Carolina KnapeWie du mir …

 

Als das Telefon klingelte, schreckte Philipp verwirrt auf und fasste sich an den pochenden Kopf. Erschrocken blickte er auf seinen Wecker. Er hatte verschlafen. Der junge Staatsanwalt fühlte sich kraftlos, ihm war schwindlig, seine Kehle brannte. Mit der linken Hand griff er zu einem Wasserglas, das auf seinem Nachtkästchen stand, mit der rechten nahm er das Telefon ab, das „Alexander Hoffmann, Büro“ anzeigte. Philipp wollte sich entschuldigen. Seinem Kollegen sagen, dass er später kommen würde. Dass er wohl krank sei, aber dass es schon gehen werde. Das Telefonat nahm einen anderen Verlauf. Es sollte sein Leben für immer verändern.

In den sieben Jahren, in denen er bereits bei der Justiz arbeitete, hatte er viele schlimme Dinge erlebt. Er musste sich mit Mördern befassen, mit Räubern und mit Erpressern. Doch dass auch er einmal persönlich von einem Kriminalfall betroffen sein würde, das hätte er in seinem schlimmsten Alptraum nicht geahnt.

Mit zitternder Hand legte Philipp den Telefonhörer wieder auf. Er sackte auf sein Bett zurück und starrte mit ausdrucksloser Miene in die Luft. Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Was Alex gesagt hatte, war nicht möglich. Erschossen? Seine eigene Frau? Wer sollte das getan haben? Wer sollte wollen, dass sie tot ist? Sie war beliebt. Sie lebte in guten Verhältnissen mitten in München. Sie hatte keine Probleme, keine Schulden. Davon hätte Philipp trotz der Trennung gewusst. Viele Gewaltverbrechen sind Beziehungstaten. Hatte Emma einen neuen Freund, von dem Philipp nichts wusste? Er war nicht nur gut in seinem Job, er lebte für ihn. Genau das war es, was seiner Ehe zum Verhängnis geworden war. Doch seit Kurzem hatte das Paar, das sich schon seit der Schule kannte, wieder begonnen, sich anzunähern. Hätte Emma jemanden kennengelernt, so hätte Philipp das erfahren. Je länger er nachdachte, desto sicherer war er sich. Es gab keinen Sinn. Fest entschlossen, das Missverständnis aufzuklären, ging er ins Bad und griff zu einer Anzughose und einem Hemd, das er abends schon für den nächsten Tag neben der Dusche bereit gelegt hatte. Er musste zu Emma. Während er seinen Haustürschlüssel suchte, den er schon gestern Abend nicht gefunden hatte, wählte er ihre Handynummer. Das schnurlose Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, wühlte er in seinen Jackentaschen. Mailbox. Philipp entschied, dass er keine Zeit hatte, den Schlüssel zu suchen. Er öffnete sein Fenster, damit er später über die Feuerleiter wieder in die Wohnung kommen würde und nicht noch einmal seine Nachbarin bitten musste, ihm mit dem Ersatzschlüssel aufzusperren. Zu mitleidig hatte sie ihn gestern angesehen, zu oft betont, er sehe müde aus und wäre überarbeitet. Schnellen Schrittes ging er zur Tür. Die Luft draußen war warm. Die Sonne schien und vermittelte das Gefühl einer heilen Welt. Philipp entschied sich, nicht mit den gut gelaunten Menschenmassen auf den Bus oder die Tram zu warten, sondern zu Fuß zu gehen. Emma wohnte nicht weit von ihm, in einer Wohnung über ihrem eigenen Café. Sie hatte sich nach dem Abitur entschieden, ihr Geld mit ihren selbst gebackenen Kuchen zu verdienen. Sie wollte nicht studieren. Sie wollte jeden Tag das machen, was sie liebte und sie wollte keine Sekunde länger damit warten. Philipp hatte damals versucht, ihr den Plan auszureden. Er wollte ihr erklären, dass das schief gehen könne und Emma eine Ausbildung machen oder studieren müsse. Doch Emma hatte ihren eigenen Kopf. Und so waren ihre veganen Backwaren in der ganzen Stadt bald so beliebt, dass Emma mehr Geld verdiente, als sie gebraucht hätte, um ganz alleine eine Familie zu ernähren. Aber Philipp hatte eigene Karrierepläne. Er hatte sich so sehr in sein Studium und seine Arbeit gestürzt, dass er nicht gemerkt hatte, wie immer mehr Zeit verging und Emmas Träume, jung Mutter zu werden, zunehmend aussichtsloser wurden.

Philipp schossen die Tränen in die Augen und er begann noch schneller zu gehen. Der Weg zum Café kam ihm weiter vor als sonst. Im Nachhinein hätte er sich gewünscht, er wäre nie angekommen. Dann hätte er sich noch länger einreden können, es handle sich alles nur um ein Missverständnis. Vor dem Café standen ein Polizeiauto und zwei schwarze Limousinen. Als Philipp seinen Dienstausweis zeigte und an den Polizisten vorbei hineinging, fand er einen ganz normalen Tatort vor, wie er ihn schon dutzende Male gesehen hatte. Er sah Alex, der sichtlich mitgenommen wirkte und in ein Gespräch mit zwei Polizisten vertieft war. Und die Kollegen von der Spurensicherung, die am Boden Proben nahmen. Sie mussten alle schon seit einigen Stunden hier sein. Als Alex seinen Freund bemerkte, weiteten sich seine Augen. Er hatte nicht mit ihm gerechnet und wusste so spontan nicht, welche die richtige Art und Weise war, zu reagieren. „Scheiße Phil, was machst du hier?“, platzte es aus ihm heraus. „Ich … es tut mir so Leid. Wir wissen noch nicht, was passiert ist“, stammelte er überfordert. Alle Anwesenden blickten erstaunt zu Philipp. Der reagierte nicht und ging an seinen Kollegen vorbei Richtung Küche. „Herr Aumüller!“ Ein Polizist wollte ihn aufhalten, da niemand außer den ermittelnden Personen den Tatort betreten durfte. Philipp war trotz seiner erst 35 Jahre der Dienstälteste im Raum. Man kannte ihn, er war ein Ansprechpartner und ein Vorbild. Und als Philipp erneut nicht reagierte, traute sich niemand, ihn zu stoppen. In der Küche befand sich eine weitere Kollegin, die wohl nach Beweismaterial suchte. Philipp kannte sie nicht und noch bevor sie fragen konnte, hielt er auch ihr seinen Dienstausweis hin und begann, sich umzusehen. Alex war ihm nachgegangen und beobachtete ihn eine Weile. „Phil. Ich habe den Fall übernommen. Ich werde herausfinden, was hier passiert ist. Bitte geh nach Hause. Du kannst hier nichts tun.“ „Hast du sie gesehen?“, fragte Philipp. „Hast du meine Frau gesehen?“ Alex atmete tief ein und schaute zu Boden. Dann nickte er kaum merklich. „Wo ist sie?“, fragte Philipp sachlich. „Sie haben sie schon mitgenommen. Philipp. Bitte geh nach Hause.“ Philipps Gesichtsausdruck verhärtete sich. Hilflos blickte er sich in der Küche um. „Philipp…“ versuchte es Alex erneut. „Ich werde nirgendwo hingehen!“, unterbrach ihn Philipp mit fester Stimme. Sein Ton machte deutlich, dass er keinen Widerspruch zulassen würde. „Ich bleibe hier, bis ich weiß, was passiert ist.“ Hilflos sah Alex seine Kollegen an. Kurz blieb es still, dann begannen alle Beteiligten, weiter ihrer Arbeit nachzugehen. „Möchten Sie auch einen Kaffee?“, fragte die Frau in der Küche in Philipps Richtung. Er schüttelte den Kopf, woraufhin sie den Raum verließ. Philipp sah sich um. Sein Blick fiel auf Emmas kleinen Taschenkalender, der auf dem Fensterbrett stand. Schnell blätterte er zum 24. Juli, bevor es jemand bemerkte und ihn davon abhalten konnte. „Abendessen mit Philipp“? Der Staatsanwalt runzelte die Stirn. Warum stand beim gestrigen Tag „Abendessen mit Philipp“? Sie waren nicht zum Abendessen verabredet gewesen. Meinte sie einen anderen Philipp? Er blätterte ein paar Tage vor, dann ein paar Tage zurück. Als er hörte, wie sich Schritte der Küche näherten, steckte er das kleine Büchlein, ohne nachzudenken, in die Innentasche seines Jacketts. „Wollte sie mit mir Abendessen gehen? Habe ich einen Termin vergessen?“ Tausend Gedanken schossen durch Philipps Kopf. Er war in letzter Zeit tatsächlich sehr vergesslich. Sein Tagesablauf war seit Monaten fest eingespielt. Er funktionierte wie ein Roboter, stand um sechs Uhr morgens auf, machte sich fertig für die Arbeit und fuhr mit der S-Bahn ins Büro. Erst spät abends kam er wieder nach Hause, wo er meist ohne noch etwas zu essen kraftlos ins Bett fiel, um nach nur wenigen Stunden wieder von vorne anzufangen. Hatte er das Abendessen mit Emma genauso vergessen wie den Lunch mit seiner Mutter letzte Woche? Oder wie den Geburtstag seines Trauzeugen am Samstag? Als Philipp gedankenverloren aufschaute, merkte er, dass seine Kollegin wieder in der Küche war und ihn prüfend anschaute. „Herr Aumüller, es tut mir wirklich Leid. Aber Sie müssen jetzt gehen“, sagte sie. „Sie sind privat von der Sache betroffen. Sie können nicht an den Ermittlungen teilnehmen. Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus“, befahl sie in ernstem Ton. Wahrscheinlich hatten sie sich draußen beraten. Ausdruckslos schaute Philipp seine Kollegin einige Sekunden an. Dann verließ er wortlos das Café.

Doch er dachte nicht daran, nach Hause zu gehen. Sobald er draußen war, lief er in Richtung Hauseingang, über den man zu Emmas Wohnung kommen konnte. Wie er es gehofft hatte, waren noch keine Kollegen vor Ort. Philipp hob die Yucca Palme im Hausflur nach oben und griff nach dem Türschlüssel, den Emma für den Notfall im Übertopf deponiert hatte. Hektisch sperrte er die Tür auf und rechnete jeden Moment damit, dass auch hier seine Kollegen auftauchen und ihn wieder wegschicken würden. Die Wohnung war hell, aufgeräumt und roch vertraut nach dem Parfum von Emma. Seit der Schulzeit hatte sie immer das Gleiche getragen. Philipp presste seine Zähne zusammen und verzog das Gesicht. Wieso hatte er sie gehen lassen? Wieso hatte er sich nicht besser um sie gekümmert? Er hatte beruflich immer so viel zu tun, dass er das Gefühl hatte, nicht genug Zeit für ein Kind zu haben. Er wollte noch warten. Tag und Nacht hatte er gearbeitet, nicht einmal an den Wochenenden konnte er abschalten. Philipp hastete durch die Zimmer, in der Hoffnung irgendetwas zu entdecken. Ihm war bewusst, dass seine Kollegen auch alleine in der Lage waren, das Verbrechen aufzuklären. Jedoch war das letzte, was er jetzt wollte, zuhause zu sitzen und auf irgendwelche Nachrichten zu warten. Und wer weiß, ob sie ihm überhaupt alles sagen würden. Auf dem weißen Tisch in der kleinen mintgrünen Küche blieb Philipps schweifender Blick an einem Smartphone hängen. „Ihr Handy lag doch unten bei den Beweismitteln“, überlegte er. Um nicht selbst Spuren zu hinterlassen, wischte er mit einem Taschentuch über das Gerät, welches sich sofort entsperrte. Er klickte auf die Nachrichten. Alle Mitteilungen waren von ihm. Handelte es sich also um Emmas altes Handy? Die neuste Nachricht wurde noch nicht angeklickt. Philipp entschied sich dafür, erst die bereits gelesenen Nachrichten anzuschauen. Sein Herz begann zu rasen. Ein Foto von ihm und Emma erschien auf dem Bildschirm. Darunter stand „Gleich sehen wir uns. Ich freue mich!“ Philipp kontrollierte das Datum. 24.07.2019, 18.35 Uhr. Auch das Bild war aktuell. Es war vor ein paar Wochen auf seinem 35. Geburtstag entstanden. Philipp hatte nur gefeiert, weil er Emma einladen wollte und hoffte, sie so wieder sehen zu können. Dass sie der Einladung tatsächlich gefolgt war, war sein größtes Geschenk. Den ganzen Abend hatte er fast nur mit ihr geredet und am Ende hatten sie vereinbart, dass sie sich bald wieder einmal treffen würden. Jedoch hatte sich keiner von beiden daraufhin beim anderen gemeldet. Die Nachricht hatte Philipp nicht geschrieben. Jedenfalls konnte er sich daran nicht erinnern. Aber wer sonst sollte Zugriff auf das Bild gehabt haben? Er hatte es niemandem geschickt. Er tippte den Kontakt mit seinem Namen an. Dort stand tatsächlich seine Handynummer. Kurz entschlossen öffnete er auch die neueste Nachricht. „Das hast du jetzt davon.“, las er. Sie war von heute Nacht. 00.17 Uhr. Ebenfalls von ihm geschrieben. Sein Körper begann zu zittern. Was hatte das alles zu bedeuten? In der Wohnung war es stickig und warm, die Sonne prallte durch die geschlossenen Fenster. Philipp versuchte, sich an den gestrigen Abend zu erinnern. War er nicht, wie gewöhnlich, nach der Arbeit sofort ins Bett gegangen? Ein Tag verschwamm im anderen. Sein Kopf fühlte sich überfüllt an. Und gleichzeitig so leer. Was hatte er getan? Ihm wurde wieder schwindlig und er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. In dem Moment hörte er die Stimme von Alex draußen auf dem Flur. Schnaubend steckte er das Handy in seine Anzugtasche, in der auch der Terminkalender war. „Diese Tür“, sagte Alex. Philipp sah sich um. Er musste sich irgendwo verstecken. Aber seine Kollegen würden alles durchsuchen. Sie würden ihn finden. Philipp wägte ab, ob er aus dem Fenster springen sollte. Die Wohnung war im zweiten Stock. Vielleicht würde er es schaffen. Die Tür knackte und die Stimmen wurden lauter. Panisch gingen Philipps Blicke durch die Küche. Er drehte sich Richtung Balkon und versuchte leise, die Türe zu öffnen. Vorsichtig ging er einen Schritt nach vorne. „Philipp!“ Alex stand in der Küchentür. Philipp verschluckte sich. Er wollte sich erklären. Er wollte Alex zeigen, was er gefunden hatte, damit dieser ihm eine ganz logische und harmlose Erklärung liefern konnte. Doch zu groß war die Angst, dass es die nicht gab. Also sagte er nichts. Stattdessen rannte er an Alex vorbei und aus der Wohnung. Er lief den Berg hinunter, Richtung Innenstadt, vorbei an dem Blumenladen, in dem er Emma zur Caféeröffnung einen Tulpenstrauß gekauft hatte. Vorbei an dem indischen Restaurant, in dem sie ihre Verlobung gefeiert hatten. Und vorbei an all den fröhlichen Menschen, die sich in der Fußgängerzone tummelten und keine Ahnung davon hatten, welch schlimmes Szenario sich gestern Nacht ganz in der Nähe abgespielt hatte. Philipp liebte seine Frau. Er hatte die Hoffnung nie aufgegeben, dass sie wieder zusammenfinden würden. Und ja, durch den ganzen Stress in der Arbeit, den fehlenden Schlaf und den Kummer durch die Trennung, hatte er manchmal das Gefühl, verrückt zu werden. An den seltenen Tagen, an denen er frei hatte, war er oft verzweifelt und fragte sich nach dem Sinn des Lebens. Er dachte darüber nach, wie er alles wieder in den Griff bekommen könnte. Und er versteifte sich immer mehr in den Gedanken, seine Frau zurückzuerobern. An seinem Wohnhaus angekommen, suchte Philipp schweißgebadet nach seinem Haustürschlüssel, bis ihm wieder einfiel, dass er ihn nicht dabei hatte. Er kletterte die Feuerleiter zu seiner Wohnung hinauf und fühlte sich nicht nur wie ein Einbrecher, sondern auch wie ein Mörder. Er stieg durch sein Küchenfenster und sackte auf dem Boden zusammen. „Das hast du jetzt davon.“ Die Worte gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wovon? Auf der hölzernen Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank stand eine leere Weinflasche. Hatte er getrunken? Konnte er sich deswegen nicht mehr an gestern Abend erinnern? Philipp atmete immer schneller, dann stieß er voller Verzweiflung einen lauten, langen Schrei aus und legte die Hände um seinen Kopf. Er trank nie Alkohol. Nicht einmal an seinem Geburtstag hatte er etwas getrunken. Er schüttelte den Kopf und stand auf. Das war alles nicht möglich. Voller Angst, was er noch entdecken würde, sah er in den Kühlschrank und in den gelben Kunststoffeimer, in dem er sein Altglas sammelte. Aber weitere Flaschen konnte er nicht finden. Sein Handy! Er musste nachsehen, ob die Nachrichten wirklich von seinem Handy versendet wurden. Philipp lief zu der kleinen Kommode im Flur, doch sein Handy war nicht dort. Kreidebleich und mit schmerzendem Kopf, begann Philipp, sein Smartphone zu suchen. Er hatte das Gefühl, dass er mit jeder Sekunde verrückter wurde. Auch Philipp war, wie Emma, sehr ordentlich. In seiner Wohnung lag nicht viel herum, es gab kaum Möglichkeiten, wo er etwas verlegen konnte. Vielleicht hatte er es noch in seiner Aktentasche. Er ging zu seinem Schreibtisch und öffnete die großen silbernen Schnallen. Verwirrt starrte er auf den Inhalt der Tasche. Sowohl sein Handy als auch sein Schlüssel lagen gut sichtbar ganz oben auf den Unterlagen. Wie konnte er das gestern nicht gesehen haben? Philipp stockte. Was war das? Ein schwarzer Gegenstand drückte sich in die Akten. Vorsichtig zog er ihn heraus. Der Anblick ließ sein Herz aussetzen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. In seiner Hand, eine Waffe. Eine schwarze Pistole. Wo hatte er die bloß her? Er hatte keinen Waffenschein. Wenn er sich eine Waffe besorgt hatte, musste er die Tat geplant haben. Warum konnte er sich auch daran nicht erinnern? Konnte eine Flasche Wein wirklich einen so großen Teil seines Gedächtnisses löschen? Er dachte an einen Fall aus seinen Anfangstagen bei der Staatsanwaltschaft. Eine Frau, die versehentlich ihren Mann überfahren hatte, hatte eine posttraumatische Gedächtnisstörung. Lange hatte er ihr nicht geglaubt, dass sie sich an nichts erinnern konnte. War er jetzt selbst betroffen?

Was war zwischen Emma und ihm passiert? Philipp wusste nicht mehr, wer er war. Was war aus dem empathischen und korrekten Beamten geworden, der keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte? Seine Fälle in der Arbeit machten ihm mehr zu schaffen als das bei seinen Kollegen der Fall war. Die Geschichten der unterschiedlichen Leute nahmen ihn mit. Er machte sich immer viele Gedanken, ob die Anklage wirklich gerechtfertigt war. Er wusste, dass das Gericht sich ein Stück weit auf die Staatsanwaltschaft verließ. Dass er über Schicksale bestimmte. Doppelt und dreifach überprüfte er die Sachlagen. Und oft konnte er sich nicht vorstellen, dass Menschen wirklich zu solch kriminellen Handlungen in der Lage waren. Zu schweren Körperverletzungen. Zu Morden.

War er durch die viele Arbeit so sehr abgestumpft? Philipp bekam keine Luft mehr. Alles drehte sich. In seinem Ohr ertönte ein Summen, das immer lauter wurde. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Wieder wurde Philipp durch das Telefon geweckt. Es war dunkel. Der Staatsanwalt brauchte einen Moment, bis er wusste, wo er war. Auf seinem Küchenboden. Seine Gelenke schmerzten. Kühler Wind wehte durch das noch offene Küchenfenster. Es war kein Traum. Es war Wirklichkeit. Seine Frau war tot. Und er hatte sie umgebracht. Seine eigene Frau. Die Frau, die er liebte. Philipp schloss die Augen wieder, erneut liefen Tränen über sein Gesicht. Das Telefon gab keine Ruhe. Philipp bemerkte, dass nicht nur das Telefon, sondern auch die Tür klingelte. Bestimmt waren es seine Kollegen, die ihm mittlerweile auf die Spur gekommen waren. „Sollen sie mich ruhig einsperren“, dachte Philipp. „Am besten in die Psychiatrie.“ Das Klingeln machte ihn noch wahnsinniger, als er sich sowieso schon fühlte. Der Staatsanwalt drückte sich vom kalten Boden hoch. Langsam versuchte er aufzustehen. Seine Beine taten ihm so weh, dass er sich kaum auf ihnen halten konnte. Er stolperte zur Gegensprechanlage und drückte den Türöffner. Keine zwei Minuten später stand Alex vor ihm. „Geht´s dir gut? Ich habe mir solche Sorgen gemacht“, hechelte er. Er musste die Treppen genommen haben. Dann wusste er also noch nicht, dass es Philipp war. „Gibt es irgendetwas Neues?“, fragte Philipp. „Noch nicht“, antwortete Alex. „In dem Café sind sehr viele Spuren von den Gästen. Wir müssen uns gedulden.“ Dann zögerte er. „Lorenz hat seine Dienstwaffe als gestohlen gemeldet.“, fuhr er vorsichtig fort. „Sie wurde ihm wohl weggenommen, als er sie kurz ablegte, um auf die Toilette zu gehen. Birgit will ein Disziplinarverfahren gegen ihn einleiten. Keine Ahnung, aber seine Waffe könnte die Tatwaffe sein.“
Lorenz. Nachdem der Name gefallen war, hatte Philipp seinem Kollegen nicht mehr zugehört. Ihm war, als würde er endlich aus einem langen Koma erwachen. Zum ersten Mal seit dem Anruf heute Morgen hatte er das Gefühl, klar denken zu können. Lorenz war Polizist und ein ehemaliger Freund von Philipp. Sie kannten sich seit Kindertagen und hatten früher viel Zeit miteinander verbracht, bis sich herausstellte, dass Lorenz’ Frau, eine Justizvollzugsbeamtin namens Valeria, extrem zwielichtige Geschäfte mit einigen Häftlingen am Laufen hatte. Als Staatsanwalt wäre Philipp damals dazu verpflichtet gewesen, die Verbrechen aufzudecken. Doch aus Kollegialität zu seinem langjährigen Freund, schaute er weg. Er brach die Freundschaft ab und versuchte Lorenz und Valeria so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Später bereute er sein Vorgehen sehr, hatte lange Zeit Schuldgefühle und Gewissensbisse. Wollte er doch immer Jurist sein, um für das Recht zu kämpfen. Nicht, um wegzusehen und schon gleich gar nicht, um sich dadurch selbst strafbar zu machen. Vor einem Jahr hatte Philipp dann in anderer Sache gegen Valeria ermitteln müssen. Er sah die Gelegenheit als Chance, sein falsches Verhalten wieder gut zu machen und Valeria doch noch für ihre früheren Taten zur Rechenschaft zu ziehen. So hielt er Beweismaterial zurück, das Valeria entlastet hätte. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage, die Frau seines ehemaligen besten Freundes wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Philipps Blick war wie versteinert. Lorenz hatte wegen Philipp seine Frau verloren. Jetzt hatte er ihm seine genommen. Und Philipp sollte dafür, genauso wie Lorenz’ Frau, ins Gefängnis gehen.

Lorenz musste ihm im Büro seinen Schlüssel und sein Handy geklaut haben. Er musste in seiner Wohnung gewesen sein, um alles wieder in die Aktentasche zu legen. Samt Waffe. Auf der jetzt seine Fingerabdrücke waren. Lorenz musste alles akribisch geplant haben. Die Nachrichten von Philipp auf Emmas altem Handy. Der Eintrag im Terminkalender. Und jetzt schien es auch noch so, als hätte er beide Beweismittel vernichten wollen. Das perfekte Motiv: Der überarbeitete und verzweifelte Staatsanwalt bringt seine Ehefrau um, die ihn verlassen hatte. Langsam drehte sich Philipp zu der Weinflasche in seiner Küche. Er hatte sie noch nicht angefasst. Darauf würden keine Spuren von ihm zu finden sein.

Erneut gingen Philipp die Worte der SMS durch den Kopf. „Das hast du jetzt davon.“ Sie waren nicht an Emma gerichtet. Sondern an ihn selbst.

11 thoughts on “Wie du mir …

  1. Liebe Carolina!

    Das war ja der Hammer! Deine Geschichte hat mir so gut gefallen, dass ich ehrlich gesagt traurig bin, dass es eine Kurzgeschichte ist! Mir gefällt die Story und vor allem dein Schreibstil so sehr, dass ich mir eigentlich wünschen würde, dass du daraus einen ganzen Kriminalroman schreibst😍

    Von Beginn an habe ich mit Philipp mitgefiebert und daran hat sich bis zum Schluss auch nichts geändert! Die Art und Weise wie du seine Liebe und Trauer schilderst, bringst du realistisch auf dem Punkt. Am Ende möchte man einfach wissen, wie das Schicksal des Staatsanwalts weitergeht👍🏻

    Auf jeden Fall merkt man, dass du das Handwerk des Schreibens beherrscht und ich denke, dass dein Schreibstil auch Potential für noch größere Projekte als nur eine Kurzgeschichte hat! Ich hoffe und wünsche mir, dass deine Geschichten noch viele Herzen dazu gewinnt, damit sie es ins E-Book schafft💗

    Alles Liebe 🙂
    D
    A
    M

    PS: Es würde mich freuen, wenn eine so tolle Erzählerin wie du mal einen Blick in meine Geschichten herein wirft 🤗😁

  2. Moin Carolina,

    da mich Adam auf deine Geschichte aufmerksam gemacht hat, bin ich seinem Rat gefolgt und habe mir deine Geschichte mal angesehen. Und ich muss sagen ich bereue es überhaupt nicht. Ein schöner, flüssiger, packender Schreibstil. Der Plot ist gut gedacht und zum Ende hin sehr gut aufgelöst! Klasse gemacht..genau so weitermachen!

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

    PS: Bei Instagram bildet sich gerade eine kleine Gruppe von uns…schau doch mal vorbei! Unter wir_schrieben_zuhause solltest du uns finden.

    https://instagram.com/wir_schrieben_zuhause?igshid=1os4gu5g9eryl

  3. Hallo, Carolina,
    auch ich finde deine Geschichte sehr gelungen. Gradliniger Schreibstil, du schaffst es sehr gut, den Leser in die Gefühls- und Gedankenwelt deiner Hauptfigur eintauchen zu lassen, spannend bis zum Schluss, unerwartetes offenes Ende, ich habe bis zum Schluss mit deiner Figur gefiebert und gelitten, denn du hast es geschafft, ihn trotz der Kürze der Story sehr gut zu charakterisieren mit all seinen Zweifeln und Fehlern. Ab und an hätte ich mir ein paar mehr Dialoge gewünscht, aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Ganz starker Beitrag, bis jetzt einer der besten von denen, die ich gelesen habe. Fettes Like vin mir!
    Viele Grüße
    Rolf Lindau (hier auch unter „Echtnamen“ mit einigen Stories vertreten – wenn du Zeit und Lust hast, würde ich mich über ein Feedback freuen)

  4. Eine wirklich packende Geschichte, die sich sehr flüssig liest. Man hat gleich die Charaktere und die Umgebung direkt vor seinem Auge und kann sich gut in die Gefühle und Gedanken hineinversetzen. Schade, dass es eine Kurzgeschichte ist – hätte gern noch ein paar Stunden länger daran gelesen und mitgefiebert!
    Großes Lob und viele Grüße
    Vroni

  5. Hallo Carolina,
    ein Riesenkompliment zu Deiner Geschichte. Sie hat mir super gefallen.
    Dein Schreibstil ist klar und flüssig zu lesen.
    Die Dialoge ( für mich mit das Schwerste beim Schreiben ) sind total klar und ungekünstelt – großartig!
    Die Story ist spitze, die Charaktere herausragend ausgearbeitet.
    Und last but not least, der Schluss ist Dir super gelungen.
    Ich habe die Geschichte verschlungen! Mein Like hast Du!

    LG,
    der schweenie

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen ( wenn nicht schon geschehen ) und ein Feedback da zu lassen.
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/glasauge

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