenderischen Freizeitaktivitäten finanzieren können, obwohl dein Vater ein einfacher Fabrikarbeiter und deine Mutter Erzieherin ist, nicht wahr? Es scheint dir an nichts zu fehlen, hast du dich noch nie gefragt woher das alles kommt?“
„Woher weißt du das alles?“
„Nun ja, deine Eltern haben eine kleine Dienstleistung erbracht, die ihnen von sehr mächtigen und reichen Menschen mit offenen Armen für sehr viel Geld abgekauft wurde. Du warst ein unausgesprochen wichtiger Teil davon. Du hast deinen Eltern das langersehnte Reichtum erbracht, wovon sie sonst nur hätten träumen können.
Ich nehme dich gerne mit auf eine Zeitreise in das Jahr in dem du geboren wurdest. Du wurdest nicht in einem normalen Krankenhaus geboren, sondern genau hier in diesem Biochemischen Forschungslabor. Aber die Geschichte geht noch einige Monate zurück. Als du noch aus nur eine Zelle warst, waren deine Eltern finanziell derartig beschränkt, dass sie sich keine Krankenversicherung leisten wollten. Also suchten sie nach einer Alternative. Gewisse Leute waren bereit deinen Eltern lebenslänglichen Schutz zu bieten. Dafür wollten sie nur das Recht deine Geburt etwas zu modifizieren. Du als Fötus warst schon eine Bedrohung für mich. Bei deiner Geburt wurdest also nicht nur du geboren, sondern auch ich.“
Du nimmst deine Schildmütze ab und deine gewellten, lange braune Haare fielen dir auf die Schultern. Sie erinnern mich fast sogar an meine eigenen Haare, die die gleiche Form haben. Und jetzt greifst du zu deiner Sonnenbrille. Es läuft wie in Zeitlupe. Je mehr deines Gesichts zum Vorschein kommt, desto größer wird mein Entsetzen.
„Erkennst du mich vielleicht wieder?“
Das ist unmöglich. Du hast mein Gesicht. Warum hast du mein Gesicht?
„Wie gesagt wollten die Geldgeber nur eine kleine Modifizierung vornehmen. Wie sich herausstellte, war ich die Modifizierung. Ich bin ein Ebenbild von dir. Eine Kopie. Ein Klon. Du kannst dir also vorstellen wie es weiter geht. Du gehst nach Hause mit deinen reichen Eltern und ich bleibe im Labor. Mein Leben lang. Meine Kindheit und Jugend bestanden aus Blutabnahmen, Stuhlproben, Sporttests, neurologischen Untersuchungen und weiteren Forschungsmaßnahmen, die mein Leben freudelos und schwer machten. Ich wollte auch nur Freunde und Familie, zur Schule gehen und ein normales Leben haben. Was habe ich stattdessen bekommen? Ich war ein Experiment. Eine Nummer in einer Akte. Während du das Reichtum deiner Eltern verschwenden durftest, musste ich Skalpelle und Spritzen über mich ergehen lassen. Und daran schuld warst du. Wenn du nicht gewesen wärst, hätten sich deine armen Eltern auch nicht nach mehr Geld gesehnt. Ich hätte dieses Leben nicht führen müssen.“
Ich kann es nicht glauben. Du hat mein Gesicht. Du bist ich. Der Hausmeister hat dich gesehen und gedacht du seist ich. Du hast den Mord begangen und es so aussehen lassen als sei ich es gewesen.
„Warum bist du nicht früher zu mir gekommen?“
„Ich konnte erst vor einigen Wochen aus dem Labor entkommen. Jetzt will ich dich leiden sehen, so wie ich leiden musste.“
„Warum das Video und warum das Blut?“
„Siehst du denn nicht? Ich will das du an meiner Stelle stehst. Du wirst dir noch wünschen du wärst nie geboren.“
Du stehst auf und wendest dich zum Gehen
„Warte, willst du mir keine Antwort geben?“
„Warte noch ein wenig, lass die Umgebung auf dich wirken und denke etwas nach, dann kommt die Antwort ganz von allein. Gute Nacht.“
Du bist weg. Ich kann gar nicht glauben, dass das wahr sein kann. Ich dachte Klone wären was fürs Science-Fiction Abenteuer im Kino und jetzt das? Ich genieße noch etwas die frische Nachtluft, den Wind, der sich auf meiner Haut wie kalte Freiheit anfühlt und die Hektik der Menschen, die hier arbeiteten und entweder zu ihrer Nachtschicht antreten oder ihren Feierabend mit fröhlichen Schritten zum Auto feierten.
Ich hätte dir besser zuhören sollen, denn du hast mir deinen Plan verraten auch wenn ich ihn zuerst nicht verstanden habe. Vier große Männer kamen entschlossen auf mich zu. Sie blieben unmittelbar vor mir stehen. Einer von ihnen baute sich vor mir auf. Auf meinen fragenden Blick kamen nur Worte die ich weder fassen konnte noch wollte.
„Klon Nummer 295, Sie werden in ihrem Zimmer erwartet.“
Zwei der Männer griffen mir grob an die Schulter und führten mich in das Innere des Forschungsinstituts. Ich konnte nichts sagen, weil ich nicht wusste wo ich anfangen sollte. Würden sie mir überhaupt glauben? Ich hatte wohl keine Rechte mehr. Ich hatte meine Identität verloren. Das einzige was ich jetzt noch wollte, war es zu wissen, wessen Leben für meine Inhaftierung im Versuchskabinett genommen wurde. Ich drängte die Angestellten so lange bis sie mir eine Antwort gaben, die mich innerlich zerriss. Ich brach zusammen. Alles was mich hielt waren die kalten, starken Arme meiner neuen Bewacher. Ich wollte weinen, schreien, rennen und nie wieder anhalten.
Sie war tot. Meine beste Freundin war tot. Ich wünschte mir, ich wäre nie geboren worden.

6 thoughts on “Wenn nicht ich dann du

  1. In dieser kurzen Zeit so viel Spannung aufzubauen, zeugt von außerordentlichem Talent! Sehr gute Schreibweise und nachvollziehbare Gedanken – und Handlungsstränge! Als Deutschlehrer ein Genuss zu sehen, dass junge Erwachsene so stilvoll und gekonnt mit der deutschen Sprache umgehen können! Da freut sich jeder auf mehr von dieser begabten Autorin!

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