Miriam SchwardtWER WIR NICHT SIND

02:38 Uhr

„Alter, warte mal kurz.” Erik blieb an der Garderobe stehen, während der Typ dahinter kurz verschwand. Er wollte den Nightliner kriegen, der in sechs Minuten fuhr, und sah ungeduldig auf seine Uhr. „Hab dein Handy gefunden”, freute sich der Garderoben-Typ. Er legte ihm mit einem strahlenden Lächeln ein schwarzes glänzendes Smartphone hin. „Das ist nicht meins”, erklärte Erik. „Echt nicht? Aber du hast doch vorhin gesagt, du hättest deins verloren?” Erik starrte den Typ kalt an. „Das war Henry.” 

„Also is’ es seins?” 

„Vielleicht”, murmelte Erik und nahm das Gerät in die Hand. Es war groß und neu. Ein Standardbild leuchtete ihm entgegen. Das war untypisch für Henry, der immer Fotos seiner Kumpels, seines Autos oder seines Lieblingsclubs als Hintergrund einstellte. Zu seiner Verblüffung entsperrte das Handy sofort. Allerdings gab es nicht seinen Homescreen preis, sondern die App, die als letztes genutzt worden war: Fotos. Eriks Finger verkrampften sich um das schmale Objekt, als er sich selbst erkannte. Dass Henry ab und zu Fotos im Club schoss, war nicht das, was Erik daran erschreckte. Das war Henry selbst, der neben ihm unter dem Neonlicht der Tanzfläche stand. Wer hatte dieses Foto gemacht? Sie waren erst vor zwei Stunden geschossen worden, eine Stunde bevor Henry nach Hause gefahren war. Erik scrollte weiter. Ein Dutzend Bilder von ihnen folgte. „Und is’ es Henrys?”, mischte sich der Typ hinter der Garderobe ein. Erik nickte geistesabwesend und hob zum Abschied kurz die Hand. „Jap, ciao.” 

Den Nightliner erwischte er gerade noch. Aber das war nicht weiter bedeutsam angesichts der anderen Bilder auf dem fremden Gerät. Da war er zu sehen, an der Haltestelle vor der Uni, auf dem Campus, bei seinem Motorrad – bei Edeka. Sein Puls ging schnell, als wäre er gerannt, und ihm brach der Schweiß aus, als ihm aufging, wer auf dieser Welt dahinter stecken konnte. Wenigstens war kein Bild von der Wohnung dabei. Sie waren sehr vorsichtig geworden, hatten untypische Routen gewählt oder Umwege. Unsicher warf Erik einen Blick durch den Bus. Er war nicht da. Erleichtert zog Erik sich seine Kapuze über den Kopf und wartete, dass endlich seine Haltestelle aufgerufen würde. 

In der Wohnung angekommen knallte er seine Schlüssel absichtlich laut auf den Flurtisch. „Henry?!”

„Was’n?” Sein Mitbewohner kam aus dem Bad. „Wir haben ein Problem”, kündigte Erik an. Sie schlappten in die Küche. Henry schloss vorsichtshalber die Tür hinter ihnen. 

„Was is’?”, fragte er leise. „Das hier”, Erik legte das  schwarze Smartphone auf den Tisch. Das Bild von ihnen beiden im Club blickte mit kaltem Leuchten zur Decke. 

„Das war vorhin”, murmelte Henry. Er sah erschrocken auf. „Fuck, denkst du …?”, ergänzte er.

„Ja.” Erik fuhr sich unbewusst über die Narbe an seinem rechten Auge. Er hatte damals Glück gehabt, nicht halbseitig erblindet zu sein. 

„Was machen wir jetzt?” 

Erik sah in Henrys Gesicht. „Selbst wenn wir …”

„Auf keinen Fall”, unterbrach ihn Henry barsch. Erik seufzte. 

„Selbst wenn, der macht mich kalt”,sagte er.

„Tja, Polizei geht aber halt nicht mehr.” Schon lange nicht mehr. „Ja”, flüsterte Erik und sah resigniert auf die zerfurchte Tischplatte. „Er ist nicht der, für den ihn alle halten, aber leider sind wir das auch nicht”, nuschelte Henry, der heute wohl ein Bier zu viel hatte. 

„Sehr poetisch.”

12:39 Uhr

Das alles – wie Erik es nur noch nannte, war seinem Hass, aber Henrys Gedankenwelt entsprungen. Es war ihnen weit über den Kopf gewachsen. Er warf seinem Mitbewohner einen skeptischen Blick zu, der mit einem feinen Lächeln auf einem pinken iPhone herum tippte. „Willst du nicht wenigstens die Case abmachen?”, kommentierte er. Henry nickte, ohne aufzusehen. Erik schnappte seinen Helm und verließ schlecht gelaunt die Wohnung.

Die Kawasaki war ein Geschenk seines Onkels gewesen, der stets versuchte, ihm unter die Arme zu greifen, seitdem sein Dad nicht mehr da war. Und das war er schon lange nicht mehr. Erik stieg auf die große Maschine und startete den potenten Motor, der selten auf seine Kosten kam. Meistens nahm Erik das Motorrad nur, um noch gerade so pünktlich zur Uni zu kommen, wenn er den Bus verpasst hatte, oder um zu seiner Mum zu fahren, die etwas abseits in Lichtenrade wohnte.

Erik bog in eine 30er Zone und verfluchte das Ampellicht, das bereits auf Gelb gesprungen war. Ein silberner Volvo tauchte in seinem Blickfeld auf, der nicht hinter ihm, sondern viel zu nahe neben ihm hielt. Die Ampel sprang wieder auf Grün. Erik fuhr an. Der Wagen schoss nach vorne und schnitt ihn. Erik bremste fluchend ab. Der Volvo setzte sich wieder in Bewegung. Erik hielt sich hinter dem Wagen. Am Ende der Straße riss der Fahrer sein Gefährt nach rechts herum, sodass es die Straße versperrte. Erik brachte mit einem sehr unguten Gefühl die Kawasaki zum Stehen. Doch der Fahrer dachte nicht daran auszusteigen. Er fuhr die Kurve aus und kam mit mindestens 40 Km/h auf Erik zu. Der konnte gar nicht mehr schnell genug reagieren. Er lenkte das Motorrad nach links und stieß sich vom Boden ab, um in die entgegengesetzte Richtung zu entkommen. Aber der Volvo hatte ihn eingeholt. Es krachte viel lauter, als Erik erwartet hatte. Der Wagen erwischte ihn längs, sodass die schwere Maschine unter Erik ihren Halt auf dem Asphalt verlor. Er spürte wie, die Kräfte des Aufpralls an ihm rissen und er über der Kawasaki auf dem geteerten Boden aufschlug. Der Helm fing den schlimmsten Schlag mit einem dumpfen Knall auf. Erik rollte sich ab und wollte sich aufrichten, als zwei Beine in schwarzen Anzughosen auf ihn zu hielten. 

„Wo ist sie!”, schrie ihn der Mann an. Erik rappelte sich auf, um auszuweichen, aber der Kerl hatte ihn bereits an der Schulter gepackt. „Meine Tochter! Was hast du mit ihr gemacht?”, brüllte er und riss an Eriks Jacke. Der war viel zu benommen von dem Unfall, um irgendeine verbale Reaktion zu zeigen. Er kämpfte nur schwach gegen die Arme des Mittfünfzigers. Sie hatten keine Zeugen. Es waren Ferien und die Schule auf der anderen Straßenseite lag verlassen da. Auch auf dem Gehweg gegenüber war niemand zu sehen, der Erik würde helfen können.

„Die Polizei sucht nicht nach ihr! 

Wie machst du das? Wie kann es sein, dass sie mir Nachrichten schickt und anruft, aber ich sie nicht finden kann?!” Die Verzweiflung in seiner Stimme wühlte etwas in Erik auf, das er diesem Menschen gegenüber nicht empfinden wollte. 

„Ich weiß, dass du sie hast!”, brüllte er Erik an und schüttelte ihn erneut. Doch im selben Moment gelang es Erik, sich zu befreien und einen Schritt nach hinten zu treten.

„Was hab ich getan, um das zu verdienen? Was hab ich dir getan?”, japste der Anzugträger. 

Erik klappte das Visier hoch.

„Das wissen Sie. Tun Sie nicht so, als wüssten Sie nicht genau, um was es geht.” Das Gesicht des Mannes zeigte Ekel und Verzweiflung. Aber er ließ die Arme sinken und beobachtete, wie Erik die Kawasaki aufrichtete und darauf Platz nahm. „Ich bring dich um”, flogen die leisen Worte zu Erik herüber. Das bezweifle ich nicht, dachte er. 

„Aber nicht bevor Sie nicht haben, was Sie wollen, oder? Und das schaffen Sie nie, wenn Sie immer nur Beobachter bleiben!”, hielt Erik ihm entgegen, startete den Motor und rauschte mit einer halben Drehung die Straße hinunter. 

Wie weit Richard Tober gehen würde, wusste Erik nicht sicher, aber er hasste ihn zu sehr, um sich damit auseinander zu setzen oder um ein Gespräch zu bitten. Dafür war es sowieso längst zu spät.

Er lief die Treppen zur Wohnung seiner Mum hoch. Sie wartete dort bereits im Türrahmen. Erik umarmte sie. Seine Mum erwiderte die Geste nur halbherzig. „Du hast Post.” 

„Echt.” 

Seine Mutter lächelte schief. „Nein, hab ich mir ausgedacht”, sagte sie und drückte ihm einen weißen Umschlag in die Hand. Es war einer dieser schlichten kleinen Umschläge, in denen man Postkarten verschickte. Erik riss ihn mit wachsender Nervosität auf. Niemand sandte ihm Postkarten.

Darin war ein Foto von ihm, wie er von der Kawasaki abstieg. Vor Mums Haus! Er drehte es um.

ICH WEIß WO DEINE MUTTER WOHNT, WER DU BIST, UND WENN DU MEINE TOCHTER NICHT BIS MORGEN UM 23:00 UHR NACH HAUSE BRINGST, WIRD DEIN LEBEN ENDEN. KEINE ANGST, DU WIRST DABEI SEIN UND ZUSEHEN, WIE ICH ALLES VERNICHTE, WAS DU BIST. DU KENNST MICH NICHT SO GUT, WIE DU DENKST, ABER MEINE RACHE WIRST DU NIE VERGESSEN.

Lauerte hinter den Worten nicht die Möglichkeit, dass sie sich bewahrheiteten, Erik hätte über ihre pathetische Wahl gelacht. 

Wer du bist. Tober wusste doch gar nicht, wer er war. Vielleicht erinnerte er sich daran, ihm die Narbe in seinem Gesicht verpasst zu haben. Aber sicherlich hatte er keine Ahnung, dass er ihm etwas ganz anderes kaputt gemacht hatte.

Der Schlag mit der abgebrochenen Flasche war nur der Katalysator gewesen. Für Eriks Hass, um Überhand zu nehmen, für Henrys Plan, der so irre wie genial war. 

„Kannst du mir meinen Pullover holen? Den grünen, der liegt auf dem Stuhl im Schlafzimmer”, bat Eriks Mum, die in der Küche stand und die Spaghetti im Auge behielt. Erik nickte, stopfte den Drohbrief in seine Hosentasche und nutzte die Gelegenheit, den Pullover zu holen, um Henry eine Nachricht zu hinterlassen. Als er sich nach dem Kleidungsstück umsah, streifte sein Blick die Bilder auf der Kommode. Er trat näher heran. Sein Herz raste, wie immer, wenn er es sah. Es stand nach wie vor hier. Das Bild von Dads letzter Tour. Auf dem Foto strahlte er vor Stolz, auf welchen Berg auch immer hochgekommen zu sein. Arm in Arm mit einem Mann in seinem Alter. Er war zurück gekommen. Dad nicht. Erik hätte gerne sein Gesicht ausgeschnitten und zerfetzt. Wie konnte seine Mutter das hier stehen haben? Wie ertrug sie es, jeden Tag in das Gesicht des Mannes zu blicken, der ihren Mann hatte sterben lassen?

Erik drehte das Bild auf den Bauch. Er hatte heute schon lange genug in Richard Tobers Visage geblickt. Er schnappte den Pullover und trat zu seiner Mum. Das Essen verlief recht schweigsam und er drängte darauf, schnell nach Hause zu fahren, weil Henry angeblich Hilfe beim Reifenwechseln benötigte. Er hätte sein Handgelenk im Fitnessstudio verstaucht

Die Qualität seiner Ausrede ließ zu wünschen übrig. Aber seine Mum hörte gar nicht richtig zu, sie nahm nur wahr, dass er nicht gerne Zeit mit ihr verbrachte. So ging das schon immer. Nur hatte sie jetzt recht, wenn sie sagte, sie kenne ihren eigenen Sohn kaum noch. Erik war froh, als er wieder auf der Kawasaki saß und in Richtung der WG-Wohnung bretterte.

Vor einem Jahr noch hätte er niemals damit gerechnet, einmal ein Geheimnis zu haben, das es so sehr verlangte, behütet zu werden, wie das, was Henry und er in seinem Schlafzimmer versteckten. 

15:46 Uhr

„Und jetzt?”, erkundigte sich Henry und legte den Drohbrief auf den Küchentisch. „Soll er doch kommen”, entgegnete Erik matt. Er wollte gehen, als ihn Henry mit seinen nächsten Worten zurück hielt: „Alter, der weiß, wo deine Mum wohnt! Machst du dir keine Sorgen?” 

Erik fuhr herum. „Doch. Mann. Der weiß seit 13 Jahren, wo meine Mum wohnt.” Henry nickte und sagte: „Aber jetzt droht er ihr.”

„Jah, ich weiß!”

„Was ist, wenn er dich das nächste mal aus Versehen umbringt?”, fing Henry an. Seine Stirn furchte sich noch tiefer. Erik erwiderte nichts. Er fürchtete, dass Tober genau darauf spekulierte. Aus Versehen. „Denkst du, der weiß mittlerweile, wo wir wohnen?” Erik stutzte.

„Ne, ganz sicher nicht. Dann wäre der längst hier.” 

„Gut.”

„Hm.” War das gut? Wäre es nicht besser, Tober käme und würde seine Tochter einfach wieder mitnehmen? War das nicht langsam zu groß für sie? „Zumindest glaubt ihm die Polizei immer noch nicht”, offenbarte Erik den einzigen Lichtblick, den das alles noch hatte. „Das wird den erst recht nicht aufhalten, was Krasses zu unternehmen”, zog Henry sprichwörtlich Vorhänge vor das Licht.

„Wir könnten natürlich …”, setzte er an und ein böses Funkeln trat in seine Augen. „Nein”, Erik schüttelte den Kopf. Manchmal erschreckte Henry ihn. Sie kannten sich seit der Schulzeit und doch gab es neuerdings häufiger Momente, in denen Erik das Gefühl hatte, seinen Freund überhaupt nicht zu kennen. 

Wer sind wir wirklich? Opfer unserer Umstände oder Meister unseres Schicksals? 

Das stand auf einer Postkarte in der Küche, die mittlerweile ihren Platz am Kühlschrank mit diversen anderen teilte und kaum noch zu sehen war. Erik vergaß dennoch nie, wie ihre Worte lauteten. Er stellte sich diese Fragen jeden Tag.

Richard Tober hatte ihm aufgelauert, in Lichtenrade, weil er wusste, dass seine Mum da wohnte. Hatte er sich im Büro krankgemeldet, um durch die Nachbarschaft zu fahren? In der Hoffnung, heute sei ein Tag, an dem der Student seine Mutter besuchte? Das erschien Erik zu wahnsinnig, zu willkürlich um irgendeiner Rationalität entsprungen zu sein. Wie weit würde Tober gehen? Waren sie darauf vorbereitet?

Er trat in sein Zimmer. Mara saß auf dem Bett. Der Fernseher lief. „Wir müssen reden.” 

Mara stellte augenblicklich den Ton aus und setzte sich aufrechter hin.

„Was ist passiert?” 

„Dein Dad hat mich heute angefahren. Er will mich umbringen, wenn ich ihm nicht sage, wo du bist.” 

„Das würde er nicht tun!”, ihre Augen weiteten sich erschrocken und sie rückte ein Stück näher zu Erik, der frustriert auf der Bettkante Platz genommen hatte. „Tja. Das alles. Ist ein scheiß Plan.” 

Mara lächelte traurig. „Glaub mir, er wird es verstehen.” 

Erik warf ihr einen zweifelnden Blick zu. Sie hielt ihn mit ihren brandyfarbenen Augen fest. „Glaubst du das wirklich?”, flüsterte er. „Auch jetzt noch?” 

„Ja.” 

Erik war sich sicher, dass Mara ihren Dad nicht so gut kannte, wie sie glaubte. Dass sie Verzweiflung nicht gut genug kannte, um die Taten eines Mannes vorherzusehen, dem man alles genommen hatte. „Er wird sich rächen”, sagte Erik fest. „Glaub mir.”

Henry platzte mit dem pinken iPhone herein. „Ruf mal schnell deinen Dad an und sag ihm irgendwas.” Mara sah von ihm zu Erik. „Los! Dein Dad muss hören, dass es dir gut geht. Verdammt! Du hast gesagt, er würde niemals jemandem wehtun! Heute war er aber ganz schön nah dran!”

Henry machte zwei schnelle Schritte auf Mara zu und packte sie am Arm, um sie vom Bett herunter zu ziehen. Erik ging dazwischen. „Lass sie, Mann!”

Mara las stirnrunzelnd die letzten Chatnachrichten mit ihrem Dad durch, die alle Henry geschrieben hatte. „Ich würde niemals sowas schreiben wie Daddy, das ist total süß von dir”, beschwerte sie sich. Henry hatte es wohl etwas übertrieben. „Hat dein Alter aber nicht bemerkt.” 

Mara seufzte und rief ihren Vater an. Tober nahm sofort ab. 

„Mara!”, hörten Erik und Henry ihn rufen, obwohl Mara sich das Telefon gegen ihr Ohr presste. 

„Wo bist du?”

„Dad mir geht’s gut. Mach dir keine Sorgen.” 

„Dir geht es nicht gut”, Tober weinte beinahe. „Du wirst irgendwo festgehalten und musst das sagen. Schatz. Aber ich werde dich finden. Gib mir Erik Lanter”, bat er. Mara sah zu Erik und versicherte: „Ich weiß nicht was du meinst. Mit Erik habe ich seit der Party keinen Kontakt mehr. Bitte, ich muss Schluss machen. Mach dir keinen Kopf.”

„Erik!”, brüllte er dumpf. Mara hielt sich das Handy vom Ohr weg. „Ich weiß, dass du da bist! Ich stehe vor der Wohnung deiner lieben Mutter. Wenn du nicht sofort mit Mara auftauchst, wirst du als Waise aus der Sache rausgehen”, seine Stimme brach am Ende. Es musste ihn alles kosten, diese Worte auszusprechen. 

„Ich bin bewaffnet.”

Er legte auf. Erik starrte in Maras Augen. „Die Pistole…”, entfuhr es ihr.

„Was?”

Mara sah schuldbewusst drein. „Du wusstest das?!”, schrie Henry. „Alter! Letztes Jahr hat dein lieber Papi Erik fast blind geschlagen und du tust so, als würde der natürlich niemals irgendwem was antun!”, Henry spuckte die Worte förmlich aus.

„Das habe ich nie behauptet. Ihr habt damals meinen Geburtstag gesprengt, okay? Mein Dad hatte Angst!”

„Er hatte Schuld…”, fing Erik an. „Nein, das war nur eure Schuld!”, Mara sprang auf. „Das meine ich nicht. Er hatte Schuldgefühle, weil er genau weiß, dass er nix getan hat damals.” Mara sah zu Erik hoch. „Das hast du selbst gesagt”, erinnerte er sie. Sie nickte geschlagen. „Wir müssen los!”, entschied Erik und schnappte seine Lederjacke. „Alter, denk erst mal darüber nach! Der kann deine Mum nicht einfach so erschießen, dann hat er die Cops am Hals!” 

Erik wirbelte zu ihm herum: „Alter, der kann sagen, dass er seit sechs Monaten erpresst wird und wir seine Tochter festhalten und die Übergabe schiefgegangen ist – was weiß ich! Er hat meine Mutter!”, schrie Erik voller Zorn seinen Freund an. „Wir können drohen, dass wir sie kalt machen, wenn er deiner Mum was tut?” Nein. Er sah Henry stumm in die Augen. „Was, wenn sie es am Ende so darstellt, dass wir sie wirklich entführt hätten?”, zischte Henry und drehte sich in bedrohlicher Manier zu der jungen Frau um. Mara schüttelte den Kopf und blickte flehentlich in Eriks Gesicht. „Das mache ich auf keinen Fall.” Ich weiß, dachte Erik. Aber das änderte nichts an der Angst, die wie ein Orkan durch ihn hindurch fegte. „Wir fahren zu Mum. Jetzt! Zieh dir was an, bitte.” 

Mara gehorchte. Henry stürmte aus dem Zimmer. „Wir fahren mit dem Wagen!”, ließ er sie wissen.

Erik wollte hinterher, doch Mara hielt ihn sanft am Handgelenk fest. Als er ihren Augen begegnete, verlor er sich beinahe darin. Sie hatte ihn schon lange nicht mehr so angesehen. In ihrem Blick lag nicht die Zuversicht, dass alles gut werden würde, aber das Versprechen, dass sie auf seiner Seite stand. Dass sie sich wenn nötig gegen ihren eigenen Vater stellen würde. Erik drehte sich vollends zu ihr um. Mara trat noch näher an ihn heran. „Wir hätten das anders machen sollen”, gestand er sich ein. Sie lächelte zerknirscht. „Ja, ich glaube auch.” 

Bevor sie beide den Abstand zwischen sich schließen konnten, brüllte Henry, dass Tober jetzt vor dem Haus von Eriks Mum stand. Erik riss sich sofort los. Er würde hoffentlich später noch die Gelegenheit haben, sie zu küssen. 

Der Wagen sprang mit einem satten Brummen an und Henry jagte ihn über die nächtlichen Tempelhofer Straßen. 

„Bist du sicher?”, wandte Henry sich an Erik. „Ist mir egal. Er hat meine Mutter. Wir beenden das jetzt.”

„Na hoffentlich geht alles gut.”

Erik war sich aus unbestimmten Gründen fast sicher, dass es nicht gut gehen würde. Nicht nach heute Mittag. Das hätten sie vor Monaten wissen müssen, dass es nicht bei einem Spiel bleiben würde. 

Erik hatte zufällig neben Mara in der Vorlesung gesessen. Er hatte Tober nie aus den Augen verloren, weil er ihm nicht vergeben konnte, dass er überlebt hatte. Das war aber alles gewesen. Tober war derjenige, der Mara verboten hatte, mit Erik Kontakt zu haben. Wegen seiner Schuld! Henry hatte daraufhin die Idee gehabt, Maras 22. Geburtstag zu sprengen. Sie hatten die Party eskalieren lassen. Tober hatte Eriks Gesicht mit einer abgebrochenen Flasche eingeschlagen – er hatte sich nicht gewehrt – er war froh gewesen, nicht blind zu sein. Er war danach im Krankenhaus aufgewacht. Henry hatte das gereicht. Er stellte den Plan auf …

Mit einer Vollbremsung stoppte Henry den Wagen hinter dem silbernen Volvo. „Das ist Dad”, flüsterte Mara. „Ich weiß”, knurrte Erik. „Ruf ihn an.”

Es klingelte nur einmal. „Erik?”

„Nein, Dad, hier ist Mara.” 

„Mara, …”, seufzte Richard Tober frustriert. Erik beugte sich nach hinten zur Rückbank und bedeutete ihr, ihm das Telefon zu geben. „Hier ist Erik… wir haben Mara und stehen hinter deinem Volvo. Ich will hören, dass es meiner Mutter gut geht”, verlangte er und hätte nicht verhindern können, dass Henry rief: „Sonst überfahren wir die Kleine, du Drecksack!”

Vielleicht hätte er leiser sprechen oder mit einer deftigen Schramme in seinem Auto drohen können. Vielleicht wäre dann nichts passiert. Tober war einen Moment lang still. „Wir kommen raus”, erklärte er dann. Die drei blieben im Wagen sitzen. Erik stellte den Anruf auf laut.

Die Tür ging schließlich auf. Dahinter erschienen Tober und Eriks Mum. Eriks Hand fuhr zum Türgriff, als er die Pistole am Kopf seiner Mutter erkannte. „Dieses Schwein!”

„Kommt da raus oder deine Mutter könnte das letzte Mal Treppen gestiegen sein.”

Erik war noch nie so schnell aus einem Fahrzeug gestiegen. Henry folgte. „Wo ist sie!?”, schrie Tober unter Tränen und fuchtelte mit der Waffe in Eriks Richtung. Der hob die Hände. „Hinten.” Das Wort blieb ihm fast im Hals stecken. „Stecken Sie die Waffe weg, Alter, was sollen die Nachbarn denken?”, ereiferte sich Henry und verstummte, als nun er in den Lauf blickte. Ein böses Lächeln trat auf Tobers Gesicht. 

„Wir machen das nicht hier, Kinder.” 

Er bugsierte Eriks Mom zum Volvo. „Was hast du gemacht?”, wollte sie wissen. Ihre Stimme bebte. Sie klang enttäuscht. Erik schluckte. Nichts. Im Grunde habe ich gar nichts getan.

Es war Henrys Plan. Das war Irrsinn, aber dummerweise war er Mara in einem dieser Clubs begegnet, die Henry und er normalerweise nie besuchten. Er hatte nur mit ihr gesprochen. Und sie erzählte ihm das Geheimnis. Einfach so. 

Ich weiß, dass Dad gestorben ist, weil Tober zu feige war, zur Absturzstelle herunter zu klettern, wo Dad gelegen hat, bis ihm das Blut ausgegangen ist. Ich weiß, dass er am Leben wäre, wenn Richard Tober nicht so ein Feigling wäre. Das hier ist seine »Prüfung«, wie Henry es nennt. Und was Mara betrifft, ich habe sie nie zu irgendetwas gezwungen. Sie hat alles freiwillig getan. Mein Hass ist blind, auch wenn ich es nicht bin. Aber Tober hat mir Dad genommen und Mara wollte er mir auch wegnehmen. Und er, Mum, nicht ich, will sich rächen. Für sechs Monate, in denen seine Tochter bei mir gewohnt hat. Wer ist hier der Schuldige?

Sie fuhren durch ein Industriegebiet. Die Laternen wurden immer seltener, bald folgten sie nur noch den Rücklichtern des Volvo. Auf einer dunklen Wiese hielt der Wagen vor ihnen. Es war kalt draußen und Nebel kräuselte sich im Licht der Scheinwerfer.

„Steigt aus”, meldete sich Tober am anderen Ende der Leitung, die die gesamte Fahrt über still geblieben war. Erik zuckte zusammen. Mit steifen Gliedern folgten sie der Anweisung. Mara blieb wie besprochen im Wagen.

Erik umklammerte das rosa iPhone und wechselte einen schnellen Blick mit Henry. Tober stieg alleine aus, mit der Pistole im Anschlag. 

„Ihr habt meine Tochter entführt!”, schrie er ihnen entgegen. Es klang schrill. „Du hast meine Mutter bedroht!”, erwiderte Erik. „Junge, was hätte ich denn tun sollen? Euch mit Fotos auf einem verfluchten Handy zu drohen, hat ja nicht gereicht!”

„Nichts! So wie damals! Du hättest einfach nichts tun sollen!”, brüllte Erik. Sein Hals schmerzte. Tober machte einige Schritte auf sie zu. Erik setzte sich ebenfalls in Bewegung. 

„Du hast meinen Vater sterben lassen.”

Ein Ruck ging durch Tober. Er hob erneut die Waffe, ehe er sie mit einem gequälten Laut sinken ließ. „Machst du das deshalb?”

„Ich glaube, wir wissen alle, dass es darum nicht geht. Nur darum zu sehen, wer du bist! Wie weit du für deine Tochter gehst, wenn du für deinen besten Freund nicht einen Schritt machen konntest?!”

Tober glotzte ihn an. „Aber das…”

„Was?”, schrie Erik. 

„Ihr Spinner! Ihr habt meine Tochter entführt, wegen dieser Geschichte?!” Irgendetwas machte Erik stutzig an der Art, wie Tober das letzte Wort betonte.

„Wir haben Mara nicht entführt.”

„Hör auf!”, hallte Tobers Stimme durch die Nacht. „Das wars! Du da, lass meine Tochter gehen, oder ich ballere deinem Freund das Knie weg!”

Erik drehte sich nicht um. Er hielt eisern Tobers Blick stand. Sollte er ihm doch das Knie kaputt machen. Hinter ihm hörte er, wie sich eine Autotür öffnete. Mara! Mit raschelnden Schritten näherten sich Henry und sie. 

Sie blieben neben ihm stehen. „Lass sie los!” Henry tat wie ihm geheißen. Mara bewegte sich nicht weiter. 

„Mara, sie können dir nichts mehr tun.”

„Aber das haben sie nie, im Gegensatz zu dir.”

Erik sah erschrocken zu Mara. In ihren Augen glänzten Tränen.

„Dad”, wisperte sie, „Lass Eriks Mom gehen, bitte.”

Er schüttelte wild den Kopf. „Du kommst jetzt sofort her, oder ich erschieße ihn!” Erik reckte das Kinn. Würde er wirklich? Mara rührte sich nicht. Tober drückte ab. Erik fuhr heftig zusammen, aber es folgte kein Schmerz. Es war ein Warnschuss gewesen. 

„Mara, lauf zum Auto!”

„Dad, du hast seinen Vater sterben lassen und du hast ihm eine Flasche ins Gesicht geschlagen, das warst alles du!” Tober packte so unerwartet seine Tochter, dass Erik unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu machte. „Das denkst du!? Sie haben dich sechs Monate lang gefangen gehalten!” 

Mara schlug die Hände ihres Vaters weg. Das reichte Tober offenbar, er holte aus, aber Erik war schneller, und zog Mara zur Seite. Der Schlag traf ihn nur gegen die Schulter. Mara klammerte sich an ihn und fing an zu weinen. 

„Mara, wir gehen, komm!”, befahl Tober. „Ich sag’s nur noch einmal.” 

„Ich hasse dich!”, keifte Mara und schlang ihre Arme um Erik, der Tober den Rücken zugekehrt hatte, um Mara vor ihm abzuschirmen. „Das meinst du nicht! Was habt ihr mit ihr gemacht? Mara, Liebes, bitte!”

„Lass sie los!”, verlangte Tober scharf. „Lass. Sie. Los!” Erik zögerte nur einen winzigen Moment. Tober war er zu lang. Auch wenn der Student sich bereits von seiner Tochter löste, drückte er ab. Der Schuss raubte Erik seine Realität, riss ihn zu Boden, dann flammte der Schmerz auf, jäh und gnadenlos. Er konnte nicht anders, als klagende Laute von sich zu geben und sich auf der Erde zu wälzen. 

„Was hast du getan!?”, kreischte Mara und stürzte zu Erik. 

„Ihr habt ja keine Ahnung.”

Henry zog seinen Pullover aus, um ihn auf Eriks Schulter zu drücken. Mara stand auf. 

„Was?”, blaffte sie ihrem Vater entgegen. Erik sah ihnen vom Boden aus zu. Tober vollführte eine hilflose Geste, ehe er einen Schritt auf das Trio zu machte. 

„Ich habe deinen Vater nicht sterben lassen! Das hat er alle glauben lassen!”, rief er niemand Bestimmtem und allen zu, als wollte er die ganze Welt in seine Worte einbeziehen. 

„Dein Vater ist abgehauen, Erik. Er hat sich mit einer neuen Identität in die Staaten aufgemacht. DAS ist die Wahrheit der Geschichte. Er wollte euch loswerden! Und das war der Plan. Ich habe die letzten 13 Jahre mit der Verantwortung leben müssen, deinem Versager von Vater geholfen zu haben, seine Frau und seinen Sohn im Stich gelassen zu haben! 

Weißt du wie das ist?! Für den Tod von jemandem verantwortlich zu sein, der gar nicht gestorben ist!”

„Ich glaub dir kein Wort.”

„Du bist genauso töricht und widerlich wie dein Vater! Glaubst du, ich hatte keinen Grund, meine Tochter von dir fernzuhalten?” Etwas anderes verbarg sich unter seiner Anschuldigung und war doch so deutlich, als hätte er es ausgesprochen. Richard Tober schämte sich dafür, vor 13 Jahren nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Stattdessen hatte er eine Lüge mit sich herumgetragen. Wie viel schwerer noch musste die Last dieser Lüge wiegen, als Erik wieder in sein Leben getreten war, an der Seite seiner ahnungslosen Tochter.

„Und du hast meine Mara entführt! Du hast sie gegen mich aufgebracht!”

„Das warst du selbst!”, mischte sich Mara ein.

„Du lügst, sag, dass du lügst”, bat Erik mit schwacher Stimme. „Wieso sollte ich? Wundert es dich gar nicht, dass ihr einen leeren Sarg beerdigen musstet? Dachtest du wirklich, ich wäre so ein schlechter Mensch?”

Er hob hilflos die Pistole an, „Du hast mich dazu gemacht, Lanter! Du und dein Freund!” 

„Was?”, hauchte Erik. 

„Du wirst das den Rest deines Lebens bereuen! Wie konntest du mir meine Mara wegnehmen! Dein Vater hat selbst entschieden zu gehen, ich konnte nichts dafür!”

„Du hast gelogen”, entgegnete Erik trocken und begann Sekunde für Sekunde Tobers Worte anzunehmen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sie in Frage zu stellen.

„Ich habe es geschworen! Mara, bitte? Was haben sie dir erzählt? Was haben sie gemacht”, jammerte ihr Vater.

„Meine Mutter?”, unterbrach Erik ihn unter großer Anstrengung. Tober starrte ihn an. „Du hast wohl nicht zugehört? Glaubst du ich lasse dich damit davon kommen? Du hast alles zerstört, Erik.” 

Er starrte nach oben, wo der Mann stand, der ihm mit 12 Jahren offenbart hatte, dass sein Vater nie wieder nach Hause kommen würde. „Im Ernst?”, platzte es aus Henry heraus.

„Mein Ernst. Du kannst gerne nach ihr suchen, Erik, ich werde euch auch ab und zu telefonieren lassen und dir Nachrichten schicken. Wir sehen uns in sechs Monaten!”

Mit diesen Worten kehrte Richard Tober sich ab, stapfte über die Wiese und stieg zu Eriks Mum in den Volvo. Der Motor zerriss die Stille der Nacht. Der Wagen wendete und verschwand von der Wiese, vom Gelände und aus Eriks Welt. 

 

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