samiraWhat I’ve Done

Mit angehaltenem Atem spähte Oskar um die Ecke. Das war knapp, beinahe hätte er ihn gesehen. Auch wenn er bezweifelte, dass er ihn erkennen würde wollte er das Risiko nicht eingehen. Er konnte immer noch nicht glauben, dass er ihn endlich gefunden hatte. Nach fünfzehn Jahren der Ungewissheit, nach all den Jahren der unermüdlichen Suche stand er nun vor ihm, wie ein ganz gewöhnlicher Mensch, einen Einkaufswagen vor sich her Richtung Supermarkt schiebend.

Der Entführer seiner kleinen Schwester.

Er erinnerte sich an den Tag ihrer Entführung als wäre es Gestern gewesen.

Sie hatte wie jeden Morgen das Schulbrot für sie beide geschmiert und war dann, ihre Mütze tief ins Gesicht gezogen, aus der Haustür geschlüpft. Die Mütze trug sie jeden Morgen in der Hoffnung, damit die blauen Flecken in ihrem Gesicht verbergen zu können.

Als sie beide noch kleiner waren hatte Oskar sich oft zwischen ihren betrunkenen Vater und Liv gestellt, er war ihr großer Bruder, es war seine Pflicht sie zu beschützen. Doch mit den Jahren verlor er seine Willenskraft genau so wie sein Mitgefühl. Jeder Mensch zerbricht irgendwann. Bei Oskar dauerte es 12 Jahre. Liv war sieben Jahre und er lernte, dass er den Schmerzen entgehen konnte wenn er die Strafen die für ihn bestimmt waren an ihr ausließ. Sieben Jahre hatte er sie beschützt. Es war an der Zeit, dass sie ihm etwas zurückgab.

Oskar kniff die Augen zusammen. Er wollte sich daran nicht erinnern. Nicht jetzt. Was er getan hatte war furchtbar, doch nichts im Vergleich dazu was ihn erwartet hatte als Liv verschwand. Es war seine Aufgabe gewesen sie ihm Auge zu behalten, sich um sie zu kümmern und er hatte versagt. Sein Vater war kein Mann der leicht vergab und vergessen tat er erst recht nicht. Die letzten sechs Jahre bis zu seiner Volljährigkeit waren die schlimmsten die sich ein Mensch nur vorstellen kann.

Neun Jahre lang hatte er jede Spur, jedes noch so kleine Gerücht über ein dunkelhaariges Mädchen mit graugrünen Augen, das an Orten auftauchte wo es nicht hingehörte, verfolgt und endlich hatte die Suche ein Ende. Dieser Mann wusste was mit ihr geschehen war und Oskar würde ihn leiden lassen, nicht dafür, dass er seine Schwester entführt und wer weiß was mit ihr angestellt hatte, nein, dafür dass er ihm die einzige Person genommen hatte die zwischen ihm und dem immer währenden Zorn seines Vaters gestanden hatte, die einzige Person die ihm trotz allem was er ihr angetan hatte Verständnis und Fürsorge entgegenbrachte.

Es war dunkel und kalt. Die Kälte war beinahe unerträglich doch machte sie gleichzeitig Oskars Kopf frei. Frei um den Plan für den morgigen Tag noch einmal durchzugehen.

Nachdem der Entführer den Laden verlassen hatte, hatte Oskar sich an seine Fersen geheftet und war ihm nach Hause gefolgt. Hier saß er nun, auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf einer Parkbank, eingewickelt in seine viel zu dünne Jacke.

Er hatte alles genau geplant. Schließlich hatte er viel Zeit dafür gehabt.

Mit dem Wissen, das sich ab Morgen sein ganzes Leben verändern würde schlief Oskar trotz der beißenden Kälte ein. Nichtsahnend, dass er bei der Suche nach seiner Schwester und ihrem Entführer einen gewaltigen Denkfehler begangen hatte.

Entschuldigung, ist hier noch frei?“

Aus meinem Tagtraum gerissen hob ich den Kopf und pausierte meine Musik, vor mir stand ein Mann, Anfang dreißig, der etwas ungeduldig auf den freien Platz neben mir zeigte. Er kam mir bekannt vor, doch ich konnte nicht sagen woher. Der Bus mit dem ich wie jeden Morgen zur Arbeit fuhr füllte sich langsam aber stetig, also nickte ich und nahm meinen Rucksack von dem freien Platz auf den der Fremde sich auch so gleich sinken ließ. Ich drehte meinen Kopf wieder zum Fenster, lies die Musik weiterlaufen und konzentrierte mich mit aller Kraft auf Chester Benningtons Stimme, die mit Linkin Park aus meinen Kopfhörern dröhnte, um nicht einzuschlafen. Blöde Nebenwirkungen…

Ich hob meinen Kopf erst wieder als meine Haltestelle ausgerufen wurde und musste feststellen, dass der Fremde bereits ausgestiegen war. Der Platz neben mir war wieder leer. Dachte ich zumindest, bis ich das Handy sah. Ein ganz gewöhnliches Smartphone mit roter Hülle und dennoch schrie etwas in mir ich solle es einfach liegen lassen und aussteigen. So ein Blödsinn! Ich konnte nicht den Rest meines Lebens vor allem und jedem Angst haben! Mit einem Mal viel mir wieder ein wo ich den Fremden schon einmal gesehen hatte. Er hatte auf der Parkbank gegenüber meiner Wohnung geschlafen und war aufgeschreckt als die Haustür hinter mir zufiel. Er musste den Bus verpasst haben und zur nächsten Haltestelle gerannt sein und jetzt hatte er auch noch sein Handy verloren. Damit war meine Entscheidung endgültig gefallen, ich würde das Handy mitnehmen und nach der Arbeit beim örtlichen Fundbüro abgeben, damit hätte ich auch meine gute Tat für den Tag erledigt.

Ich hatte soeben die Apotheke in der ich arbeitete verlassen und wollte mich auf den Weg zum Fundbüro machen als das Handy piepte. Ein Foto. Die Nummer unterdrückt. Ich kratzte mich kurz am Bart. Sollte ich? Nein, ich würde meiner Neugierde nicht nachgeben und die Nachricht öffnen. Sie war nicht für mich bestimmt. Ein paar Sekunden später kam die zweite Nachricht, sie war kurz also konnte ich sie schon auf dem Startbildschirm lesen: Sieh dir das Bild an. Ich weiß wer du bist.

Wie angewurzelt blieb ich stehen. Das war absolut unmöglich. Ich sah nicht mehr ansatzweise aus wie damals und wechselte alle zwei Jahre den Wohnort und meinen Namen. Und doch erkannte ich das Gesicht auf dem Foto nur zu gut. Es zeigte ein junges Mädchen, grade mal elf oder zwölf Jahre alt, sehr dunkles, leicht gewelltes Haar und ein Pony der ihr fast bis in die hübschen grau-grünen Augen fiel. Ihr kleiner Mund war zu einem zarten Lächeln verzogen, welches ihre Augen jedoch nicht erreichte. Wie hatte der Fremde mich finden können? Und noch viel wichtiger, wer war er?

Ich steckte das Handy ein und rannte nach Hause, allerdings nicht ohne ein paar Umwege zu nehmen, für den Fall, dass ich verfolgt wurde.

Die nächste Nachricht beantwortete zumindest eine meiner Fragen: Sie war meine Schwester und ich werde sie rächen.

Als ich mich wieder ein Stück weit gefangen hatte tippte ich langsam eine Antwort ein, auch wenn ich tief in mir wusste es hatte keinen Sinn, er hatte mich tatsächlich gefunden. Das muss eine Verwechslung sein, ich weiß nicht wovon Sie sprechen.

Ping. Wieder ein Foto, diesmal ein Zeitungsausschnitt. Der Zeitungsausschnitt ist fünfzehn Jahre alt. Die Titelseite zeigt das Mädchen welches bereits auf dem vorherigen Foto zu sehen war. Die Schlagzeile schreibt :

12 JÄHRIGE LIV M. VERMISST!

Ich überflog den Artikel, auch wenn ich bereits wusste was darin stand.

Vater Ole (42 j.) und Bruder Oskar (17 j.) meldeten die 12 jährige Liv am Samstag Abend, den 06.06.15 als vermisst (…) Behörden gehen von Entführung aus (…) Liv hatte bereits eine Woche zuvor erwähnt sie habe das Gefühl von einem fremden Mann beobachtet zu werden. Ihr Vater hielt dies für „Hirngespinnste eines präpubertierenden Mädchens das Aufmerksamkeit braucht“ (…) Er erkannte seinen Fehler als sie Freitag, den 05.06. nicht von der Schule nach Hause kam.

Ich schüttelte meinen Kopf, der selbe Gedanke wie vor fünfzehn Jahren, als ich diesen Artikel zum ersten Mal las, ging mir durch den Kopf: Was für ein fürsorglicher Vater, glaubt seiner Tochter kein Wort über ihren Verfolger und benötigt dann mehr als einen Tag um die Polizei zu benachrichtigen. Er wird sie sicher schrecklich vermisst haben.

Konzentriere dich! Ich hatte wichtigere Dinge zu tun als über schlechte Väter nachzudenken. Zum Beispiel mir zu überlegen was zum Teufel ich nun tun sollte.

Oskar hatte mich gefunden, den Entführer seiner kleinen Schwester. Zumindest glaubte er das.

Mit einem Mal kamen all die Erinnerungen zurück die ich in den letzten fünfzehn Jahren so mühsam versucht hatte zu vergessen.

Ein junges Mädchen, circa sieben Jahre alt, wird von ihrem großen Bruder an den dunklen Haaren durch den Garten geschleift nachdem sie versehentlich über seine Spielzeug Burg gestolpert ist.

Das selbe Mädchen, acht Jahre alt, für fünf Tage ohne Essen und mit nur einer Flasche Wasser in ihrem Zimmer eingeschlossen, weil sie sich ungefragt ein Eis aus der Kühltruhe genommen hatte.

Ein paar Jahre später, das Mädchen bei dem Versuch ihrer Grundschullehrerin zu erklären die blauen Flecken seien die Folge eines Sturzes, während ihr Vater abwartend an der Tür des Klassenzimmers steht.

Nein! Das war Vergangenheit. Ich hatte getan was ich tun musste um noch schlimmeres zu verhindern. Zu viel hatte ich geopfert und über mich ergehen lassen um jetzt, nach fünfzehn Jahren, alles aufzugeben. Erst recht nicht wegen einem Mann der statt seine kleine Schwester zu beschützen ebenso grausam zu ihr wurde wie ihr Vater.

Ich stand etwas zittrig aber entschlossen auf und griff nach dem Handy. Was willst du von mir? Die Antwort kam sofort. Ich werde dir Schmerzen zufügen die du dir nie hättest erträumen können und wenn ich mit dir fertig bin werde ich dir vielleicht, aber nur vielleicht die Güte erweisen und dich töten.Ich kniff die Augen zusammen. Ich musste irgendetwas tun. Irgend- wohin flüchten. Aber wohin? Als hätte er meine Gedanken gelesen kam die nächste Antwort. Versuch gar nicht erst wegzulaufen. Ich habe dich einmal gefunden und ich werde dich wieder finden. Du würdest den Rest deines Lebens in Angst vor mir verbringen.

Auch wenn er schrieb als hätte er zu viele schlechte Horrorfilme gesehen nahm ich ihn beim Wort. Ich konnte das nicht zulassen!

Die nächste, und letzte, Nachricht war kurz und klang ein wenig ungeduldig. Wir treffen uns um Mitternacht vor der alten Lagerhalle. Für einen Moment vergaß ich meine Angst. War das sein Ernst? Er hatte soeben meine Theorie mit den schlechten Horrorfilmen bestätigt. Mitternacht. Alte Lagerhalle. Ich hätte nie gedacht diese Worte im echten Leben einmal zu hören, beziehungsweise zu lesen. Also gut. Die Handyuhr zeigte 22:54 an. Ich hatte noch etwas über einer Stunde Zeit um mir zu überlegen wie ich heil aus der Sache raus kam. In meinem Kopf kristallisierte sich langsam ein Plan. Wie es aussah musste ich nochmal einen Abstecher in die Apotheke machen.

23:25 stand ich wieder in meiner Wohnung. Das hatte länger gedauert als erwartet. Um pünktlich dort zu sein musste ich mich in zehn Minuten auf den Weg machen.

Ich zog mich um, so dass ich nun ganz in schwarz gekleidet war und betrachtete mich im Spiegel. Die dunkle Kleidung ließ meine graugrünen Augen noch mehr hervorstechen als gewöhnlich. Ob er mich erkennen würde? Wirklich erkennen würde? Einmal hatte ich es mit Kontaktlinsen versucht, musste aber feststellen, dass ich gegen diese allergisch war. Ich ließ meinen Blick über meine grau gefärbten Schläfen bis zu meinem Drei-Tage-Bart wandern. Vermutlich nicht. Mit einem letzten Blick in meine Tasche, in der nun eine kleine Spritze und ein Fläschchen hochdosiertes, und damit tötliches, Cyclobarbital lag, verließ ich meine Wohnung. Es wurde Zeit für ein Wiedersehen mit meinem Bruder.

One thought on “What I’ve Done

  1. Moin Samira,

    eine tolle Geschichte die du dir hier ausgedacht hast.

    Ich mag die Idee. Ich hab auch nichts gegen viele Fragen am Schluss, offene Enden sind toll, lassen sie dem Leser doch die Möglichkeit die Storie selbst zu Ende zu erzählen. Bei dir sind es aber doch ein paar zu viel. Die ein oder andere Erklärung wäre schön gewesen. Und hätten der Geschichte einen ganz anderen Drive gegeben.

    Wer ist gut, wer ist böse…bei deiner Storie weiß man es wirklich nicht. Der vermeintliche Entführer, vllt doch nur der Retter um das gepeinigte Mädchen vor der Gewalt des Vaters und Bruders zu schützen. Oder ist das Mädchen jetzt ein Mann? 🤷🏼‍♂️

    Wie gesagt, ich mag die Idee dahinter, aber an der Umsetzung solltest du noch mal arbeiten.

    Mach es doch wie ich und lese, lese und lese…hier gibt es so viele tolle Geschichten, da kannst du dir sicher ein paar Anregungen holen.

    Für den Mut an diesem Wettbewerb teilgenommen zu haben und dafür das du deine Geschichte mit uns geteilt hast, lasse ich dir ein Like da.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

Schreibe einen Kommentar